Bebilderte Enthüllungen aus der wiederbelebten Grafschaft Hanau-Münzenberg, Teil 1
Werfen Sie einen oder mehrere ungeschminkte Blicke hinter die Kulissen des neuen Versailles am Main
Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 1 – Die Karussellpsychose
Erzählrunde 1
Sprechstundenhilfe: Alessa Marie, kommst du, bitte?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Endlich, das wurde aber auch langsam Zeit. Lena Sophie, du bleibst sitzen, bis ich wieder raus bin.
Kammerzofe Lena Sophie: Selbstverständlich, allergnädigste Herrin.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Nun zu Ihnen: Fünf Stunden saß ich hier sinnlos im langweiligen Wartezimmer herum! Keine einzige Zeitschrift! Und für Sie immer noch Marquise de Hanau-Münzenberg, s’il vous plait!
Sprechstundenhilfe: Warten ist niemals sinnlos, Kindchen! Und anstatt sich wie immer über unsere moderaten Wartezeiten zu beschweren, sei mir vielmehr dankbar, so rasch den Folgetermin bekommen zu haben. Merke dir: Wir sind voll. Voll bis zum geht nicht mehr. Und ich besitze die wahre Macht in der Praxis! Und darüber hinaus zum letzten Mal: Du und deine allerbeste Freundin, hört endlich auf mit eurem selten dämlichen Getue! Hanau hat längst keine Grafen mehr. Was lernt ihr eigentlich heutzutage in Geschichte?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ey, jetzt reicht’s mir aber mit Ihnen! Das ist nicht meine allerbeste Freundin, nur damit sie Bescheid wissen! Das ist meine Kammerzofe Lena-Sophie! Stimmt’s, Lena Sophie?
Kammerzofe Lena Sophie: Stets zu euren Diensten, allergnädigste Herrin.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sehen Sie? Ich rufe jetzt Papa an, der schickt sofort das Hanauer Bataillon, ha, und dann verbannt er sie zur Strafe aus unserem Territorium. Damit Sie Bescheid wi…
Sprechstundenhilfe: UND Zimmer 2, bitte! Du kennst ja inzwischen den Weg! Und trödele nicht wie sonst auf dem Flur herum! Der Doktor hat nicht ewig Zeit!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Oooooohhh…Siiiiieeeee…Siiiiieeeee!!!!!
Psychiater: Guten Tag, Alessa Marie! Wie geht es dir heute?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Na, na, Herr Doktor! Sie alter Charmeur wollen doch garantiert etwas von mir! Klitzekleine Erhebung in den Adelsstand gefällig?
Psychiater: Ich habe schon des Öfteren betont, dass deine Scherze allenfalls für den hiesigen Karneval gut sind. Wenn überhaupt. Also. Wir beide wollten uns ja heute eigentlich abschließend über mögliche Ursachen deiner Zwangsstörung unterhalten. Jedoch entdecke ich nach eingehender Sichtung sämtlicher Unterlagen tatsächlich keinerlei nennenswerten Auffälligkeiten. Familienleben intakt. Schule perfekt. An jedem Finger zwanzig zappelnde Jungen. Ein Bilderbuchleben. Ich wünsche dir daher für die Zukunft weiterhin alles Gute. Ist ebenso bei manchen mit dem Zwang. Andere haben Asthma. Anderen wiederum vernichten Vulkane binnen Sekunden ihre mühsam aufgebaute Existenz. Das Leben ist nun mal leider kein Ponyhof. Wusste schon Sigmund Freud. Daher dein ständiges Kompensieren durch Hineinträumen ins höfische 17./18. Jahrhundert, weil es deiner Ansicht nach am luxuriösen Versailler Hof besser lief. Menschlich gesehen verständlich angesichts des Elends weltweit. Doch glaube mir, auch Ludwig XIV. arbeitete bloß mit Showgags. Ich begleite die junge Dame noch zur Rezeption.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Bekomme ich etwa keine zweite Therapieeinheit????? Vorletzte Woche meinten Sie noch wortwörtlich „eventuell“. Herr Doktor, lassen Sie mich bitte nicht im Stich! Bitte! Und ich bin wirklich eine Marquise!!!!! Jedes Hanauer Kind weiß das!!!!!
Psychiater: Beim besten Willen, Alessa Marie, es tut mir leid. Ich wüsste kaum, wie der Antrag bei der Krankenkasse begründbar wäre.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Könnte vielleicht doch das älteste Karussell der Welt Schuld sein?
Psychiater: Fängst du schon wieder mit diesem Kokolores an?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ich wollte Ihnen ja damals gleich am ersten Sitzungstag darüber berichten, wie mich die Karussellpferde drangsalieren. Herr Doktor, das sind keine putzigen Schaukeltiere, sondern böse Hexen. Aber Sie haben sofort abgeblockt.
Psychiater: Mit Recht! Was für ein Humbug!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Nein, nein, nein, bitte, hören Sie mir zu! Vor knapp drei Jahren fand bekanntlich 2016 seine pompöse Wiedereröffnung statt. Ganz Hanau stand Kopf. Es klingt jetzt zwar unglaubwürdig, aber exakt einen Tag darauf begann meine jetzige Leidenssituation.
Psychiater: Ein äußerst abstruser, künstlich konstruierter Zusammenhang. Gut, meinetwegen. Der nächste Klient hat ohnehin abgesagt. Leg dich wie immer bequem hin und erzähl.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Jaaaa…ääääähhh…seither gehen entsetzlichste Dinge vor sich, welche mich vermehrt an meinem geistigen Zustand zweifeln lassen. Ach, Herr Doktor, ihre Peinigungen werden täglich schlimmer, immer extremer. Sie beeinträchtigen meine Lebensqualität, weshalb ich felsenfest davon überzeugt bin, während des Einweihungsfestes von den böswilligen Kutschenziehern durch Sprüche verhext worden zu sein; damals, als ich durch einen von mir manipulierten Zufallsgenerator ausgesucht wurde, gemeinsam mit unserer Landgräfin die allerersten Runden drehen zu dürfen. Noch vor Ministerpräsi…
Psychiater: Oooohhhooooo, welch große Ehre für dich! Okay, dann beschreibe einfach einmal frei und offen deine Interpretation von verhext. Ein dehnbarer Begriff.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Bei Papas Grafschaft Hanau-Münzenberg, ich schwöre, seit Juli 2016 werde ich jede Nacht von den fürchterlichen Hexen-Karussellpferden im Traum bedroht. Ihr Haus taucht auf, stets in verschiedenen Perspektiven. Aus ihm heult ein unsichtbarer, eisiger antarktischer Schneesturm: „Kleine liebliche Marquise de Hanau-Münzenberg…Bienchen…hörst du uns? Bastele morgen ein Plakat mit den Maßen 1,2X1,5 Meter, klebe darauf ein Großfoto von der ‚Eremitage‘ im Wilhelmsbader Staatspark, und schreibe dazu in dicken, rosa leuchtenden Buchstaben folgenden Text:
Hallo, lieber Lokomotivführer!!!!! Bitte, bring umgehend deinen Zug zum Stehen!!!!! Folge mir anschließend rasch zur nahe im ‚Staatspark Wilhelmsbad‘ gelegenen abgeschiedenen ‚Einsiedelei‘, um dort fortan als weiser Eremit über die Schönheit des ältesten Karussells der Welt zu meditieren!!!!!
Versuch nicht, uns zu täuschen, kleine liebliche Marquise de Hanau-Münzenberg, sonst wird Schreckliches geschehen!“
Psychiater: Witz komm raus, du bist umzingelt. Kannst du das Karussell wenigstens präziser beschreiben? Erscheint es zum Beispiel eher verschwommen? Oder mehr verzerrt?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Absolut authentisch, würde ich sagen. Als befände ich mich bei strahlendem Hochsommerwetter auf dem Parkgelände. In einem Traum beispielsweise am 5. August 2016. Da lugte es vormittags beinahe vollständig hinter dem in Blickrichtung rechts von ihm stehenden Baum hervor. Ich befinde mich unterhalb der Anhöhe, etwas links von dessen Ästen. Aus ihm heraus fegen meinen hinaufstarrenden Augen frostige Sturmböen entgegen, in ihnen verzerrt die Befehle erteilenden Pferdestimmen. Dennoch herrscht Windstille. Unheimlich. Nicht mal der kleinste Zweig bewegt sich. Verrückt.
Psychiater: Sind dir zufällig bestimmte Details in Erinnerung geblieben?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Klar, Doc. Selbst eines jener Absperrbänder, mit welchen man anfangs das frisch angelegte Gelände geschützt hatte, war erkennbar, nachdem sich die Szene änderte.
Psychiater: Die Szene änderte sich?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ich spaziere weiter durch die Parklandschaft, entferne mich mehrere Meter vom Karussell. Bleibe stehen. Drehe mich um. Starre es wiederum an. Ohne Vorwarnung peitscht quer über den Rasen neuerlich ein schauriger antarktischer Stimmenblizzard.
Dann hexen mich die Pferde mit einem mir unverständlichen magischen Spruch direkt an den Plastikschutz des Karussells. Auch hier vermag ich nicht das Gesicht abzuwenden, stiere durch die auf dem Kunststoff reflektierten Spiegeleffekte hinein, dermaßen überzeugend glänzend, dass klare Nahaufnahmen selbst im Traum schier unlösbare fotografische Herausforderungen dargestellt hätten.
Psychiater: Wenn es sehr glaubwürdig wirkt…haben sie denn bei ihren gewagten Drohungen Konkretes gegen dich in der Hand?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Meine Flirt Apps. Hämisch grinsend tönen sie anschließend: „Du hast nun die Wahl, reizende Marquise de Hanau-Münzenberg. Missachtest du unsere Anordnung, erfährt deine strenge Mutter augenblicklich vom babylonischen Treiben ihres sündigen ‚Bienchens‘ auf dem Smartphone. Pfui, schäm dich! Kokett mit Kerlen chattende anständige Grafentöchter sind dem Herrn ein Gräuel! Oder: Sie erfährt kein einziges Sterbenswörtchen, doch dafür verwandeln wir dich *schnipps* in einen Oberleitungsmasten am Wilhelmsbader Bahnübergang. Verstehst du uns gut?“ Worauf ihre Stimmen mit einem schauerlichen „Marquise de Hanau-Münzenberg…Marquise de Hanau-Münzenberg… Marquise de Hanau-Münzenberg“… verhallen. Schweißgebadet erwache ich. Um mich herum ist keine Menschenseele zu sehen.
Psychiater: Du sollst als Gegenleistung für ihr Stillschweigen verzaubert werden?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Darauf können sie lange warten. Erpresser!!!! Aber Mama darf logischerweise auch nichts erfahren. Also muss ich als willenloses Werkzeug gehorchen. Kaum sind die Bastelarbeiten beendet, befehlen mir unheimliche, vom Hexenhaus ausströmende unsichtbare Kräfte, plakatbepackt zum besagten Ort zu marschieren. Und trotz inneren Sträubens muss ich an den Schranken das Schild bei jeder Vorbeifahrt deutlich sichtbar hochhalten sowie dabei auf einer Schaffnerpfeife trillernd den Aufforderungen Nachdruck verleihen. Es fühlt sich so an, als ob die Hexen Simon und Spartacus unsichtbar meine Arme hochheben und durch meinen Mund lospfeifen. Verstehen sie? Ich bin ihre Marionette!
Psychiater: Wie groß sind deine Erfolge bis jetzt gewesen?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ohje! Bereits Tag 1, der 11. August 2016, begann denkbar ungünstig. Gerade in praller Hitze angekommen, fuhr der erste Zug einfach vorüber.
Dann sogleich der nächste.
Und so lief es weiter. Vier geschlagene Stunden lang. Herr Doktor, ich stand kurz vorm Verdursten!
Psychiater: Herzlose Ignoranten!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Der Zugführer einer nach Aschaffenburg losrollenden Regionalbahn riss sogar hastig sein Fenster runter, rief mir mit Mikrofon laut scheppernd etwas zu.
Psychiater: Was’n?
Marquise de Hanau-Münzenberg: „Spinnst du? Daheim wartet meine Frau. Sie will nicht arbeiten, drei Kredite müssen abgestottert werden, Schulden drücken. Ich brauche den Job!!!!! Also verzieh dich!!!!!“ Doch ehe ich darauf reagieren konnte, war die Scheibe wieder hochgeknallt worden.
Psychiater: Frechheit!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ja, das war ein herber Rückschlag, der meine hoffnungsvollen Pläne um etliche Lichtjahre zurückwarf. Ich hatte nämlich beim Fensteröffnen blitzartig drei weitere in mir ständig emporsteigende Traumbilder geistig fest vor Augen.
Psychiater: Zeigen sich diese ebenfalls originalgetreu?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Keine Ahnung jetzt wieso, aber seltsamerweise nur teilweise. Also, ich versuche es Ihnen mal zu erklären. Zuallererst taucht die Einsiedelei in verschwommenen Konturen auf, sodass mir stets schwindelig wird. Im Inneren zeichnet sich schemenhaft irgendwie ein Tisch mit einer Kerze darauf ab, an dem anscheinend jemand sitzt. Dann werden die Umrisse schärfer, allerdings vermag ich weiterhin nicht zu erkennen, wer die Person sein könnte. Ha, jetzt wird’s wirklich verrückt!!!!!! Plötzlich gleicht die Eremitage der weltberühmten Tempelhalle in Nara, mein Blick ist auf jene zum nunmehr thronenden Daibutsu gewordene Gestalt gerichtet; als würde ich ihm wie 2012 beim Schüleraustausch direkt gegenüberstehen. Boah, wie abgefahren, sogar der linke Kerzenständer schimmert aufgrund des kräftigen Scheinwerferlichts intensiver. Wie in meinen Erinnerungen!!!!! Herr Doktor, besäße ich nicht absolute Gewissheit, im irrealen Traumland zu sein, könnte mir jedes Mal glatt folgender Gedanke in den Sinn kommen: „Hey, cool, endlich wieder in Nara, wurde aber auch langsam Zeit!“
Psychiater: Reine Neugier: Hinken derartige Vergleiche nicht gewaltig?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Keineswegs! Mir ging ein Licht auf: Wie Buddha unermüdlich das Rad dreht, soll analog ein auserwählter Eremit nach intensiver Meditation über dessen einmalige Schönheit als ebenfalls Erleuchteter das Karussell drehen. Es ist Leid, doch durch Fahrten mit dem an prachtvoller Herrlichkeit unübertroffenen ältesten Karussell der Welt kann das Leid aufgehoben werden.
Psychiater: Aaaah…jetzt klingelt’s bei mir. Alessa Marie, dein Vergleich ist einzigartig! Vielleicht gelingt es dem die Lehre verkündenden Buddha von Wilhelmsbad tatsächlich, unsere von tiefstem menschlichem Elend gezeichneten Kontinente in rosa Ponyhöfe zu verwandeln.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sehen Sie!!!! Dieser Zugführer war für Hohes auserkoren. Und beinahe hätte er sein edles Bestimmungsziel auch erreicht. Die Klause liegt schließlich in unmittelbarer Nähe. Man spürt am Bahnübergang förmlich schon ihre Aura. Stattdessen fährt der Typ lamentierend vorbei. Unverschämt!
Psychiater: Am ausgestreckten Arm verhungert. Das gibt es.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ach, Herr Doktor, alles ist so schrecklich! Weshalb ich fragen wollte, ob Sie mir eventuell wirksame Beruhigungstabletten verschreiben können.
Psychiater: Also bis jetzt sehe ich in deinen Beschreibungen keinerlei psychischen Auffälligkeiten. Zuerst einmal: Hexen gibt es nicht und hat es nie gegeben. Punkt. Höchstens in albernen Märchengeschichten à la Frau Trude als klares Anzeichen noch unentwickelter, infantiler kultureller Bewusstseinsstufen. Mir ist gelinde gesagt schleierhaft, warum Jakob und Wilhelm Grimm, auf die Hanau große Stücke hält, für lächerlichen Firlefanz, anzusiedeln auf der Stufe primitiver Stammesmythen, kostbare Zeit verplemperten. Und das nach den aufklärerischen Errungenschaften von 1789. Na ja, Lohrs Tourismuswerbung lebt recht einträglich davon… höhöhö…Schneewittchenstadt! In dir hingegen dominieren positive, unverfälschte, mächtige Energien. Du möchtest als Medium Mitmenschen anstupsen, sie mit Gedanken über alternative Lebensentwürfe in Berührung bringen. Verkorkstem Leben neuen Sinn geben. Allerdings konnte besagter Zugführer damals unmöglich aussteigen. Prinz Gautamas Fußstapfen zum erhabenen Buddha blieben dem Unwürdigen verwehrt, weil er sein törichtes Herz vorschnell einer augenklimpernden, höchstwahrscheinlich wesentlich jüngeren Dame geschenkt hatte und für billige Leidenschaft bereitwillig enorme finanzielle Mehrbelastungen akzeptierte. Hauptsache eifrig kuscheln! Ein Kind der Welt, ein Clown, gefangen im Weltenlauf. Vergiss ihn, um nicht zu sagen, Buddha wäre auf gleiche Weise kläglich gescheitert. Weltentsagung ist nichts für Weicheier!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hmmm, unter diesem Aspekt kam mir mein Misserfolg ehrlich gesagt noch nie in den Sinn. Und das mit den finanziellen Belastungen ist echt eigene Schuld. Deshalb sage ich immer: „Augen auf als Frau bei der Partnerwahl!“ Überhaupt: Den physikalischen Naturgesetzen erging es an jenem 11. August noch viel übler.
Psychiater: Inwiefern?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Als ich gegen 12 Uhr den Bahnübergang erreichte und wie bereits erwähnt Zug Nummer 1 stur vorbeifuhr, war der Mond noch am Himmel sichtbar, unmittelbar beim rechten Oberleitungsmast, direkt hinter dem mittleren Draht. Im intensiven Licht fast unmöglich zu erkennen. Absolut unbegreiflich, großer Herr Kopernikus: Mit welchem Trick gelang es bloß der Sonne morgens aufzugehen, wenn der Mond zuvor gar nicht unterging?
Psychiater: Hahahahaha!
Erzählrunde 2
Marquise de Hanau-Münzenberg: Kurz nach dieser Begebenheit hatte ich beim ältesten Karussell der Welt ein Erlebnis, das mich bis heute traumatisiert und mein zerstörtes Selbstwertgefühl niemals wieder aufblühen lassen wird.
Psychiater: Was ist denn passiert?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Also zurzeit treffe ich mich beinahe täglich mit süßen adligen Typen. Sie müssen wissen, standesgemäße Jungs aus ganz Europa stehen ellenlang Schlange, um ein Rendezvous mit mir zu ergattern. Dieses Mal war ein Kinobesuch mit Lukas, künftiger Graf von Hohen Greif und zu Turmdorfenstein, angesagt, und da der Sonntagsfilm um 16 Uhr startete, beendete ich meinen täglichen Karussellbesuch früher als sonst. Sie müssen nämlich auch wissen, dass ich bei der Wegwahl zum Bahnübergang keinesfalls frei bin. Vielmehr will mich dieselbe vom Karussell ausströmende magische Kraft vorher stets an den Pferden vorbeizerren. Ich verabschiede mich also vorzeitig von Hatatitla, Missi sowie den anderen Bewohnern, eile vor dem romantischen Date im Rahmen auferlegter Pflichten als Eremitenanwerberin davon. Doch nun geschah Seltsames: Die Schienen lagen vielleicht zwanzig Meter entfernt, da gingen die Schranken herunter, und ich musste warten.
Psychiater: Niedergehende Schranken sind aber in Wilhelmsbad jetzt nichts Ungewöhnliches, sondern wichtiger Bestandteil moderner Bahnsicherungstechnik, damit dort niemand Gefahren ausgesetzt wird. Wie sagt Fräulein Petronelli immer: „Warten ist niemals sinnlos, liebes Kind!“
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sie haben selbstverständlich Recht. Jedoch blieben alle vier hartnäckig unten, vollkommen unverständlich. Zig Züge fuhren vorbei. Selbst bei langen Intervallen wollte sich keine öffnen. Zum Verrücktwerden!
Psychiater: Vogel zeigen. Gehen. Basta.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Die Anwerbesession beträgt sonn- und feiertags laut Bestimmungen mindestens einen vollständigen Durchgang: Schranken runter, anwerben, Schranken rauf. Geschlagene vier Stunden stand ich im prallen Sonnenschein.
Psychiater: Geduld ist eine Tugend. Sonst hieße es ja auch nicht Patientin.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Vor allem entpuppte sie sich an dem Tag als wahrer Glücksfall.
Psychiater: Lass hören!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Während ich wieder völlig umsonst trillernd und winkend mein Plakat hochhalte, erklingt beim Losfahren einer Regionalbahn plötzlich leises, Mitleid erweckendes Kinderschluchzen: „Hallo, du da unten!“
Verwirrung pur. „Nein, nicht hinter dir. Hier oben!“ Ungläubiges Schauen…beide Augen staunen nicht schlecht. „Bitte, bitte, bitte, hilf uns! Wir sind irgendwie hängen geblieben, und unsere Familie flog ohne es zu bemerken weiter.“
Psychiater: Eine Wolke?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Drei, waren Schwestern. Gaaaanz hauchzarte Gebilde. Kaum wahrnehmbar. Sie müssen noch sehr jung gewesen sein. Zwei zappelten im rechten, eine strampelte im gegenüberliegenden Oberleitungsmasten. Absolut hilflos. „Klaro, wartet kurz!!!!!“, rufe ich ihnen Mut machend zu. „Bin im Nu da! Gleich seht ihr eure Eltern und Geschwister. Sie suchen euch bestimmt schon überall besorgt.“
Psychiater: Jetzt sag bloß, du bist tatsächlich hinaufgestiegen!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Um als Belohnung einen Stromschlag verpasst zu bekommen???? Nein, empört darüber, dass man auf den Spitzen keine Warnhinweistafeln wie Achtung! Verhedderungsgefahr für Himmelskörper und Wolken! angebracht hatte, gehe ich zielstrebig zum ersten Masten. Trete heftig dagegen. Anschließend überklettere ich entschlossen die Schranke, wiederhole drüben meine Rettungsaktion. Der Regionalbahnzug war ja inzwischen weg. Verstehe daher echt nicht, warum da zwei Opas so eine Welle machten. Fingen voll an rumzuspinnen! Wolkenhasser!!!!!
Psychiater: Und dann?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Infolge der durch meine Tritte im Metall ausgelösten Vibrationen vermochten sich alle aus eigener Kraft aus ihren Verhakungen zu lösen und flogen erleichtert weiter. „Daaaaankeschön!“, riefen sie beim Abschied. „Das werden wir dir nie vergessen!“ Fröhlich winkend entgegne ich: „Bitteschön, war doch Ehrensache. Und kommt nachher alle gut daheim an!“
Psychiater: Jeden Tag eine gute Tat, lautet das Sprichwort.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Obwohl ich eigentlich gar keine Pfadfinderin bin. Dadurch würden meine adligen Rechte total eingeschränkt. Habe einfach keine Lust auf das Spülen, wenn es ins Camp geht. Sehen Sie diese gepflegte Maniküre?
Psychiater: Ja, ja. Apropos. Was machen Wilhelmsbads Schranken?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Als sie sich tatsächlich wieder öffneten, überquerten ausgerechnet in dem Moment dieser Schuft Lukas sowie meine bürgerliche Erzrivalin Lea engstens umschlungen circa hundert Meter entfernt die Straße, bemerken mich entsetzt, rennen Hände haltend geschwind außer Sichtweite. Marquise de Hanau-Münzenbergs Adelsstolz ist ein Scherbenhaufen. Wimmernd kehre ich zum ältesten Karussell der Welt zurück. Doch stellen sie sich vor, Herr Doktor, währen mir jammervolle Tränen herunterrinnen, kommen Theluma und Helanchri allen Ernstes durch die Kunststoffschutzplane mit hochnäsigen Bemerkungen an! Die konnten plötzlich sprechen!
Psychiater: Kannst du den Inhalt des Gesagten wiedergeben?
Marquise de Hanau-Münzenberg: „Erwarte von uns keinen Trost!“, hallen ihre Stimmen dumpf hinter dem Plastik. „Wir Karussellpferde wissen ALLE DETAILS über dich, sogar dass du in der Schule nur spöttisch ‚Dating Marie‘ genannt wirst. Deine Mutter kam gestern mit eurer Pfarrerin und deinem Schuldirektor in großer Sorge zu uns. Bekümmert erzählten sie von deiner heutigen Verabredung mit diesem Casanova. Anscheinend hattest du es als einzige noch nicht kapiert, was Lukas für ein herzensbrechender Schürzenjäger ist. Ein Filou ist er!!!!! Ganz wie sein nobler Vater!!!!! Deshalb konnten wir dich vorhin durch einen beherzten Notfallanruf bei der Deutschen Bahn mit Hilfe geschlossener Schranken zeitlich lange genug aufhalten. Es war zu deinem Besten.“
Psychiater: Interessant. Offenbar reichen ihre Kontakte bis ganz hinauf zum Bahnvorstand. Haben die übrigen Karussellpferde ebenfalls Worte an dich gerichtet?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ja, aber ach, welch demütigende: „Das soll dir künftig eine Lehre sein, Alessa Marie“, stimmten daraufhin alle gemeinsam singend an, wie unser Kirchenchor eine Bachkantate, „denn so ergeht es allen ungezogenen Hanauer Mädchen, die am Sonntag nicht brav den Gottesdienst besuchen!“ Jetzt langt’s. Als klare Botschaft, dass mir ihre Demütigungen reichen, trete ich wutentbrannt gegen das Karussellgitter, schlage mehrmals mit meinen offenen Handflächen auf diesen durchsichtigen Kunststoffschutz. Fauche: „Für euch schäbige Ackergäule immer noch ‚Madame de la Marquise!!!!!’“
Psychiater: Jawoll, irgendwann rappelts im Karton. Noblesse oblige.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Doch dadurch wurde alles nur noch schlimmer.
Psychiater: Noch schlimmer?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Theluma und Helanchri galoppieren schnaubend aus dem Karussell heraus!
Psychiater: Die waren wohl stinksauer!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Wild bäumen die Pferde sich vor mir auf. Panisch werfe ich mich reflexartig hin, schütze den Kopf. Mein aufwendig gestyltes Haar, meine stilvolle robe à la polonaise…unrettbar ramponiert. „Na, du freche Liese, kleine Abreibung gefällig?“ Ehe ich reagieren kann packt Theluma mit ihren starken Zähnen den Kleidkragen, aufwärts geht es wieder in die Stehposition. „Los, ab zur ‚Teufelsschlucht‘ mit dir!“ Ich flehe schockiert: „Nein, nein, nein, bitte, bitte, nicht dahin!!!!“ Vergeblich. „Allez hopp, beweg dich! Oder benötigst du durch unsere kräftigen Hufen erst eine schmerzhafte Sondereinladung?“, wiehert Helanchri.
Mit beklemmenden Gefühlen betrete ich erbarmungslos angetrieben den Canyon, zittere, schlucke, starre mit weit aufgerissenen Augen dessen Klippen an, fürchte jederzeit von steilen Felswänden zerdrückt – oder noch schlimmer – begraben zu werden. Lebendig begraben!!!!!! Wie Edgar Allan Poe es in The Premature Burial beschreibt…eingeschlossen im Sarg…unfähig, s…si…ich…ich…ich…ich… iiiii…iiiiiiiii…*hust*…i…*hust*…mein…*hust*…Hals…iii…ich…er…*hust*… stickeeeeeeee…eeeee…Maaamaaaaaa…*hust*…aaaaaaaaaaaa… AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHH!!!!!!!!!!!!! DAAAAA!!!!! DAAAAA!!!!! DAAAAA!!!!!
Psychiater: Wo? Ich seh nichts!
Marquise de Hanau-Münzenberg: DAAAAAAAA!!!!! DAAAAAAAAA!!!!!! SEIN SCHATTEN AN DER FELSWAND!!!!!!! ER WILL MICH HOLEN!!!!!!! IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHHHHHHHH!!!!!!!!!!!!!!! LUFT!!! LUFT!!! LUFT!!! LUFT!!! OH GOTT!!!!! ICH BRAUCH LUFT!!!!!!!!!
Psychiater: Warte.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Puuuuuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhh… danke, eeeendlich Luft! Frische Luft! Tut das guuuuuuuuuuuuuut! Können sie das Fenster vielleicht noch etwas mehr öffnen? Vielen Dank, Herr Doktor!
Psychiater: *gähn*…und weiter spielt die Musik.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Verzweifelt will ich mich unter stechendem Herzrasen fest am schroffen Gestein entlang tasten, möchte durch kräftigen Händedruck seinen Einsturz beziehungsweise auf einer Seite das sich Schließen der Wand verhindern. Lieber vom Teufel geholt als lebendig tot! Da spricht der Schatten mit undefinierbarer Stimme: „Gott zum Gruße, anmutiges vornehmes Fräulein! Wohin des Weges so eindeutig zerzaust, ganz allein, ohne Anstandsdame?“ Ich fahre zusammen: „Wer… wer sind Sie????“ Er antwortet: „Madame la Marquise kennen mich. Ich bin der, welcher Sie in der letzten Walpurgisnacht hoch auf des Blocksberges Gipfel schmerzlich vermisste. Wo waren Gnädigste? Alle Karussellpferdchen kamen auf Ziegenböcken geflogen, am heißen, hell lodernden Feuer gab’s jede Menge gegrillte original ‚Thüringer Bratwürste‘. Dazu literweise ‚Oma Teufels Schwarzbier‘.“ Mit kreischendem „AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA-AAAAAHHHHHHHHHHHHH!!!!!!!!!!!“ entkomme ich dem verfluchten Tal, flüchte wie von Satan besessen über die Teufelsbrücke dem rettenden offenen Gelände entgegen. Zu früh gefreut. Mitten auf der wackligen Konstruktion stolpere ich über zwei Balken und stürze. Verflixt und zugenäht!!!!!!!! Alles tut höllisch weh. Da spottet es schadenfroh vom Hexenhaus: „Hahahaha, ätschi, ätschi, ätschi, wir werden dich das Fürchten lehren!“ Nichts wie weg! Mein Stolpern war IHR Werk!!!!! Nur fort! Jeden Augenblick werden sie zaubern, dass mich Windböen seitlich erfassen und hilflos hinab in die Hölle wirbeln! Prädestiniert direkt in Luzifers Arme!
Auf der anderen Seite angelangt, werfe ich halbtot vor Angst nochmal einen Blick auf die Brücke. Muss wissen, ob ER hinter mir her ist. Bekomme Schüttelfrost. Sie bleibt leer. Nervlich endgültig am Ende breche ich daraufhin mit einem Weinkrampf zusammen.
Psychiater: Applaus! Bravo! Bravissimo!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sie klatschen? Herr Doktor, das war damals nicht lustig!
Psychiater: Da capo! Zugabe! Zugabe! Zugabe!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Geht’s noch?
Psychiater: Fantastisch, diese früheren Unterhaltungsformen. Das war im 18. Jahrhundert eben noch solider Zeitvertreib, welcher demonstriert, dass sich unsere modernen versklavten Internetjugendlichen langsam wieder auf ursprüngliches, unverdorbenes, herzerfrischendes Amüsement im Freien besinnen. Ja, Alessa Marie, DU bist die strahlend leuchtende Speerspitze einer neuen Generation selbstbewusster junger Leute, die es nimmer dulden, von Computern, Smartphones, Tablets und iPhones unters Joch geschickt zu werden. Euch drängt es in Schiller’schem Freiheitsdrang ungestüm nach draußen. Weg von Whats App. Weg von Facebook. Weg von Instagram. Und nimm deine Freundinnen mit!
Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden,
Frisch, Gesell…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ich kapier bloß Bahnhof, dürfte aber aus Wilhelm Tell sein.
Psychiater: Alessa Marie, du als waschechte Hanauerin weißt doch: Die Teufelsschlucht wurde im Rahmen der unter Erbprinz Wilhelm von Hessen-Kassel erfolgten Parkgestaltung wie alle übrigen Attraktionen zur Zerstreuung der illustren Hofgesellschaft künstlich errichtet. Nach geselligen Ausblicken herab vom Schneckenberg sowie zwanglosen Drehrunden auf den Karussellkutschen spazierte sie zur gruseligen Schlucht, um sich zum krönenden Abschluss heiteren Flanierens kurzweiligem Schauer hinzugeben; bevor die Realität einen wieder einholte.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Aber ich bin doch gar nicht freiwillig hin spaziert, sondern wurde unter Androhung rohester Gewalt zum Gehen genötigt!!!! Und seit jenem Tag spielen mir die Hexen – ich schwöre, Herr Doktor, das sind die Karussellpferde – boshafte Streiche. Sobald sie mich von fern auf dem Weg sehen, lärmt augenblicklich Thelumas Warnruf bis zu mir herüber: „Achtung, dahinten kommt ‚Dating Marie‘ angewatschelt!!!! Schnell, versteckt euch, Freunde, damit sie uns nicht finden kann!!!!“ Ich weiß, es ist so weit, ihr böses Hexentreiben beginnt von Neuem. Ich weiß, es ist so weit, in Kürze dringt wieder gehässiges Pferdegelächter aus dem angrenzenden Wald an meine empfindlichen Ohren. „Hahaha…Lukas… hihihi…Casanova…huhuhu…Lea…hähähä…Alessa Marie…hehehe…Date geplatzt!“ Ich weiß, es ist so weit, erneut brummt mir gleich schmerzhaft der Schädel, und ich werde dann abermals beide Hände fest gegen die glühende Stirn pressen, um nicht durchzudrehen.
Sobald dann alle irgendwann seelenruhig ins Fahrgeschäft zurückgetrabt sind, beschwöre ich unterhalb des Karussells jede einzelne Hexe namentlich auf Knien, sich um der Liebe Christi willen niemals mehr zu verstecken, blicke dabei mit zum Gebet gefalteten Händen heulend hinauf.
Psychiater: Äh…lass das in Zukunft besser sein! Glaub mir, Alessa Marie!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Wieso?
Psychiater: Nun…vielleicht brauchen Hatatitla, Simon, Nela sowie die anderen Kutschenzieher zwischen den Bäumen ab und zu lediglich ein bisschen Abwechslung. Tapetenwechsel. Eine kleine Auszeit. Zerstreuung. Zack, raus aus dem Trott. Wie wir Menschen ja auch. Überleg mal. Ständig im Karussell. Von früh bis spät. Rund um die Uhr. Vierundzwanzig Stunden täglich. Sowas hält auf Dauer der stärkste Gaul nicht aus. Zeige daher Verständnis! Gönne ihnen einfach ihre naiv-tierischen Späßchen! Sei keine Spielverderberin! Albere fröhlich mit!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sie kapieren echt null! Verstehen Sie nicht??? Sämtliche Pferde müssen im Karussell bleiben! Nur SO können mich jene magischen Zauberkräfte dann gleich oben entlang des Kunststoffschutzes zwanghaft an allen vorbeizerren. Wilhelmsbads Bahnübergang brüllt schon wieder: „MARQUİSE DE HANAU-MÜNZENBERG!!!!!! ES EILT!!!!! WEITER!!!!! WEITER!!!!! ANWERBEN!!!!! SOFORT!!!!!“ Und da soll ich mit denen Verstecken spielen? Ernsthaft? Herr Doktor, bitte, helfen Sie mir!!!!! Biiiiiiiiitteeeeee!!!!! Ihre anerkannte Praxis hier im medizinischen Zentrum ist meine letzte Hoffnung!!!
Psychiater: Bedaure. Auch in diesem Fall liegt beim allerbesten Willen keine geistige Abnormität vor. Ganz im Gegenteil, du wirst hier sogar von noch viel positiveren Gedanken als in der Schilderung vorhin gelenkt. Dein Bericht beinhaltet nämlich eindeutige Visionen einer idealen Welt namens Utopia, wo Tiere und Menschen miteinander kommunizieren. Thomas Morus‘ gleichnamiges Werk ist dagegen ein Schmarrn. Sind das nicht fantastische Vorstellungen? Die UN verhängt Futter-Sanktionen gegen kriminelle Löwen, Tiger, Jaguare und anderes Raubkatzengesindel, weil tierrechtsverletzende Beutejagd eindeutig gegen erlassene Resolutionen verstößt.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hahahaha!!
Erzählrunde 3
Psychiater: Verständnishalber muss ich abermals kurz nachhaken. Du sagtest vorhin: „Zunächst fuhren die Züge einfach vorüber!“
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ja, weil…nein…diese Sache ist derart unglaublich, dass Sie mich umgehend für verrückt erklären und von Fräulein Petronelli in eine Zwangsjacke stecken lassen würden. Ich kann darüber leider nicht sprechen.
Psychiater: Als Therapeut unterliege ich ärztlicher Schweigepflicht und verspreche dir, sie erfährt von mir diesmal kein Sterbenswörtchen.
Marquise de Hanau-Münzenberg:
Puuuh, danke! Da bin ich aber wirklich erleichtert! Also…sagt Ihnen Zugnummer RB15228, fahrplanmäßige Abfahrt in Wilhelmsbad um 11.09 Uhr nach Frankfurt Hauptbahnhof etwas?
Psychiater: Ich fahre grundsätzlich nur Porsche Cabrio.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Diese Zugnummer hat sich mir am 22. September 2017 zutiefst ins Gedächtnis eingegraben, denn an jenem Tag, es war übrigens zudem Herbstbeginn, geschahen Dinge, wie sie selbst in schönsten Träumen niemals passieren.
Psychiater: Klingst spannend.
Marquise de Hanau-Münzenberg: RB15228 fuhr pünktlich an mir sowie dem unter lärmendem Trillern hochgehaltenen Plakat vorbei in den Bahnhof ein. Nach dem Zugehen der Wagentüren deutete alles auf die unmittelbar bevorstehende Abfahrt hin. „Hurra, jetzt nur noch 20 Minuten bis zum Hauptbahnhof!“, dachten da sicher viele.
Psychiater: Zugegeben, Optimismus bei der der Deutschen Bahn ist stets riskant.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Bingo! Plötzlich verlässt ein dubios wirkender Mann die Fahrerkabine, schleicht nervös herum, schaut ängstlich hin und her, sucht nach irgendetwas Bestimmtem. Scheinbar vergeblich, worauf sein Blick vom Bahnsteig zu den Schranken schweift. „He, du da hinten mit dem Plakat! Warte mal ne Sekunde, Kleine!“, tönt es rauhen Tones herüber. Ich überquere flink die Straße, möchte wissen, was der Zugführer von mir will. Doch das glauben Sie jetzt nicht, Herr Doktor, kaum auf der anderen Seite angelangt hüpft mir dieser Typ bereits mit riesigen Sprüngen entgegen. Sie können sich sicher mein völlig entgeistertes Starren vorstellen, als er zwischen dem verrosteten Straßenschild sowie dem nicht minder hässlichen Oberlei…
Psychiater: Bitte, nicht so schnell, ich muss alles genauestens notieren. Also, der Zugführer hüpfte auf dich zu?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ja, aber unnormal. In sämtlichen Bewegungsabläufen ähnelte er dem springenden Bajazz beim Herbsteiner Fastnachtsumzug. Wenn nicht gar um tausendfache Längen besser! Bombastisch!!!! Phänomenal!!!! Bei jedem vorgeführten Sprung hielt der Zugführer abwechselnd sich mal verzweifelt beide Gehörgänge zu, mal schleuderten seine Hände wütend imaginäre Gegenstände durch die Luft.
Psychiater: Wurdest du von ihm angesprochen?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Zwischen beiden hässlichen Roststangen angehüpft unterbricht das DB-Springwesen seine Künste, nimmt wie ein armseliges Häufchen Elend auf dieser Quervorrichtung dort gebeugt Platz und wirkt auf mich vollkommen verstört. Ich frage nach dem Grund, doch mein Gegenüber gebietet mir mit zittrig gegen die Lippen gehaltenen Zeigefingern unverzügliches Schweigen. „Psssssst! Gott sei Dank, dass ich dich hier antreffe, Kleine! Bist ja so schick angezogen, sicher aus feinem Haus.“ „Oui, Monsieur, ‚robe à l’anglaise'“, erwidere ich stolz, „Papa und Mama sind nämlich bald das neue Grafenpaar von Hanau-Mün…“ Er schneidet mit das Wort ab: „Psssssst! Sag, vornehme Schönheit, kann man hier frei sprechen? Sind irgendwo Wanzen oder Kameras versteckt? Pssssssssssssst… jetzt nichts sagen…ja…sie ist wieder da…ich kann sie hören…wieder diese Stimme…überall diese Stimme…pssssssssssssssst!“ Vor lauter Neugierde platzend möchte ich natürlich nun erst recht mehr erfahren: „Aber Sie sollen nicht zufällig Frankreich von den Engländern befreien wie damals Jeanne d’Arc? Ähm…Sie wissen schon. ‚Hundertjähriger Krieg‘ und so.“
Psychiater: Oh mein Gott! Alessa Marie, was hast du getan??? Es ist äußerst unklug, Stimmen hörenden Menschen gegenüber derart unüberlegt geschichtliche Vergleiche anzustellen. Das verschlimmert unter Umständen ihre psychischen Leiden, macht ihnen den Alltag endgültig zur Hölle. Nicht auszudenken: Der arme Teufel kennt Johannas Biographie und hat fortan wegen dir bis ans Lebensende seine Verbrennung als Hexe in Rouen vor Augen. Fürs nächste Mal.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Wusste ich’s doch, es gibt Hexen!!!!
Psychiater: Alessa Marie!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Uuuuuuuuuuuuppppss! Jedenfalls wunderte ich mich, warum seine Augen nach meiner Frage wie irr glitzerten, und er am gesamten Körper bibberte; als ob wir -15°C gehabt hätten. „Ich flehe dich an, Mädchen, du musst mir helfen!, ächzt es aus ihm tränenüberströmt. Sprich, wo finde ich hier den Fahrkartenautomaten? Im Zug befindet sich keiner.“ Ich zeige lässig auf das gewünschte Objekt. Mein Bajazz schaut prüfend, trommelt mit geballten Fäusten ablehnend dagegen, schluchzt: „Aber den vom ‚Rhein-Main Verkehrsverbund‘ meine ich doch gar nicht. Wo ist der für die ‚Stadtwerke Offenbach‘? Ein kleiner, gelber Stempelautomat!“ Dazu fällt mir nur folgende aufrichtige Entgegnung ein: „Keine Ahnung!“ Darauf wendet er sich ruckartig zum Zug um, bricht heulend zusammen, flennt rum: „Mamaaaaaaaa…ich hatte doch keinen!!!!! Mamaaaaaaaaaaaaaaaa…du…die Alexandra wollte doch am Kiosk ganz viele Lollis haben!!!!! Und Kaugummis!!!!! Und Lakritze!!!!! Und dann ist sie einfach runter zur U-Bahn!!!!! Ehrlich Mama, ehrlich, ich hatte doch keinen!!!!!“ Echt voll daneben.
Psychiater: Ach, du meine Güte! ACH, DU MEINE GÜTE!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Äh, was?
Psychiater: Offensichtlich Symptome schwerster psychotischer Schübe, hervorgerufen durch ein in Kindertagen erlittenes Offenbacher Stadtgrenzentrauma. Sigmund Freud befasste sich 1925 mir dieser wohl gefährlichsten Form auftretender Zwangsneurosen sehr eingehend.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ein Offenbacher Stadtgrenzenwas? Herr Doktor, könnte es sein, dass ich etwas Ähnliches habe?
Psychiater: Inwiefern?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Drei Tage nach der Karusselleröffnung hatte ich gemeinsam mit meinen Freundinnen trotz ausdrücklichen Elternverbots den japanischen Horrorfilm Carved – The Slit-Mouthed Women geschaut. Heimlich abends bei Amanda. Seither ist es mir psychisch unmöglich, für unsere ausgiebigen Einkaufstouren auf Frankfurts Zeil von Wilhelmsbad aus die Regionalbahn zu nehmen. Jene langgezogene Kurve in Richtung Maintal erweckt jedes Mal Visionen, wie kurz vor Hanaus Stadtgrenze der Zug abrupt anhält. Fensterglas klirrt. Schreie. Schwarze, weiß dampfende Monsterkrallen langen gezielt herein, greifen gierig nach mir. Mariella klammert sich todesmutig an meinen Beinen fest, will mich retten, doch ihre tapferen Kräfte ermatten. Sie seufzt: „Süße, muss loslassen, verzeih mir, ich schaff’s kaum noch!“ Das gesamte Abteil wird Zeuge, wie mich jener Unselige schwebend in den Wald verschleppt, und weiter ins unterirdische Karussellgewölbe, wo bereits mehrere Jugendliche eingesperrt sind. Herr Doktor, es ist grauenvoll: Sobald heruntergehende Schranken die baldige Einfahrt unseres Zuges ankündigen, erblasse ich unter hitzigen Schweißausbrüchen. Mein krampfhaft verzerrter geschminkter Mund röchelt todeskampfartig, weil vier im Hals sitzende dicke Klöße ein jämmerliches Ableben ankündigen. Selbst beruhigendes Zureden besorgter Mitwartender hilft nichts. Wir müssen rüber auf Gleis 2, erst zum Hauptbahnhof und von dort mit der S8 oder S9 fahren.
Psychiater: Was ja nicht unbedingt die verkehrteste Alternative ist.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Auch wahr. Oft sind diese Angstattacken jedoch besonders extrem. Mein Körper verharrt im Schockzustand, rührt sich keinen Millimeter vom Fleck. Caislin, Mariella sowie Amanda fächeln mir dann Luft zu, bis die Regionalbahn abgefahren und hinter besagter Kurve verschwunden ist. Erst jetzt kann ich endlich wieder einigermaßen klare Gedanken fassen. In Gottes Namen, helfen Sie mir, Herr Doktor, es geht nicht mehr!!!!!
Psychiater: Nur keine Panik auf der sinkenden Titanic! Wie ich ja unserem damaligen Vorgespräch entnehmen konnte, bist du eifrige Teilnehmerin am alljährlichen Schüleraustausch mit Tottori. Und gerade weil Japan fasziniert, ist es verständlich, dass dir nach jedem Rückflug die folgenden Monate unerträglich, schier qualvoll öde vorkommen. Dementsprechend fühlst du dich in Hanau wie in einem dunklen Verlies eingesperrt, zum ohnmächtigen Warten verurteilt. Jene anderen jugendlichen Gefangenen stehen hierbei für deine Mitaustauschschüler, denen es ebenso ergeht. Ihr seid jung, wollt raus in die Welt, nach Asien, wollt was sehen, was erleben, Party machen, doch die Stadt kettet euch grausam an.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Einspruch! Fühle mich hier pudelwohl, seit wir standesgemäß in Schloss Philippsruhe residie…
Psychiater: Dieser Dämon symbolisiert lediglich unbewusste Sehnsüchte, welche dich mit immenser Stärke bereits vor dem nächsten offiziellen Austausch nach Fernost ziehen möchten. Ähnlich wie Rippströmungen unvorsichtige Schwimmer weit aufs offene Meer hinaus. Betrachte ihn daher vielmehr als guten, hilfsbereiten Geist, der sich anderen Menschen liebend gerne plump aufdrängt. Sollte er unerträglich nerven, erhältst du von mir vorsorglich eine simple Aufgabe, mit deren Hilfe seine zugegebenermaßen oftmals lästigen Nebenwirkungen bald verfliegen. Begib dich zum Wilhelmsbader Bahnhof und lauf von dort gemütlich entlang der Gleise bis Maintal Ost. Anschließend nimmst du einfach die nächste Verbindung zurück. Nach dem Ausflug wirst du erleichtert realisieren, dass unterwegs kein Gespenst zwischen den Bäumen hervorhuschte.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sind Sie sich mit Ihrem Einfall wirklich sicher???? Da steht doch am Bahnsteigende dieses runde Verbots…
Psychiater: Alessa Marie. Ich Psychiater. Du Klientin. Nur damit die Verhältnisse klar sind. Entweder nimmt Madame la Marquise meine Therapieratschläge bereitwillig an oder wir brechen ab. So einfach ist das. Ich habe es nämlich gar nicht nötig, mir von Klienten meine Kompetenz anzweifeln zu…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Juhuuuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!! Vielen lieben Dank für den tollen Tipp, Herr Doktor!!!!! Meine Freundinnen dachten echt schon, ich sei plemplem.
Psychiater: Keine Ursache, Grundlagen Psychologie, erstes Semester. Im Falle des bedauernswerten Wichtes handelt es sich hingegen mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit um eine zur Zeit des RMV-Vorgängers Frankfurter Verkehrs- und Tarifverbund, kurz FVV, bei Fahrgästen der Straßenbahnlinie 16 häufig aufgetretene Form traumatischer Störungen, einhergehend mit unberechenbaren, gemeingefährlichen Zwangshandlungen. Es sind zunächst nur vage Vermutungen. Ferndiagnosen bedürfen bis zur eindeutigen Klärung erst präziser Anhaltspunkte. Versuche dich deshalb möglichst detailliert an die Ereignisse danach zu erinnern. Bitte, überlege ganz genau, Alessa Marie: Was geschah dann?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Beim Anblick des herumjammernden Zugführers kamen mir plötzlich genialste Ideen, wie man dessen erbärmliche Situation ausnützen und ihn geschickt zur Eremitage locken könnte. „Guter Mann“, meine ich tröstend, „Sie haben aber heute Glück! Ja, gerade erinnere ich mich daran, das Ihr gesuchter Fahrscheinautomat seit etwa drei Wochen in der Einsiedelei steht, weil…“ „Schnell, schnell, fährt er gehetzt dazwischen, ich muss augenblicklich zu ihm! Auf, auf, Kleine, zeig du mir den Weg, ich hüpfe hinterher!“ Solch verlockende Angebote lassen sich selbstverständlich nur betrunkene Karnevalsnarren zweimal sagen, weshalb Herbsteins fröhliches Treiben unter närrischen Zurufen wie „Heeeeeeee, hallo!!!!!“ oder „Kommen sie gefälligst zurück, wir wollen nach Frankfurt!!!!!“ endlich weiterging. Anfangs verlief auch alles planmäßig.
Psychiater: Aber?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Kurz darauf kommt es im Schatten des ältesten Karussells der Welt auf dieser kleinen Steinbrücke zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen mit und dem Eremitenanwärter.
Psychiater: Hat der Unhold dich sexuell bedrängen wollen?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Nein, nicht das, was sie jetzt gerne hören würden.
Psychiater: Sondern?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Die Karussellpferde hatten mir gleich zu Beginn der Plakataktionen strenge Anweisungen erteilt, mit allen Lokomotivführern, welche sich jemals freiwillig als Bewerber zur Verfügung stellen sollten, auf dem Weg zur Klause am Karussell zu erscheinen. Gemäß ihrer seit dem 01. August 2016 gültigen Dienstverordnung, zuletzt geändert nach Papas Regierungsantritt per Edikt vom 29. November 2017, sind sie nämlich als von der Grafschaft Hanau-Münzenberg beamtete Personalchefs des Staatsparks zum Führen ausführlicher Vorstellungsgespräche verpflichtet.
Psychiater: Deine Tätigkeitsvergabe unterliegt also Verwaltungsvorschriften?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Genau. Ich vermittle sozusagen. Einstellungen obliegen aber einzig und allein den hexenden Karussellbewohnern.
Psychiater: Nun, an dieser Vorgehensweise ist nichts Verwerfliches zu beanstanden. Und obskure Hexentätigkeiten sind auch nicht zu erkennen. Gezielte Auswahlverfahren professioneller Personalchefs erscheinen mir gerade für Festanstellungen im Staatsdienst unumgänglich. Sonst tanzt ja jeder an.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Stimmt, sagt unser Chemielehrer auch immer. Aber wie konnte ich ahnen, dass sich ausgerechnet Heiner der Hitzkopf beworben hatte?
Psychiater: Heiner der Hitzkopf?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Kurz vor der Steinbrücke macht Herbsteins Karnevalsfigur ruckartig einen überraschenden Schlenker nach rechts auf die kleine Wiesenfläche, ich flink hinterher, erblickt dabei wild hopsend das Karussell, stutzt: „Nanu, was ist denn das?“ Darf ja wohl nicht wahr sein! Ich stelle mich ungläubig vor ihn, schaue ebenso hinüber. Belehre: „Ne, echt jetzt? Sie kennen das älteste Karussell der Welt nicht? Bildungslücke! Jedes Kind weiß drüber Bescheid! Bald wird es Ihre Lebensaufgabe sein!“
Woraufhin der Bajazz wieder losspringt und mir ordnungsgemäß folgend den Parkweg betritt. Kaum drauf, ruft Hatatitla ermahnend rüber: „Alessa Marie! Kommst du bitte mit ihm zu uns?“ „Herrje!!!!“, durchfährt es mich. „Vor lauter Euphorie hättest du glatt DEN Termin vergessen. Nicht auszudenken!!!!“ Prompt packe ich ihn fest am Armgelenk, versuche seine Bewegungen allmählich nach links zu lenken. Dummerweise hatte ich jedoch exakt vor Hatatitlas Aufforderung großspurig herausposaunt: „Gleich haben wir es geschafft! Die ‚Eremitage‘ liegt geradeaus hinter dem alten Kurgebäude, Sie müssen gar nicht mehr weit hüpfen!“ Weshalb er verständlicherweise gegenlenkt, um schnurstracks endlich zum Automaten zu gelangen. Energisch stelle ich mich ihm mitten auf der Brücke entgegen.
Psychiater: Alessa Marie, nur so fürs nächste Mal. Das absichtliche Aufhalten Stimmen hörender Personen nach zuvor unpassenden historischen Fragen ist ebenfalls bedenklich. Stell dir vor: Er kennt eventuell Johannas Biographie, interpretiert den von dir versperrten Weg nunmehr als Gottes geänderten Willen, doch besser wieder nach Domrémy-la-Pucelle zurückzukehren. Frankreich besäße keine Nationalheilige. Bordeaux wäre heute, am 12. April 2018, noch englischer Besitz, weil du…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Uuuuuuuuuuuuupppss! Jedenfalls versucht mich dieser Zugführer glatt beiseite zu schieben. „EY, PFOTEN WEG!!!!!“, fauche ich und will den Kerl mit Judotricks ausschalten, um ihn am Boden liegend in Personalbüro zu ziehen; ähnlich wie Rippströmungen unvorsichtige Schwimmer weit aufs offene Meer hinaus. Da ahnte aber noch niemand im Park, dass Heiner der Hitzkopf vor mir stand.
Psychiater: Heiner der Hitzkopf sagt mir als Name ehrlich gesagt überhaupt nichts. Warte, ich googele mal…erzähl ruhig weiter!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Der Bajazz musste im früheren Beruf wohl Soldat oder ähnliches gewesen sein. Es kommt zum Duell auf der Brücke. Anfangs von meinen trotz unpraktischer Kleidung sitzenden Techniken überrascht, kannte er leider zahlreiche Kniffe mehr…binnen zwei Minuten fand ich mich mit Armen und Beinen zappelnd auf stählernen Schultern wieder. „Hohohohoho!!!! Du bist ja eine richtig gut trainierte Kampfsportlerin“, lacht der Rohling höhnisch, „reicht allerdings nicht aus gegen ‚Heiner der Hitzkopf‘!“
Psychiater: Heiner…Heiner…hier…nur zwei läppische Zeilen…erzähl ruhig weiter!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Mit der Niederlage schlug das Schicksal endgültig zu. Begleitet von Missis nörgelnden Aufforderungen wird mein strampelnder Körper, von Heiners mächtigen Pranken umfasst, springend abtransportiert. Haartracht, Garderobe, Make-up abermals öffentlich ruiniert. Quelle blamage! In größter Not schreie ich: „Theluuuuuummmaaaaaaaaaa!!!!! Helaaaaaaaaaannnchriiiiiiiiiiii!!!!! Hiiiiiiiiiilffeeeeeeeeeeeee!!!! Ein grausamer Berserker entführt mich!!!!!“
Psychiater: Vielleicht bringt diese Suchmaschine mehr…erzähl ruhig weiter!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Was nun passierte, glich Fausthieben ins Gesicht. Statt hilfsbereit herbeieilenden Galopp vernehmen meine Ohren vielmehr Hatatitlas verärgerte Worte: „Na los, zack, zack! Beeil dich, du Trödeltante! Im Personalbüro ist Dienstschluss, und als Beamte denken wir gar nicht daran, wegen deiner Bummeleien auch nur eine Minute länger zu arbeiten!“ Doch es war nur der Beginn ihres Psychoterrors. Nela mischt sich frech ein, die gerade mit Spartacus technisch interessierten Parkbesuchern Einzelheiten zum Ablauf des Karussellbetriebes erläuterte.
Psychiater: Das nenne ich berufliches Engagement. Sich im Büro für über ihre vorgeschriebenen Aufgaben hinausgehenden Tätigkeiten Zeit zu nehmen, kommt bei Beamten – hmmm, sagen wir mal – selten vor. Vorbildlich!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Herr Doktor, das sind alles raffinierte Täuschungsmanöver. Glauben Sie mir, die Karussellpferde tun nur so harmlos. Sie spielen Hanau geschickt etwas vor, um dadurch möglichst viele Kinder und Jugendliche zu sich ins Hexenhaus zu locken. Sie machen mit dem bösen Geist gemeinsame Sache.
Psychiater: Was hat die…höhöhöhöhöhö…freche Hexe Nela denn gesagt? Dass sie Hagel herbeirufen wird? Dass Simon und Spartacus sprachlich korrekt ausgedrückt Hexer heißen, nicht Hexen?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Obwohl weit entfernt, verstehe ich jedes einzelne Wort glasklar. „Entschuldigen Sie bitte vielmals diese peinlichen Unannehmlichkeiten, und drehen Sie sich unter keinen Umständen um!!!! Das plärrende Ding dahinten ist nämlich ‚Dating Marie‘.“ Als ob er darauf gewartet hätte, lästert Simon: „Oh Graus!!!!! ‚Dating Marie‘????? Zweifellos. Erkennbar an Klamotten, Frisur sowie Pudergesicht. Hähähähähä, hat sie nicht geschwätzt, edle Grafensöhne seien absoluter Mindestanspruch was einen festen Freund anbetrifft?“ „Hihihihihihihihihihihihihihi“, tuschelt Nela fies, „und nun lässt sich das Adelsgirl von DB-Mitarbeitern auf Regionalbahnniveau abschleppen. Wahrscheinlich hat sie inzwischen in der Schule gelernt, dass das Leben kein Wunschkonzert ist.“
Wenig später kommen wir unter schallendem Besucherlachen am Teich vorbei, wo die Spitze der Cheopspyramide aus dem Erdreich ragt. Hoffnung blüht auf: „Wenn dir jemand helfen kann dann nur die Entlein.“ Ich flehe: „Enten, niedliche Enten, hört, ihr müsst mir unbedingt helfen! Fliegt herbei, schnappt diesen Bösewicht mit euren Schnäbeln an seiner Dienstuniform, und flattert mit ihm schleunigst zum Karussell! Er hat dort ein wichtiges Vorstellungsgespräch.“
Psychiater: Hm…Heiner der Hitzkopf…wieder nur ein vager Querverweis…erzähl ruhig weiter!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Meine Erkenntnis ist bitter: „Von denen hast du nichts zu erwarten.“ Stumm wenden sich alle desinteressiert ab, schwimmen lieber zur Pyramidenspitze, um deren Spiegelbild im Wasser zu bewundern. Eins weiß ich: Futter gibt’s von mir keines mehr!
Psychiater: Aaaaaaaah…hier…Heiner der Hitzkopf…nein, erneut nur Querverweise…die Sache scheint heikel zu sein…hmmmmmm…ääääääääähhh, was für ne Pyramide nochmal?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Die Cheopspyramide. Napoléon Bonaparte ließ das Bauwerk doch 1799 zerlegt von Ägypten nach Hanau bri…
Psychiater: AHAAAAAAAA, endlich hier etwas Konkretes…ich lese mal vor:
‚Heiner der Hitzkopf‘ war von 2000 bis 2014 ein berüchtigter Söldneranführer und operierte in verschiedenen afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten. Für weltweites Aufsehen sorgte seine bunt zusammengewürfelte Einheit durch die kühne Erstürmung der Residenz des usubalkusafulischen Machthabers Besikeki Dalibalu im März 2004, worauf ihr erfolgreicher Kommandant kurzerhand das Präsidentenamt abschaffte und sich selbst zum König Heineralasu I. proklamierte. Berauscht vom Triumph verließ ihn Fortuna jedoch alsbald. Blind vor Liebe heiratete er nur einen Tag nach dem Staatsstreich die jüngste Tochter des gestürzten Präsidenten, welche aber schon zwei Wochen später beim Obersten Gerichtshof die Schnellscheidung einreichte und alles beim Putsch Erbeutete samt Königspalast als Unterhalt zugunsten direkter Familienangehöriger zugesprochen bekam. Sämtlicher finanzieller Mittel beraubt, verlor Heineralasu I. den Rückhalt seiner vergeblich auf großzügige Soldzahlungen schielenden Einheit, die ihn daraufhin rebellierend vom Thron jagte und den alten Machthaber wieder ins Amt einsetzte. Von Amor ausgelacht floh Heiner steckbrieflich gesucht vor dem politischen Zorn des Ex-Schwiegervaters, um sich zunächst in benachbarten Ländern, ab 2008 in Lateinamerika glücklicher an die Macht zu putschen. Ohne Erfolg. Infolge gravierender öffentlicher TV-Vorwürfe desavouiert zog er sich im Juli 2014 enttäuscht sowie völlig ruiniert nach Deutschland zurück und begab sich in Psychotherapie. In deren Verlauf begann er über Fördermaßnahmen des Arbeitsamtes eine Lokomotivführerausbildung bei der Deutschen Bahn.
Marquise de Hanau-Münzenberg: ACH SOOOOOO, das erklärt auch sein Verhalten kurz nach Passieren des Teichs. Plötzlich blieb er ruckartig stehen und erteilte strengste Befehle an Leute, die ich nicht sah: „Halt, Männer!!!!! Dort im Dschungel liegt der Präsidentenpalast. Kurze Lagebesprechung. Luigi und Jerôme besetzen den Westeingang!!!! Pedro, James, ihr nehmt den Osteingang!!!! Klaas, du sicherst mit Igor, Ralf, Morten und dem Albaner von hinten!!!! Der Rest stürmt mit mir das Hauptportal!!!! Habt ihr auch alle gut eure Maschinengewehre überprüft, Jungs? Dem korrupten Fettsack da drinnen werden wir jetzt einheizen.“ Kaum hatte er seine Kommandos erteilt, lösten sich jene zuvor eingetretene salzsäulenartige Erstarrungen, und Heiner schaffte mich in misslicher Schulterlage zur Einsiedelei.
Psychiater: Ein großer Erfolg für dich.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Leider nur für zwei Stunden. Als wir eintrafen, bekam er von mir die Mönchskutte sowie ein Buch zur Geschichte des ältesten Karussells der Welt ausgehändigt. Dennoch hatte Heiner den Stempelautomaten nicht vergessen. Improvisation war angesagt: „Aaaach, fast vergessen, den mussten sie heute früh wegen eines Defekts zur Reparatur bringen. Dürfte bis 18 Uhr dauern. Wenn Sie möchten, können Sie zwischenzeitlich schon am Tisch mit dem Meditieren beginnen.“ Der soeben frisch eingekleidete Einsiedler entgegnete: „Ok, mache ich, Kleine, du bist voll cool!“
Sprach’s, setzte sich artig nieder, stand dann jedoch unerwartet nochmal auf. Letzteres tat er allerdings nur deshalb, um vorher rasch die Position mehrerer Gegenstände zu verändern. Vermutlich ermöglichte ihm das eine bessere innere Konzentration beim Meditieren. Daraufhin nahm der frischgebackene Einsiedler endgültig brav Platz und verschlang planmäßig die heilige Lektüre. Anders ausgedrückt: Er tanzte voll und ganz nach meiner Pfeife.
Ich triumphierte innerlich: „Yo, du hast es geschafft!!!!! Bald wird er sein Studium des heiligen Textes beendet haben und danach als ehrwürdiger Erleuchteter für jeden ihn um Hilfe aufsuchenden Menschen das Karussell drehen. So wie der ‚Daibutsu von Nara‘ in der imposanten Tempelhalle das Rad.“
Psychiater: Also doch ein großer Erfolg für dich!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Die meditative Versenkung des Eremiten fand gegen 14 Uhr ihr jähes Ende.
Psychiater: Wollte er wieder Befehle geben?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Nein. Vier Bahnkollegen eilten mit seiner vermutlich zweiten Ehefrau hastig auf die Klause zu. „Schaaaatziiii, Schaaaatziiii, rief sie aufgeregt, du hast heute früh daheim deinen Fahrschein vergessen!“
Psychiater: Kannst du mir mehr über diesen Fahrschein erzählen?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ein Einzelfahrschein Kinder der Stadtwerke Offenbach, gültig entwertet für den 22.09.2017. Jubelnd rief Heiner der Hitzkopf daraufhin: „Hurra, da muss ich ja gar nicht mehr bis 18 Uhr warten!!!! Schau, Kleine, Hasilein bringt mir persönlich das Ticket vorbei!“ Strahlend wie Modelleisenbahnen anhimmelnde Jungs nahm er das Billet unter gütig lächelnder weiblicher Anteilnahme entgegen, zeigte es stolz herum, während ihm an beiden Wangen unzählige Freudentränen herunterkullerten. „MAMA, ICH HAB EINEN!, hallte es. ICH HAB EINEN! MENSCH, MAMI, HIER SCHAU, ICH HAB EINEN! ICH HAB ENDLICH EINEN! JUHUUUUUUUUU!!!!!“ Daraufhin springt mein Eremit vom Stuhl auf, zieht eiligst wieder seine DB-Dienstkleidung an und rennt unter ermunterndem kollegialem Beifall sowie anfeuernden Zurufen der liebenden Gattin wie „Vorwärts Heinerlchen, du liegst super in der Zeit!!!!!“ oder „Bärli, lauf, du schaffst das!!!!!“ pflichtbewusst davon. RB15228 konnte mit über dreistündiger Verzögerung zur Erleichterung aller doch noch nach Frankfurt weiterfahren.
Mich ließ man fassungslos zurück. Wie vom Donner gerührt knipste ich das Licht aus und schloss die gusseiserne Gittertür ab. Ein letzter Abschiedsblick auf vergebliche Liebesmüh.
Psychiater: Ja, und danach?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Taumelte ich apathisch heimwärts. Ach, Herr Doktor, ich bin wirklich die größte Versagerin der Weltgeschichte!
Psychiater: Es ist mir eine große Ehre, dich auch hier wieder enttäuschen zu dürfen. Aus jener vernachlässigenswerten Episode etwaig entstandene Minderwertigkeitskomplexe abzuleiten, wäre aus meiner fachärztlichen Sicht untrügliches Zeichen stümperhafter Diagnostik, wie sie beim Kollegen ein Stockwerk höher zum Praxisalltag gehört. Vielmehr: Herzlichen Glückwunsch, liebe Alessa Marie!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hä?
Psychiater: Hat sich denn damals keiner bei dir bedankt dafür, dass du an jenem Tag zur Superheldin wurdest?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ehrlich gesagt nicht.
Psychiater: Nur aufgrund deiner leidenschaftlich geführten, aufopferungsvollen Eremitenanwerbung löste das Offenbacher Stadtgrenzentrauma bei Heiner der Hitzkopf keine fataleren Reaktionen aus. Im Artikel steht nämlich auch etwas zur Hintergrundgeschichte seiner Söldnerkarriere. Ich lese nochmal vor:
Im Rahmen seiner psychotherapeutisch notwendigen Ausbildung gab sich ‚Heiner der Hitzkopf‘ geläutert, distanzierte sich von sämtlichen 107 Umsturzversuchen. Nebenbei schrieb er pazifistische Söldnerromane und gab Interviews. Auch zu jenen schweren Anschuldigungen, welche Mitte 2014 in diversen südkoreanischen Live-Talkshows ehemalige Untergebene gegen ihn erhoben hatten. Unter anderem prangerte ein nur ‚Mombasa Hannes‘ genannter Söldner vor laufender Kamera eklatante vom früheren Kommandeur begangene Menschenrechtsverletzungen an.
Beim Training in Costa Rica für den geplanten Staatsstreich im benachbarten Panama hätte dieser angeblich ihm und seinen Kameraden am 29. März 2014 befohlen, zunächst bei miserablem Regenwetter den Stausee ‚Lago Arenal‘ der Länge nach zu durchschwimmen. Im weiteren Manöververlauf wäre die zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen erschöpfte Truppe in Badehosen und Strandsandalen zunächst quer durch die moskitoverseuchte ‚Grüne Hölle‘ bis zu einem beliebten touristischen Aussichtspunkt auf den Vulkan ‚El Arenal‘ getrieben, von dort aus schließlich erbarmungslos bis hoch auf dessen wolkenverhangenen Kratergipfel gejagt worden. ‚Heiner der Hitzkopf‘ bestritt hingegen vehement sämtliche Vorwürfe, beteuerte, derartige Übungen seien im Söldnerwesen gängige Praxis, stünden im Einklang mit internationalen Standards.
Ende September 2017, wenige Wochen nach erfolgreich bestandener Prüfung, verlor sich jedoch schlagartig die Spur des frischgebackenen Lokomotivführers, über dessen Verbleib sich etliche unbewiesene Vermutungen ranken. Einer Theorie zufolge soll er als hoher Offizier in Diensten der 2017 wiederbelebten ‚Grafschaft Hanau-Münzenberg’…
Weiterlesen zwecklos. Wie viele Spinner glauben denn eigentlich noch, dass es diese Grafschaft gibt???? Und ich dachte bisher, wenigstens DAS sei ein seriöses Internetlexikon. Wie die Große Pest von 1348/49 geht jene skandalöse Fakenachricht seit letztem Jahr um. Und du, Alessa Marie, schwimmst selbstverständlich voll auf der Welle mit! Erscheinst zu jeder Therapiestunde in diesem affigen Aufzug aus – den Menschenrechten gebührt ewiger Dank – 1789 fortgefegten feudalen Ausbeuterzeiten. Vive la République! Sagt, habt ihr verd**mt nochmal keine gescheiteren Alternativen, um euer leeres Computerleben aufzupeppen?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Steht mir doch gut! Trage ich täglich seit Papa mir von seinen Jackpot-Millionen den Titel gekauft hat. Oooooch…bitte…Herr Doktor! Ist grad soooooooooo spannend!
Psychiater: Gut, weil du’s bist. Ausnahmsweise!
In Interviews zu Motiven einstigen Tuns befragt, machte er gegenüber Reportern stets äußerst traumatische Kindheitserlebnisse dafür verantwortlich, schuldlos in die düstere Welt bezahlter marodierender Landsknechte geraten zu sein. Demnach hatte er 1992 als Dreizehnjähriger während einer Straßenbahnfahrt von Frankfurt nach Offenbach kurz vor dem Halt ‚Stadtgrenze / August-Bebel-Ring‘, welcher damals zugleich als Tarifgrenze zwischen beiden Städten fungierte, vollkommen schockiert gemerkt, dass nach einem romantischen ersten Rendezvous am Südbahnhof kein Pfennig mehr zum obligatorischen Lösen eines Weiterfahrtickets der ‚Stadtwerke Offenbach‘ im echt ledernen Brustbeutel klingelte. Weinend vor Angst, womöglich als Schwarzfahrer erwischt zu werden, stieg der ehrliche Pfadfinder an der Station aus, musste hilflos zusehen, wie die ‚Linie 16‘ ohne ihn in Richtung ‚Marktplatz‘ davonfuhr. Anstatt für soviel Ehrlichkeit jedoch Dank oder Anerkennung zu ernten, bestrafte seine daheim ungehalten wartende Mutter ihren spendablen Sohn mit dreimonatigem Taschengeldentzug.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Seltsam, seltsam, in Offenbach fährt doch gar keine Straßenbahn.
Psychiater: Besagte Umstände sind jüngeren Generationen auch nicht mehr verständlich, der Abschnitt wurde 1996 nach der S-Bahneröffnung stillgelegt. Vor Gründung des RMV mussten aufgrund geltender Tarifbestimmungen aus Frankfurt kommende Fahrgäste bis 1995 tatsächlich an der Stadtgrenze im Straßenbahnzug beim Fahrer ein Ticket für Offenbacher Gebiet lösen sowie entwerten, wofür in den Wagen eigens kleine gelbe Stempelautomaten montiert waren. Ich selbst erinnere mich noch gut an jene freundliche Damenstimme vom Band, kann ihre Durchsage sogar im Schlaf trällern: „Nächste Haltestelle: ‚Stadtgrenze/August-Bebel-Ring‘. Stadt- und Zahlgrenze. Zur Weiterfahrt in Richtung ‚Marktplatz‘ mit der ‚Linie 16‘ benötigen Sie einen Fahrschein der Stadtwerke Offenbach.“ Ach, es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen, wenn ich in Oberrad wie ein hypernervöser Zappelphilipp begann, meine Hosentaschen zu befühlen, ob sich auch wirklich das bald benötigte Geld darin befände. Quälende, zermürbende Ungewissheit, als Offenbacher auch wirklich gleich in die Heimatstadt einreisen zu dürfen oder an der Grenze als anständiger Bürger aussteigen zu müssen, hat Generationen Unschuldiger gezeichnet. Und an allem waren nur die Frankfurter Schuld! Wie immer!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hmmm…dann sind das wohl am Bahnhof Hanau Wilhelmsbad…ähm…vielmehr an der Haltestelle Stadtgrenze/August-Bebel-Ring…bestimmt jene Straßenbahndurchsagen gewesen, die Bajazz-Heiner in Furcht und Schrecken versetzten, weil er sich 1992 trotz sympathischer Aufforderungen durch dieses Sprechband dank Alexandra keinen Fahrschein mehr leisten konnte. Sein kindisches Theater hingegen war eine Auseinandersetzung mit der nicht minder traumatischen Erfahrung, trotz größter Ehrlichkeit von Mama später bestraft worden zu sein, garantiert.
Psychiater: Sehr gut erkannt! Ich sehe, aus dir wird eine kompetente Psychiaterin. Im Artikel steht aber noch mehr. Laut eigenen Aussagen wurde Kleiniheini auf seinem anschließenden Fußweg unfreiwilliger Zeuge gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen springend Steine werfenden vermummten Demonstranten, welche um jeden Preis die Schließung der Kaiser-Friedrich-Quelle verhindern wollten, und Polizeikräften. Von zwei hübschen Militantinnen sei er angeflirtet sowie für sechs Tüten Fruchtbonbons angeheuert worden, neunzig Minuten lang Nachschub von nahen Baustellen an den überall lichterloh brennenden Autoreifen vorbei herbeizuschaffen. Früh hineingezogen ins bezahlte Kriegshandwerk hätte es ihn 1998 als Abiturient – trotz anerkannter Kriegsdienstverweigerung – deshalb nach Mittelamerika verschlagen, um sich einer von Capitán Zacharias de Kerk geführten Söldnerkompanie zunächst als Hilfsbursche anzudienen. Nochmaliges Zitat:
Diese Behauptungen konnten aber nie zweifelsfrei überprüft werden. Sie sind wohl als Teil selbst gestifteter Mythenbildungen um seine Person zu interpretieren, welche den späteren legendären Ruf als Putschist ‚Heiner der Hitzkopf‘ zusätzlich verklären sollten.
Eindeutig bewiesen ist jedoch, dass unser Mädchen für alles unter de Kerk rasch zum Comandante aufstieg und Anfang Januar 2000 am Kongo erstmals eigene Einheiten ausrüstete. Aus wiederum nicht näher bekannten Gründen löst Heiner diese Armee noch im selben Monat wieder auf, verlässt über Nacht sang und klanglos die Zentralafrikanische Republik Kongo, Ziel unbekannt, bis er drei Monate später erneut in Afrika, diesmal in Usubalkusafulien auftaucht. Wie dem auch sei, für mich als Psychiater klingen seine Begründungen jedenfalls durchaus glaubwürdig, erklären sie doch präzise jene von dir beschriebenen Wurf- beziehungsweise Sprungbewegungen. Letztere hatten nichts mit Herbsteins Bajazz zu tun, sondern waren flashartig hochschießende Kindheitserinnerungen an seine unmoralische Teilnahme am schonungslos ausgetragenen Straßenkampf um Offenbachs heiliges Quellwasser, die ihn zum Söldner degradierte.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Also von wegen: Jeden Tag eine gute Tat!
Psychiater: Für eine Handvoll Dollar.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Toll, am Ende wälzte er persönliche Schuld für verspätetes Heimkommen raffiniert auf Alexandra ab und vertuschte außerdem eigene Käuflichkeit als ehrbarer Pfadfinder.
Psychiater: Der Rosenkavalier par excellence. Für eine aufrechte Haut müssen das seelische Folterqualen gewesen sein. Tja, alles nur, weil unser armes Bübchen wenige Minuten zuvor Spielball perfider Tarifpolitik zweier verfeindeter Städte wurde.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hmmmmm…mit der übereilten Hochzeit wollte er dann vermutlich das Trauma vieler Beta-Jungs verarbeiten: wegen eines Mädchens plötzlich ohne Geld dazustehen. Dachte jetzt wohl, dass krasse Söldnerchefs bei der Präsidententochter voll gefragt sind. Und den Lokomotivführerberuf hat Heiners Psychiater deshalb als Therapie für ihn ausgewählt, um ihm als „Straßenbahnfahrer“ irgendwann wieder angstfreies Überqueren von Stadtgrenzen zu ermöglichen. Logisch, die brauchen eh keine Fahrscheine.
Psychiater: Bravo, werte zukünftige Frau Kollegin! Therapeuten von OST-Patienten bevorzugen bei den hochdramatischen Aufarbeitungen ausnahmslos die Lokführermethode. Berufliche Kontaktherstellungen zum Trauma mit Tramfahrzeugen würden unzumutbare Konfrontationen mit dem Auslöser darstellen. Aus diesem Grund nähert man sich der seelischen Verletzungsursache mittels Ersatzstraßenbahnen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Als Lokomotivführer.
Psychiater: Äußerlich. Innerlich aber nach wie vor als Straßenbahnpassagier. Vereinfacht ausgedrückt: Heiners Lok- oder Zugführersitz symbolisiert exakt jenen Platz, von dem Pfadfinder Heinerli 1992 zwangsweise aufstand, damit er nicht zum unwürdigen, eventuell sogar frisch ertappten Schwarzfahrerbetrüger wurde. Dazu musst du wissen, dass sämtliche am Offenbacher Stadtgrenzentrauma leidende Personen, welche die Deutsche Bahn beschäftigt, ihre Therapiemaßnahmen nur unter strengsten Sicherheitsauflagen antreten dürfen. Monatlich erhalten sie vom behandelnden Psychiater für jeden Arbeitstag eine gültig gestempelte, originalgetreue Imitation des Offenbacher Stadtwerketickets ausgehändigt. Diese ist während des gesamten Dienstes jederzeit griffbereit mitzuführen. Brechen unterwegs unvorhergesehen alte traumatische Konflikte auf, können OST-Patienten hektisch hinlangen und dabei seelisch erleichtert feststellen, dass sie sich im Besitz eines rechtmäßig entwerteten Fahrscheins befinden. Automatisch verwandelt sich nun der gegenwärtige Dienstsitz in ihrer Wahnwelt zurück in jenen einstigen Straßenbahnsitzplatz, auf dem sie nun als ehrliche Menschen sitzenbleiben dürfen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Stimmt, wie dämlich von mir. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?
Psychiater: Auch Sigmund Freud hat einmal klein angefangen. Allein deine wundervolle, kreative Plakataktion vermochte derart traumatische Flashs überhaupt erst auszulösen, wodurch eine Katastrophe biblischen Ausmaßes abgewendet wurde. Beim Anblick des Schildes drängten längst ins Unterbewusstsein gewanderte Bilder zornig hochgehaltener Transparente sowie aggressiv springender militanter Steinwerfer blitzartig nach oben.
Prompt wechselten für Zugführer Heiner die von Wilhelmsbad weiter Richtung Frankfurt führenden Eisenbahnschienen ihre Symbolik, indem sie nunmehr jene Straßenbahntrasse darstellten, auf der die Linie 16 an jenem Tag von der Haltestelle Stadtgrenze/August-Bebel-Ring ohne Klein Heini bis zum Marktplatz fuhr. Kaum auszudenken, wenn Ex-Söldnerführer Heiner sein fehlendes Offenbachticket ohne deine großartige Initiative bemerkt hätte! Für am Offenbacher Stadtgrenzentrauma leidende Lokführer symbolisiert nämlich jeder letzte fahrplanmäßige Bahnhof beziehungsweise Haltepunkt VOR einer Stadtgrenze zwanghaft besagte Tramstation Stadtgrenze/August-Bebel-Ring, ihr Zug folglich genau jene 16, in welcher sie es erlitten. Im verzweifelten, sinnlosen Ankämpfen gegen frühere Tarifregelungen würden die Traumatisierten trotz grüner Signalanzeigen vehement eine Stationsausfahrt verweigern, stattdessen aussteigen und sich mitten aufs Gleis legen, wodurch eine Straßenbahnweiterfahrt ohne sie in Richtung Marktplatz unmöglich werden soll.
Die Forschungsliteratur beschreibt sogar Fälle, dass OST-Patienten den fehlenden Fahrschein nicht wie idealerweise direkt an der Pseudohaltestelle Stadtgrenze/August-Bebel-Ring, sondern unglücklicherweise erst hinterher auf offener Strecke bemerkten. Aus schrecklicher Angst vor Kontrolleuren steuerten sie die „Straßenbahn“ sofort zur Tarifgrenze zurück, um ja nicht als überführte Schwarzfahrer ihren Job zu riskieren. Wie jener bemitleidenswerte Zugführer, welcher am 26. April 2015 seine S8 rund 200 Meter vor Dietesheim per Nothalt stoppte und nach Steinheim retour fuhr.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ohje, also hat Heiner, der Pechvogel, an nur einem einzigen Tag insgesamt vier Traumas auf einmal erlitten.
Psychiater: Traumen oder Traumata heißt die Pluralbildung von Trauma übrigens korrekt. Das ist nämlich ein Fremdwort aus dem Altgriechischen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ach sooo, ich habe leider nur Englisch, Französisch, Spanisch und Japanisch in der Schule. Ich meine halt: erst die finanzielle Ausplünderung durch ein Mädchen, dann Fahrscheinhorror in der Straßenbahn, anschließend neunzigminütiger Einsatz als angeworbener Freiwilliger im qualmenden Straßenkampf, und damit traumatisch nicht genug, zur abschließenden Krönung auch noch drei Monate Taschengeldentzug durch seine erboste Mutter trotz ungerechtfertigter Schuldzuweisungen an Alexandra. Derart viele Traumata waren dann wohl einfach zu viel. Klaro, das muss ein ansonsten grundehrlicher Pfadfinder erst mal verkraften. Kein Wunder, warum er mit seinem weißen Bart um Jahre gealtert wirkt.
Psychiater: Eine perfekte Zusammenfassung eines traurigen Schicksals. Mais ca c’est la vie, Madame la Marquise.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Oui, c’est vrai. Und haben Sie’s endlich begriffen, wer ich bin? Allerdings trägt meiner Meinung nach die Deutsche Bahn alleinige Verantwortung für jene am 22. September in Wilhelmsbad entstandenen massiven Behinderungen im Zugverkehr. Denn wie kann man vor diesem Hintergrund dermaßen blauäugig Offenbacher therapeutisch als Lokführer beschäftigen? Überhaupt: Offenbach! Offenbach! Wenn ich das schon höre! Über Offenbach klopft mon père, der Graf vom Hanau-Münzenberg, avec plaisir den ulkigen Spruch: „In Offenbach sitzt der Teufel auf dem Dach!“
Psychiater: Hahahaha!
Erzählrunde 4
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ach, du liebe Zeit!!!! Dann hat Papa ja einen komplett falschen Spruch über die Lederwarenstadt erzählt. Kein Wunder also, dass Offenbach bei uns keinen besonders guten Ruf besitzt… oh…nein…ich dachte immer…Papa weiß alles…er weiß doch alles…er…er…regiert doch allwissend unsere Grafschaft.
Psychiater: Taschentuch?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Jaaaaaaaaaaaaaaaaa…zwei…bitte…das packe ich jetzt alles einfach nicht mehr… Papaaaaaaaaa…wie konntest du Mama, Johanna, Charlotte und mich jahrelang nur so gemein täuschen? Mensch, wir haben dir doch vertraut…Papa…dir vertraut…DU LÜGNER!!!!!! ZUR STRAFE GRÜNDE ICH DAFÜR MEINEN EIGENEN STAAT, SOBALD ICH VOLLJÄHRIG BIN!!!!!
Psychiater: Hochwohlgeboren hat Offenbachs hervorragenden Ruf sicherlich nicht absichtlich schädigen wollen. Als Bub schnappte er garantiert beim Milchholen irgendwo jene von missgünstigen Neidern bewusst verbreitete Verfälschung auf. Klatschgeschichten im Tante Emma Laden. Kennt man ja zur Genüge. Erwachsenen Dummtratschern kindlich zutiefst vertrauend wurde sie durch ihn guten Glaubens weiterverbreitet. Papa kann nichts dafür. Papa ist ein Opfer. Verzeih ihm bitte, Alessa Marie! Und deshalb ist es jetzt für dich als älteste Tochter heilige Pflicht, mit dem, was du weißt, jegliche Ressentiments bei euch über Offenbach mutig beiseite zu räumen. Denk dran: Null Toleranz gegenüber Vorurteilen! Wehret den Anfängen! Es fängt im Kleinen an!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Danke, Herr Doktor, es geht mit schon wieder besser. Okay, das mache ich gleich nachher beim festlichen Souper zu Ehren des Earls und der Countess of…
Psychiater: Denen du bei dieser Gelegenheit gleich auf Englisch verklickern kannst, dass die hiesige Vorstellung von einer 2017 wieder zum Leben erweckten Grafschaft Hanau-Münzenberg absolutely f*cking Bullsh*t ist.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sorry, geht leider nicht. Bei uns am Hofe wird ausnahmslos Französisch parliert. Alternativ à la mode. Incidentally, was ist dann eigentlich mit Offenbach, wenn dort der Teufel nicht auf dem Dach sitzt?
Psychiater: Ei, da kommen doch die leckeren Offenbacher Pfeffernüsse sowie das herrlich köstliche Offenbacher Pils her. In Offenbach leben nur aufrichtige Leut. So. Und weil es für Mitte April ungewöhnlich warm draußen ist, gönnt sich der Onkel Doktor eben mal eine Buddel. Das gibt 2018 einen Rekordsommer. Madame de la Marquise gestatten, dass meine Füße entspannt auf dem Schreibtisch ruhen?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Pourquoi pas? Unsere Klassenlehrerin sagt auch immer: „Wir sind hier wohl auf Urlaub!“, wenn sie sieht, dass beide Außenreihen Füße baumelnd nach hinten an die Fensterwand gelehnt sitzen.
Psychiater: Seeeehr lobenswert, dieser Satz. Lockerer, zwangloser, unverbindlicher Unterricht ist die Zukunft unserer Kinder.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ähm, ich glaube, Frau Müller meint das etw…
Psychiater: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhh!!!!!! Gekühlt schmeckt es am besten! Auch eins?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hey, warum nicht, ist echt viel zu warm für April.
Psychiater: Greif zu, Mädchen, auf dem kleinen Schrank in der Ecke stehen extra für dich noch zwei Flaschen!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Entdeckt. Schönes Etikett. Dankeschön!
Psychiater: Keine Ursache. Und erzähle es heute Abend gleich deinen Eltern: Hervorragendes Bier hat einzig und allein Offenbach zu bieten. Doch kommen wir jetzt auf Heiner der Hitzkopf zurück. Bist du ihm später nochmal irgendwo begeg…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhh!!!!!!!!! Gekühlt schmeckt es am besten!
Psychiater: Süffig, herb, heftig. Aus Liebe zu Offenbach.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Wie jetzt?
Psychiater: Steht hinten auf der Rückseite.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Upsi, wie peinlich. die Flasche kann man ja drehen.
Psychiater: Kein Thema. Diesen Spruch habe ich damals auch erst nach dem zweiten Kasten entdeckt. Doch zurück zur Frage: Gab es noch weitere Begegnungen zwischen dir und Heiner?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ja…äh…nein…vielllllleicht…keine Ahnung jetzt. Es war halt voll seltsam irgendwie.
Psychiater: Was genau war seltsam?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Kurz darauf gab es endlich Herbstferien. Sofort am ersten Tag begab ich mich mit dem Plakat zum Bahnübergang, um Fortuna von neuem herauszufordern.
Psychiater: Verständnisfrage nebenbei: Zwischenzeitlich warst du also nicht dort?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Nein, die Karussellpferde hatten mich nach dieser schlimmen Enttäuschung für ein Jahr vom Anwerben beurlaubt.
Psychiater: Sehr fürsorglich, wirklich.
Marquise de Hanau-Münzenberg: An jenem strahlend blauen Montag stürme ich also bester Laune auf das Parkgelände, drehe mich enthusiastisch im Kreis, rotiere wie ein herbstlicher Wirbelsturm Plakat schwenkend dem ältesten Karussell der Welt entgegen, jubele dauernd: „Feeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee-eeerrrrrrrrrrrrriiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeennnnnnnnnnnnnnn!!!!!!!!!!
Juuuuuuuuuuuuuuuhhhhhhuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!!!!!!!“
Völlig außer Puste muss ich bei Theluma und Helanchri stehenbleiben, um tief Luft zu holen. Vor ihrer Wohnung vollkommen abgekämpft schnaufend kommen mir dennoch wie aus heiterem Himmel innere Eingebungen: „Hm, es könnte doch sein, dass sich ‚Heiner der Hitzkopf‘ hier irgendwo auf dem Areal aufhält. Er könnte doch erneut sein Ticket vergessen haben und vom Bahnhof hierher gehüpft sein, hoffend mich glücklicherweise wieder anzutreffen. Genau! Ha, bestimmt versteckt sich Heiner zunächst im Wald, bis der ‚RMV‘ einen Ersatzzugführer auftreibt, und die Luft für ihn rein ist. Genau! Deshalb gehst du sofort dort hinein und beginnst mit dem Suchen! Er kann nicht weit sein. Genau! Du lockst Heiner erneut zur Klause, sperrst ihn auf der Stelle ein, damit er dir kein zweites Mal entwischt! Genau! So machst du es!“
Psychiater: Eine auf wirklich gutem Zeitmanagement basierende, beeindruckende Strategie.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Doch das Schicksal machte mir…*hicks*… einen fiesen Strich durch die Rechnung.
Psychiater: Prost! Erste Pulle schon leer? Sag bloß!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Süffig, herb, heftig. Aus Liebe zu Offenbach.
Psychiater: Wie jetzt?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Steht doch hinten auf der Rückseite.
Psychiater: Genau, genau, da hatte wohl ich eine lange Leitung.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Uuuuuuuuuuuuuuuhhhhhh…jedenfalls war das…*hicks*…noch…ja…nein… doch… hmm…genau…gerade begebe ich mich den Stufenweg vom Karussell hinab als meine plötzlich vor Entsetzen gelähmten Augen…hihihihihihihihihihihi…voll balla balla…eine fliegende Spinne entdecken. Eine fliegende Spinne! Und sie flog voll schnell!
Psychiater: Madame la Marquise belieben zu scherzen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Nein, wirklich, Herr Doktor, ich quatsche hier keine Märchen!!!! Direkt neben mir flog sie senkrecht vom Himmel herab…hahahaha…wie eklig…boooooooaaaaaaaahhhh…wie ich Spinnen haaaaaaaaaaaaaaaaaassssssssssääääääääää mit ihren langen, dünnen, widerlichen Beinen…huhuhuhuhu…stellen Sie sich vor, was ich zuerst dachte.
Psychiater: Du wirst es mit sicher gleich verraten.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hahahahahahahahha…der war echt gut! Aaaaaaaaaaaallllllssssssooooooo…vor lauter Panik dachte ich im ersten Moment, es könnte sich um eine Schwarze Witwe handeln, die Lukas und Lea extra im Park ausgesetzt hatten um mich als lästige Zeugin zu tööööööööö-ööööööööööö…*hicks*…ääääääääääääääääännnnnnnnnnn.
Psychiater: Wie bist du der Gefahr begegnet?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hihihihihiiiiiiiiiiiiiiiii….ich habe mich hingestellt, wie wild…huhuhuhuhuuuuuuuu…. mit beiden Füßen auf den Rasenboden getrampelt sowie dabei laut „Schschschschschschsch-schschschschschschschschschschsch!!!!!“ gezischt.
Psychiater: Ich muss sagen, Mädchen: originell!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hähähähähä…ich wollte ihr dadurch beim Landeanflug ein schweres Erdbeben verbunden mit einem gleichzeitig aus dem Waldstück anrollenden Mega-Tsunami vorgaukeln, damit sie wie von der Tarantel gestochen wieder davonfliegt.
Psychiater: Alessa Marie. Kam es dir zu keinem Zeitptunkt irgendwie in den Sinn, ein kleines, harmloses Spinnchen könnte sich gerade zufälligerweise für sein Netz vom Ast über dir abgeseilt haben?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Muuuuuuuuuuuuuuuuahahahahahahahahahahahaaaaaaaaaaa…nein. Aber wissen Sie was das Schlimmste war?
Psychiater: Oh, der Papierkorb müsste nachher auch mal geleert werden. Näää.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Alles wurde noch viiiiiiieeeeelllll, vvvvvvvvviiiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeelllllllllllll schlimmer! Richtig beängstigend!!!!! Plötzlich lief eine Mutter vorbei und ermahnte ihren kichernden Sohn streng: „Aber Daaaaanieeel, man zeigt doch nicht mit dem Zeigefinger auf andere Menschen! Sonst kommt der Schneider mit der Scher!“
Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: HUUCH…*hicks*…warum hauen Sie denn mit ihrer Faust auf den Schreibtisch?
Psychiater: Dabei habe ich doch in meiner Dissertation über Katharina Rutschkys Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung eindring…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Häääääää?
Psychiater: Daniel muss bei einer derart brutalen Strafankündigung unbeschreibliche Angstzustände bekommen haben. UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Neeeeeeeeeiiiinnnnnn…den Daniel meinte ich doch gar nicht.
Psychiater: Sondern?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Diesen bösen Geist aus dem japanischen Horrorfilm. Als Daniels Mutter das Wort Scher benutzte, lief mir prompt ein eiskalter…*mmmmppfffff*…ich muss aufpassen, dass ich nicht gleich… *mmmmmmmmmmppppppffffffffff*…wieder lospruste… *mmmmppppfff*…Schauer über den Rücken.
Psychiater: Ach?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Der Dämon taucht ja im Film mit einer Schere in der Hand auf. Ihre Bemerkung konnte somit kein Zufall gewesen sein. Traurige Gewissheit überkam mich: Hahahahahaha… Hahahahaha…nau…stehen grässliche Heimsuchungen bevor! Ich will heimrennen, angesichts hereinbrechender apokalyptischer Szenen rechtzeitig im sicheren Keller sein. Jene magische Kraft treibt mich jedoch rücksichtslos zur Rolle als Eremitenanwerberin an. Uuuuuuuuuuuuuuuuuuhuhuhuhuhu…“muuuh“ macht die Kuh.
Ich betrete den ans Karussell grenzenden Waldabschnitt und beginne schlotternd die Suche nach Heiner der Hitzkopf. Was mir auf dem laubbedeckten Weg in Richtung Brücke sofort auffiel, war diese Sti…Sti…hihihihihihihihihihi…le. Ja. Sti…ill…ill…ill war es. Warten Sie, neuer Anlauf…sti…sti…ill…ill..ne, klappt einfach nicht. Nachdem sich vorhin mein Herbstwirbelwind gelegt hatte, musste totaaaaaaaaaaaaaaaaaaale Windsti…hihihihihi…ille…Herr Doktööör, ich leide vermutlich ebenso an Sti…hihihihihihihi…illestörungen…, im…öhm…wo war ich nochmal…jaaaaaaa…richtig…im Wald…eingekehrt sein, denn überall war es mucksmäuschen…hihihihi…Achtung, meine Störung kommt…sti…hihihihihi…lllllllll. Nicht das leiseste Lüftchen.
Heeeeeeeeeeeeeeeeeerrrrrrrrrrrrrrrr Doktor! Ich muss Ihnen jetzt sääääääääääääääääääääääähhhhhhhhhhhrrrrrrr wichtige Dinge anvertrauen!
Psychiater: Bin ganz Ohr!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Mmmmmmuuuuuuuuuuuuuuhhhhhhh!!!!!
Psychiater: Supèrbe!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Plööööööööööööööööötzlich…ein Knacksen hinter mir…DER BÖSE GEIST! Obwohl meine robe à l’anglaise klatschnass am Rücken klebt, beschließe ich, mich trotzdem blitzartig umzudrehen, möchte ihn als lächerliches Pha…hahahahahahahaaaaaaaa…tom entlarven. Dazu muss ich mir erst selber Mut zurufen, schreie schrill: „HEINER????? BIST DUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUU DAS????? KOMM, WIR MÜSSEN DOCH GEMEINSAM ZUR EREMITAGE!!!!!“… *mmmmmmmmmmmmmmpppppppppffffffffffffffffffffffffff*…vergeblich! Ausgerechnet da übergibt sich mein Magen vor lauter Grauen, aaaaaber wie! Oh, mein Gott, Herr Doktor, schnell Bierflasche 2, sonst muss ich hier wirklich mitten auf Ihrer schönen Couch volles Rohr lllloooooooooooooosspruuuuuuu-uuuuuuuuuuu…*mmmmmmmmmmmmmmmmmpppppppppppppppfffffff*… sssssssssten.
Psychiater: Bedien dich, Mädchen! Zum Wohle!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Joooooooooooaaaaaaaaa…immer rein damit!
Psychiater: Guuuuuut…um nochmal auf dein Angstgefühl zurückzukommen… war es konstant? Oder konntest du entlang des Waldweges Veränderungen spüren?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Je mehr ich mich der Brücke näherte desto schliiiiiiiiiiiiiiimmmmmeeeeeettttttrr wurde es. Kurz vor dem Erreichen musste ich sogar erneut brechen. Bäääääääääääääähhh, eklig!
Psychiater: Alessa Marie, pass jetzt bitte gut auf! Was jetzt kommt, ist sehr wichtig! Beantworte meine nächste Frage deshalb absolut ehrlich! Habe keine Angst, du befindest dich in einem geschützten Raum, und ich als dein Therapeut bin bei dir. Alessa Marie, sag mir bitte: Handelt es sich um die gleiche Brücke, auf welcher du am 22. September mit Heiner gekämpft hast?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Exakt.
Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE LEHRER!!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: HUUUUUUCH…*hicks*…jetzt haben Sie ja wieder so fest auf den armen Schreibtisch geschlagen. Geht es um Katharina Rutschky?
Psychiater: Hundertmal!!!! Hundertmal habe ich eindringlich ans Kultusministerium appelliert, dass Die Brücke aus pädagogischen Gründen unter keinen Umständen mehr in Schulen gezeigt werden darf. Und dann hat man sie euch trotzdem präsentiert!!!!!! UNVERANTWORTLICH, DIESE LEHRER!!!!!!!!!! Und das an einer Hanauer Penne, die sich Europaschule schimpft. Aber wartet nur, ab Freunde der Nacht, 2019 bekommt ihr euer Zertifikat nicht mehr verlängert!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Häääääää?
Psychiater: UND MEINE VERZWEIFELTEN PETITIONEN AN DIE FSK, SIE MÖGE DIESEN BLUTIGEN GEWALTSTREIFEN BITTE ENDLICH INDIZIEREN, VERHALLTEN UNGEHÖRT. UNERHÖRT!!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Aber wir haben den Film doch gar ni…
Psychiater: Entsetzlich! Krieg. Soldaten. Tod. Mitten in deutschen Klassenräumen! Allein diese Horrorbilder mit der Panzerfaust, al…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Was reden Sie da nur??? Ich kenne Die Brücke überhaupt nicht! Ehrlich! Ich weiß doch gen…
Psychiater: Ooooh, unschuldige Opfer einer verfehlten Bildungspolitik! Lehrern hilflos ausgeliefert. Das kann nur in Sozialkunde passiert sein. Deine Lehrerin…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Wir haben in Sozi einen Lehrer, na ja, ehrlich gesagt einen Referendar.
Psychiater: Ein Referendaaaaaaar! Da haben wir die Weihnachtsbescherung! Bestimmt von jener Sorte Studenten, die Psychologie im vierten Semester hinschmeißen, weil sie den Statistikschein nicht schaffen und auf Lehramt an Gymnasien umsatteln. Deutsch. Hahaaaaaaaaaaaa. Sozialkunde. Religion. Sport. Damit das Staatsexamen auch ja zu packen ist. Tataaaaaaaaaaaa. Danach fröhlich hereinspaziert ins bequeme Beamtenanwärterverhältnis mit viel Ferien.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Wie kommen sie jetzt auf Psychologie? Er hat doch Jura, Meereskunde, Archäologie sowie danach Maschinenbau abgebrochen.
Psychiater: Unmöglich. Dieser Lump log euch skrupellos an ohne mit der Wimper zu zucken. Fundierte Fachkenntnis muss vorhanden gewesen sein, denn es gibt weltweit nur eine einzige wissenschaftlich anerkannte Methode, Menschen ihre Erinnerungen an traumatisierende Filmerlebnisse zu nehmen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Und die heißt?
Psychiater: Antizipierende Prophylaxe potentieller traumatischer Störungen cum iocis.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Muuuuaaaahahahahhahahaaaaaaaaaaaaa… antiziprofiantillesche…öhm…Störungen? Echt jetzt?
Psychiater: Garantiert hat er euch vor Filmbeginn längere Ausschnitte aus Auf los geht’s los gezeigt und erklärt, es handele sich beim charmant plaudernden Conferencier um den Darsteller des Albert Mutz von 1959. Jene Abfolge heiterer sowie brutaler Sequenzen mit ein und derselben Person bewirkt innerpsychische Neutralisationen des Gedächtnisses, fachlich auch Vollständige Filmamnesie genannt. Joachim Fuchsberger würde sich als Soldat Albert Mutz und Showmaster Blacky im Grab umdrehen, wüsste er, wie sein ruhmvoller Name von einem dahergelauf…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhh!!!!! Gekühlt schmeckt es am besten.
Psychiater: Mein lieber Scholli! Schon wieder alle? Hast du einen Durst!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Süffig, herb, heftig. Aus Liebe zu Offenbach. Offenbach ist echt mega cool.
Psychiater: Wer widerspräche dir da?! Und infolge einer hinterhältig durchgeführten kompletten Filmamnesie könnt ihr euch an keine konkreten Stundeninhalte mehr erinnern. Weder an Auf los geht’s los noch an Die Brücke. Es ist in eurer Wahrnehmung so, als ob die betreffenden Schulstunden ausgefallen wären.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Haaaaaaaaaaaaaaaaa…*hicks*…aaaaaaaaaaaaaallllllllllllllttttttttttttttttttt!!!!!!!! Mir kommt da ein gaaaaaaaaaaaaaaaaaa-aaaannnnnnnnnnzzzzzzzzzzzzzzzzzz wichtiger Eiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnnnnnnnn… *hicks*…wwwwwwwwwwaaaaaaaaaaaaaaaaannnnnnnnnnnnndddddd!!!!!!!!! Eigentlich hätte ja dann auf der Brücke gar keine filmische Erinnerung in mir aufkommen dürfen, wenn angeblich alles neutralisiert wurde.
Psychiater: Brilliant analysiert, Frau Doktor Freud in spe!!!!! Besagte Neutralisationen gelingen tatsächlich nur unter Ausschluss jeglicher Störeffekte. Vermutlich gab es jedoch ausgerechnet beim lustigen Blacky eine Durchsage eures Direktors, weshalb sich die Waagschalen zugunsten des Zweiten Weltkrieges verschoben. Dadurch schossen in dir während eurer Brückenüberquerung flashartig unverarbeitete Kampfszenen aus dem Unterbewusstsein wie Maschinengewehrkugeln hoch. Schlagartig sahst du dich als Schüler Albert Mutz, hattest nun wie er 1945 ein einziges Ziel unerschütterlich vor Augen: die Brücke tapfer gegen die von Heiner der Hitzkopf verkörperten vorrückenden Amerikaner zu verteidigen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Boooooooooo…*hicks*… aaaaaaaaahhhhh… Alda…is jeds nich wahr!
Psychiater: Leider doch. Dank eines inkompetenten Referendars. Aber glaub mir: Noch heute fordere ich das Kultusministerium per E-Mail dazu auf, diesem Cretin unter allen Umständen die Zweite Staatsprüfung zu verweigern. Seine Lehrerkarriere muss unbedingt im Keim erstickt werden. Taugenichtse dürfen niemals in den Schuldienst gelangen!!!!!! Hörst du, Alessa Marie? NIEMALS!!!!!!!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: SCHRECK, LASS NACH!!!!!!!!!!
Psychiater: Entschuldige bitte, aber ich musste einfach wieder mit der Faust auf den Schreibtisch hauen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ne, das doch nicht.
Psychiater: Sondern?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Dann liegt es bestimmt an unverarbeiteten Filmsequenzen, dass ich mich nach dem zweiten Erbrechen vom Grauen überwältigt ächzend und stöhnend auf allen Vieren zunächst über die Brücke schleppte.
Am Napoleonturm rappele ich mich mühselig auf, blicke wie ein Zombie die im gleißenden Sonnenlicht fast unsichtbare obere Turmhälfte an.
Geblendet sacke ich sofort wieder kraftlos runter, sitze zehn Minuten auf dem Weg, um meine schmerzenden Sehorgane zuzuhalten, rutsche vom Napoleonturm aus röchelnd weiter vorwärts, dem circa zweihundert Meter entfernten Bahnübergang entgegen.
Psychiater: Napoleonturm?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Die künstliche Burgruine, von der aus Napoléon Bonaparte 1800 das Vergraben der Cheopspyramide leitete. Bekanntlich befahl er 1798 während seines Ägyptenfeldzugs deren Zerlegung, weil das altehrwürdige Bauwerk vom Wüstenklima bedroht war. Deshalb wurden sämtliche Steine nach Wilhelmsbad transportiert, in einer riesigen Baugrube wieder originalgetreu zusammengesetzt und bis auf die etwas veränderte Spitze zugeschüttet. Kennen Sie diese Geschichte nicht?
Psychiater: Ach, Alessa Marie…jetzt…jetzt wird mir klar, was du eben meintest…es fällt mir wie Schuppen von den Augen…
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sie weinen ja!
Psychiater: Mein Therapeutenherz ist fassungslos…fassungslos…wie in Gottes Namen kann Wiesbaden dermaßen leicht durchschaubare Scharlatane bloß zum Referendariat zulassen? Sieh, was der Herr Lehramtsanwärter angerichtet hat! Deine Identifikation mit Albert Mutz nahm solche Formen an, dass du sogar Szenen imitiert hast, welche im Film gar nicht vorkommen. Ja, auf allen Vieren muss der arme Albert nach dem mörderischen Gefecht als einziger Überlebender verzweifelt heim gekrochen sein. Zu seiner Mama. Alleine. Kriegstraumatisiert. Zerstört. Fertig. Und um das überhaupt in einigermaßen erträgliches Leid umwandeln zu können, hast du den Schrecken an der Westfront 1945 gegen für uns inzwischen recht ferne Bilder von Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 ersetzt, über den euch zuvor mal euer Geschichtslehrer erzählte.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Wooooww, es ist echt unglaublich, Sie sind wirklich ein Genie! Jetzt verstehe ich endlich, warum Patienten bei Ihnen ewig für einen Termin brauchen.
Psychiater: *räusper*
Marquise de Hanau-Münzenberg: Beim elenden Dahinkriechen rufe ich pausenlos: „Heeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiinnnneeeeeerrrrrrrr!!!!!“ Zugleich versuche ich abermals mühsam aufzustehen, um dem meinen Körper niederpressenden Horror zu entrinnen. Vergebens. Der böse Geist folgt mir unerbittlich. Im mit zentnerschweren Gewichten beladenen Nacken wird die scharfe Scherenklinge spürbar. Jederzeit kann mein Kopf ab sein! Herr Doktor, was diese japanische Stadt im Film durchmacht, war Pillepalle dagegen. Irgendwann taucht die rettende Seite hinter dem Bahnübergang auf. Jenseits der Gleise fühle ich mich augenblicklich sicher wie in Abrahams Schoß.
Psychiater: Und warum, wenn ich fragen darf?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Weil die Schranken erwartungsgemäß rascher herunter gingen als vom ortsunkundigen Dämon eingeschätzt. Der kennt sich ja nur in Japan aus. Halbtot lege ich mit letzter Kraft einen für ihn völlig überraschenden Schlussspurt über die Schienen hin. Ehe der böse Geist reagieren kann, muss er ausgetrickst warten. Perfekte Fluchtgelegenheit! Schlagartig kehrt das pralle Leben zurück. Auf zur Marienkirche, damit die Pfarrerin Sturm läutet. Dann weiter zur Polizei. Alle Kinder weg von Straßen und Spielplätzen!!!!! Doch kaum will ich losrennen, wird ein stärker werdendes, unheimliches Grollen hörbar.
Psychiater: Ein langer Güterzug, tippe ich.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Dachte ich natürlich auch zuerst, bin ja nicht doof. „Dieses Rumoren kennst du!“, dämmert es mir dann jedoch. Tokio Narita 2013. Als während des Wartens am Passschalter der Boden vibrierte. So wie bei einem über ihn donnernden Lastwagen. DAS ERDBEBEN!!!!! DIE VORANKÜNDIGUNG!!!!! ZU SPÄT!!!!! HANAUS KINDER VERLOREN!!!!! Unter mir dröhnt der Bürgersteig, und eine tektonische Geisterbahnfahrt beginnt. Herr Doktor, das waren 9 Punkte auf der Richterskala. Mindestens. Alles schwankt. Warten Sie, ich stehe auf und zeig’s Ihnen…uuuuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhhh… mein Kopf…alles dreht sich…uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhhh…Hiiiiiiiiiii-iiiiiiiiiiiiiiiilllllllllffffffffffffeeeeeeeeeeeee…uuuuuuuuuuuuuppsssss…uufffff…jetzt liege ich wieder auf der Couch. Hihihihihihihihiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii…Mensch, Herr Doktor, bin gerade 16 geworden und trinke erstmals Alkohol.
Psychiater: Einmal ist immer das erste Mal.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Muuuuuuuuuuuuuuuuuuaaaaaaahahaha-hahahaaaaaaaaaaaaaaahahahahahahaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa…genau, Herr Doktor, wie beim S*x…huhuhuhuhuhuuuuuuuuuuuuuuuu…ich kann bald nicht mehr, meine Äuglein tränen.
Psychiater: Taschentuch?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Huhuhuhu…*mmmmmmpppfffff*…gleich drei, bitte!
Psychiater: Schwankende Gefühle an Bahnübergängen lassen sich allerdings genauso gut auf einen unausgeglichenen städtischen Finanzhaushalt zurückführen. Meine unter Erdbebenpsychosen leidenden Klienten berichten einstimmig, dass sie als Fußgänger permanent heftigen Beben ausgesetzt sind. Du weißt, Alessa Marie, Hanau plant keine Geldmittel für Straßen und Bürgersteige ein. 80% des Jahresetats fließen allein in diese grunddummen Märchenspiele. Folglich stolpern die Armen überall versehentlich über nicht ausgebesserte Schlaglöcher, erleben quasi unentwegt ein in seiner Stärke bis dahin noch nie gemessenes kalifornisches Superbeben mit, brüllen herum: „Der ‚San Andreas Graben‘ bricht auf!!!!! Der ‚San Andreas Graben‘ bricht auf!!!!!“. Abreißen müsste man die Freiluftbühne! Abreißen! Unser feiner Herr Oberbürgermeister stellt sich in seinen Sprechstunden ordentlich taub, was sonst. Weiß von nichts. Alles super in Hanau. Wenn man mich überhaupt noch zu ihm ins Büro hereinlässt. Weißt du, Alessa Marie, seit 2014 flehe ich ihn…
Marquise de Hanau-Münzenberg: HÖREN SIE, ICH HABE ABER KEINE ERDBEBENPSYCHOSE!!!!! Dieser heranrasende Güterzug vibrierte sooooo stark, dass selbst das DB-Logo seitlich auf der Lok unklar verschwamm. Die Naturgewalten schienen ihn jede Sekunde wie Spielzeug aus den Schienen reißen zu wollen. „DIE NOTBREMSE! DIE NOOOOOOTBREEEEEEEEEEEEMMM-MMMSEEEEEEEEEEEEE!!!!!!!!!“, brülle ich, doch infolge heftiger Stöße aus unendlichen Tiefen schlingerte er bereits. Durch die schier unglaubliche Wucht neigt sich der erste Waggon seitlich nach links. Der nahe Oberleitungsmast droht gefährlich vornüber zu kippen. Gleichzeitig werden das Warnsignal samt dieser Stange gegen die Schranke gehoben.
„Duuuu, Maaaaammmiiiiii, schau, das ist doch das doofe Mädchen von eben!!!!!“, erklingt da eine bekannte Kinderstimme hinter mir. Ich drehe mich um. Daniels Mutter schaut mich total entgeistert an. Keine Zeit verlieren, jede Sekunde rettet kostbare Menschenleben. „EIN ERDBEBEN!!!!!! WEG DA, FORT, BEISEITE, EHE DER UMSTÜRZENDE OBERLEITUNGSMASTEN VOM ZUG FORTGESCHLEUDERT WIRD UND UNS DREI ERSCHLÄGT!!!!!!!!“ Außer dämlichem Glotzen null körperliche Reaktion. Wie zur Salzsäule erstarrt.
Psychiater: Vermutlich befanden sich die beiden gerade auf dem Rückweg von ihrem Spaziergang, hatten zuvor abschließend noch gemütlich das Herbert-Dröse-Stadion umrundet, als sie am Bahnübergang ahnungslos ins jähe Verderben liefen. Tragisch. Wer rechnet schon in Wilhelmsbad mit Erdbeben? Sie hat nicht dämlich geglotzt, Alessa Marie, vielmehr sahst du in vor Todesangst aufgerissene Augen, eine Fehlinterpretation deinerseits. Passiert bei aus heiterem Himmel hereinbrechenden Naturkatastrophen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ach, Herr Doktor, wieder mal Ihr unübertreffliches Wissen. „EY, KAPIEREN SIE’S NICHT?“, versuche ich die Frau an beiden Schultern kräftig wachzurütteln. „DER BÖSE GEIST AUS DEM FILM ERSCHEINT GLEICH!!!!! ER WIRD DANIEL UND VIELE ANDERE HANAUER KINDER MIT EINER SCHERE ENTFÜHREN!!!!! WIR MÜSSEN FLIEHEN, BEVOR DIE SCHRANKEN HOCHGEHEN. JETZT!!!!! SOLANGE ZEIT DAFÜR BLEIBT!!!!! NOCH STEHT ER UNFREIWILLIG WARTEND DRÜBEN!!!!! NOCH!!!!!“
Psychiater: Sicherlich hat sie dir nach erfolgreich geglückter Flucht für deinen selbstlosen Einsatz ein leckeres Eis spendiert.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Von wegen! Als das Grollen, dem Himmel sei ewiglich Dank, allmählich verstummt und sich die Erde beruhigt, tickt sie aus: „HAST DU’N KNALL??????? DU BIST DOCH NICHT MEHR GANZ DICHT!!!!!!!“ Das lässt sich eine Marquise nicht bieten. „ICH HAB GAR KEINEN KNALL, SIIIIIIEEEE!!!!!!“, kommt von mir postwendend die Retourkutsche; gerade als aus der Gegenrichtung ein ICE anrauscht.
„DIESES EINGERÜSTETE GEBÄUDE LINKS GEGENÜBER, AN DEM REPARIEREN SIE IMMER NOCH SCHÄDEN VOM LETZTEN VERHEERENDEN ERDBEBEN. UND NEBEN DEN SCHIENEN DA LIEGEN SCHRANKENSTÜCKE IM GRAS. DURCH DIE ERSCHÜTTERUNGEN MUSS DAMALS DIE HOCHEMPFINDLICHE AUTOMATISCHE SCHLIESSUNG BLOCKIERT GEWESEN SEIN, WESHALB IRGENDEIN ZUG MIT HOHER GESCHWINDIGKEIT DEN VOLL AUF IHN KRACHENDEN OBERLEITUNGSMASTEN BEISEITE RISS, WELCHER WIEDERUM DIE GEÖFFNETE SCHRANKE SO HEFTIG TRAF, DASS IHRE EINZELTEILE IN HOHEM BOGEN METERWEIT WEGFLOGEN!!!!! UND DANN PFLAUMEN SIE MICH AN, WEIL ICH IHR LEBEN RETTEN WILL????? WOHL IN NIPPON NOCH KEIN WACKELNDES HOTELZIMMER ERLEBT, WAS?????“
Psychiater: Nimm’s sportlich. Undank ist der Weltenlohn.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ich sag’s Ihnen, Herr Doktor, Leute gibt’s, das ist nicht zu glauben. Wird die Olle doch glatt wieder ausfallend: „SCHREI MICH GEFÄLLIGST NICHT AN, DU HYSTERISCHES DING!!!!!!!!!! SOWAS WIE DICH SOLLTE MAN AM BESTEN GLEICH IN DIE KLAPSMÜHLE EINLIEFERN!!!!!!!!!!“
Psychiater: Alessa Marie, derart unverfrorene Unverschämtheiten darfst du dir als religionsmündige Heranwachsende von Erwachsenen niemals bieten lassen!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Keine Sorge. Man sieht sich immer dreimal im Leben. Während sich ein weiterer Güterzug nähert, tobe ich zurück:
„ABER NUR MIT IHNEN!!!!! SIE HABEN WOHL ALS SCHÜLERIN GEOMETRIE KOMPLETT GESCHWÄNZT!!!!! DER OBERLEITUNGSMAST, DAS WARNSIGNAL, DIE STANGE, ALLE DREI STEHEN UNÜBERSEHBAR IM SCHIEFEN WINKEL!!!!! JETZT FRAG ICH SIE, WOHER DER SONST HERRÜHREN SOLL – VOM ERDMAGNETFELD????? ALSO VORHER DIE GLUBSCHER BESSER AUFSPERREN STATT UNWISSEND HERUMZUQUATSCHEN!!!!! ODER SCHLEUNIGST BEIM AUGENARZT ANRUFEN!!!!! SIE ZIMTZICKE, SIE!!!!!“
Psychiater: Na, dieser Schachtel hast du’s aber gezeigt!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Und gleich noch einen draufgesetzt.
Psychiater: Spann mich nicht auf die Folter.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Mittlerweile dürfen Fahrzeuge, Radfahrer, Fußgänger normal passieren. Immer noch auf 180 schieße ich über die Straße, setze vor der offenen Schranke den Anschauungsunterricht fort.
„IN DIESER POSITION STAND DIE DEFEKTE SCHRANKE, ALS DER OBERLEITUNGSMAST VOLLE KANNE DAGEGEN SCHMETTERTE!!!!! EXAKT SOOOOO!!!!! SCHNALLEN SIE JETZT, WAS ICH MEINE? ODER RED ICH CHINESISCH?????“
Psychiater: Congratulations, Alessa Marie! Congratulations! Solltest du im vierten Semester erkennen, dass Psychologie doch nichts für dich ist, sattele um auf Lehramt an Gymnasien. Du bist d i e geborene Pädagogin: Wissensvermittlung, Durchsetzungsfähigkeit, Exkursionen. Deine Klassen werden dich dafür lieben. Nimm Deutsch, Religion, Sozialkunde, Sport, alles einfache Fächer für die Erste Staatsprüfung. Und dann fröhlich hereinspaziert ins bequeme Beamtenanwärterverhältnis mit viel Ferien.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ach…vergessen Sie’s!
Psychiater: Wie?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Mir wurde überhaupt nicht zugehört. Zu ihrem fingerzeigenden Sohn gewandt raste die Mutter vor Zorn. „DANIEL!!!!! DU WEISST DOCH, WAS ICH DIR GESAGT HABE: DER FLINKE SCHNEIDER MIT DER SCHER IST IMMER IN DER NÄHE UNGEHORSAMER KINDER. WILLST DU DAS WIRKLICH????? SOLL ICH IHN HERBEIRUFEN?????“
Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!! ABER WESHALB REGE ICH MICH EIGENTLICH AUF????? WAS KANNST DU SCHON GROSS VON JUNGEN RAFFINIERTEN GOLDDIGGERINNEN ERWARTEN, DIE AUF IHREM KLASSENSITZ LIEBER NEUE BETÖRENDE FLIRTMETHODEN AUSHECKEN????? SICH MÖGLICHST FRÜH AN NEN KERL MIT REICHEM DADDY RANWERFEN!!!!! ARMER DANIEL, SAGE ICH NUR!!!!! EINE GOLDGRÄBERIN ALS MUTTER!!!!! ARMER DANIEL!!!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: HUUUUCH…*hicks*…zehnmal. Ihr schöner Schreibtisch.
Psychiater: Darum: Fort mit den Gebrüder Grimm Märchen!!!!! Ab in die Mülltonne mit dem Schund!!!!!! Morgen droht diese pädagogische Rabenmutter damit, dass ihn Hänsel und Gretel zur Hexe in den glutheißen Backofen stecken. Bestimmt hat das seelisch längst gebrochene Bübchen weinend Besserung gelobt.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Daniel? Ganz im Gegenteil. Wie ein billiger Vorgartenzwerg plustert er sich auf. „Du, Mami“, tönt es naseweis von unten nach oben, „wenn der Schneider kommt, sag ihm, dass er dem Mädchen ein groooooooooooooßes Loch schneiden soll. Das hat nämlich voll in Hose gemacht. Guck mal daaaaaaaa, am Poooooooo! Und daaaaaaaa: Riiiiieeeeesenlöcher an den Knien! Du, die bettelt bestimmt hier am Bahnhof rum!!!!!“ Sofort fasse ich hinten hin. OH. MY. GOD! Tatsache. Kann gar nicht sein. Ich war…*mmmmmppppffffff*… doch heute schon. Die Aufregung halt. Und vorne der zerrissene teure Kleiderstoff – wodurch nur? Mit kreischendem… *mmmmmmmmmmmmmmpppppppppffffffffffffffff*…nein… bitte…nicht wieder loslachen… „IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHHHHHHHHH!!!!!!!“ flüchte ich knallrot auf der kleinen Fahrstraße zwischen Bahnhof und Herbert-Dröse-Stadion, während…*mmmmmm-mmmmmmmmmmmmmmpppppppppffffffffff*…mein Bauch, Herr Doktor, mein Bauch…huhuhuhuhuhuhuhuhuhuhuhuhuhuhuhu… *mmmmmmmmmmmmmmmmmmppppppppfffffff*…was für ein bekloppter Dreikäsehoch…die…muuuuuuuuuuuuuuuuhahahahahahahahahahahahahahahaaaaaaaaaaaaa…Golddiggerin keift: „DAFÜR KOMMT MORGEN SCHNEEWITTCHEN UND LÄSST DICH AUF GLÜHENDEN EISENPANTOFFELN TANZEN. DAMIT DU BESCHEID WEISST, DANIEL!!!!!!!!“
Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!! AB IN DIE MÜLLTONNE MIT DEM GRIMM’SCHEN SCHUND!!!!! UND DIE MÄRCHEN VON HANS CHRISTIAN ANDERSEN GLEICH MIT DAZU!!!!!
Marquise de Hanau-Münzenberg: HUUUUUCH…*hicks*…zwanzigmal. Rekord. Irgendwann erspähe ich rettendes Gebüsch, schlage mich bis auf die Knochen blamiert hinein, rufe Lena Sophie, meine Kammerzofe, an. Doch als sie per Kutsche mit einer frischen robe d’anglaise herbeidüst, stellen wir erleichtert fest: Jener verdächtige Schmutz stammt bloß vom Hinsetzen am Napoleonturm, die Löcher entstanden logischerweise durchs Vorwärtsrobben.
Psychiater: Die Aufregung halt. Alessa Marie…ich schaue eben auf die Uhr und sehe, deine Sitzungseinheit ist vorbei.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Neeeeeeee…schon rum?
Psychiater: Ja. Und konkret diese heutige, aus reiner Kulanz gewährte Therapiestunde bestärkt mich in der Annahme als ausgewiesener Spezialist, dass du ein vollkommen normales Mädchen bist.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Aber meine Ängste? Ich bin doch grausam verhext!
Psychiater: Doch deswegen noch lange keine Hexe. Merke: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ich verstehe Sie nicht.
Psychiater: Besonders deine herzhaften, unbeschwerten Lachanfälle zeigen mir, wie ausgeprägt du das Leben mit einem Schmunzeln im Gesicht betrachtest. Wie Büttenredner im närrischen Karneval. Wer angesichts früherer Schreckenserlebnisse schallend zu lachen vermag zeigt: Er kann alles im Leben mit Humor ertragen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Hm…das erinnert mich an die Schlussworte vom legendären Et Botterblömche bei seinen Auftritten. An ihm studierte ich übrigens meine eigene Rede für Unsere dieses Jahr zum allerersten Mal stattfindende Hoffastnacht.
Psychiater: Siehst du? Genau darauf will ich hinaus. Das Leben ist der Inhalt lustiger Büttenreden, nichts weiter. Oder anders ausgedrückt: Hanau Helau!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Parfait, Monsieur le docteur, dann kann ich ja beruhigt gehen.
Psychiater: Wenn noch was sein sollte, kannst du mich jederzeit spontan anrufen. Ansonsten wünsche ich dir alles Gute…und vor allem viel Erfolg bei den blaublütigen Jungs. Wird schon irgendwann der milliardenschwere Traumprinz mit inneren Werten dabei sein.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Mmmmmmmmuuuuuuaaaaaaaaaaaaaa-aaaaaaaaahahahahahaaaaaaaaaaahahahaahaaaaaaaaaaaaaaaaaa!!!!!!! Vielen, vielen Dank, Herr Doktor! Auf Wiedersehen! Danke! Huhuhuhuuuuuuuuuuu!!!!
Psychiater: Nichts zu danken, gern geschehen. Auf Wiedersehen, Alessa Marie.
Sprechstundenhilfe: Stopp, das junge Fräulein lässt sich hier nicht von seiner allerbesten Freundin das Gesicht weiß pudern!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Das ist nicht meine allerbeste Freundin, nur damit Sie Bescheid wissen! Das ist meine Kammerzofe Lena Sophie! Stimmt’s, Lena Sophie?
Kammerzofe Lena Sophie: Stets zu Euren Diensten allergnädigste Herrin.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Sehen Sie? Lena Sophie soll mir lediglich den blassen Teint nachbessern, bewege mich als Dame von Stand grundsätzlich nur modisch gepflegt. Pudere bitte weiter, Lena Sophie!
Kammerzofe Lena Sophie: Wie Madame wünschen.
Sprechstundenhilfe: Hört ihr schlecht? Wie oft soll ich’s euch noch sagen: Es wird in unserer Praxis NICHT GEPUDERT! Wie das schon überall aussieht! Und ich darf das ganze Zeug wegwischen!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Ist ja schoooooooooon guuuuuuuuuut! Dann eben im Treppenhaus.
Sprechstundenhilfe: Bekommst du einen neuen Termin?
Marquise de Hanau-Münzenberg: Nein, der Doktor meint, ich sei vollständig in Ordnung.
Sprechstundenhilfe: Was der Chef sagt stimmt immer. Er ist wahrhaftig eine begnadete Koryphäe auf seinem Gebiet, besitzt seinen exzellenten, bis nach Belgien reichenden Ruf nicht umsonst. Und noch was: Bitte, Alessa Marie, lass das erbärmliche Trinken, du bist total beschwipst, Lena Sophie muss dich schon stützen. Besitzt du keinen Funken Anstand? Alkohol ist nichts für Mädchen.
Marquise de Hanau-Münzenberg: Oooooooooooooooooohhhhh…*hicks*… Siiiiieeeee…Siiiiieeeee!!!!!
Sprechstundenhilfe: UND KNALL GEFÄLLIGST NICHT DIE TÜR HINTER DIR ZU!!!!!!!! Unmöglich, diese heutige junge Frauengeneration. Läuft angezogen rum wie vor 250 Jahren, spielt Adlige und Dienerin, die eine trinkt dazu und kennt kein Benehmen!
Marquise de Hanau-Münzenberg: Häää, was laberte sie da noch? Egal, wegen diesem Deppen habe ich wieder nur wertvolle Zeit verloren. Schnell heim ins Schloss, das Plakat basteln, die Karussellpferde warten schon.
Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 2 Das Blutgold von El Lago
Erzählrunde 1
Geschichtsbücher berichten uns folgende Ereignisse: Als am 13. August 1521 das einst präch-tige Tenochtitlán, Hauptstadt des Aztekenreiches, nach schweren Kämpfen fiel, geriet dessen letzter König Cuauhtémoc auf der Flucht in spanische Gefangenschaft. Anfänglich von Hernan Cortés ehrenvoll behandelt sowie auch weiterhin aztekischer Herrscher genannt, revidierte dieser allerdings bald seine Meinung. Er ließ ihn foltern, um auf diese Weise an Informationen über den Verbleib jener Reichtümer zu gelangen, welche in der Noche Triste, als die Spanier nur knapp entkamen und dabei viele Männer verloren, abhanden gekommen waren.
Soweit das Offizielle. Was die Annalen jedoch nicht erzählen sind diverse mündliche Informa-tionen, welche sich seit Cuauhtémocs gewaltsamen Tod 1524 im heutigen Honduras rasch un-ter den Azteken verbreiteten. Demanch bekam des Regenten treuer Diener von diesem 1521 nach überstandener Tortur ein winziges Stückchen Gold, benetzt mit einem von seinen großen Martern herrührenden Blutstropfen zum Geschenk sowie ewigen Andenken – aber gleichzeitig auch als Fluch für alljene, welche es zu Gesicht bekommen, bevor Cortés‘ Eroberungen ge-rächt, die Eindringlinge vertrieben sind, und das Aztekenvolk wieder zum rechtmäßigen Besit-zer des Reiches erhoben wird.
Besagtes Vermächtnis sei vom Getreuen zunächst sicherheitshalber in einem tiefen Kellerge-wölbe vergraben worden, einen baldigen Sieg gegen Spaniens Konquistadoren erhoffend. Die Illusion verflog, weshalb er den Reliquiengegenstand am ausgewählten Ort beließ. Infolge der Neuerrichtung Tenochtitláns unter anderem Namen geriet dessen Lage aber alsbald schon in Vergessenheit, nicht jedoch die mit dem Blutgold verbundenen Botschaften.
Erst 1944 gelang Archäologen bei Routinegrabungen rein zufällig die spektakuläre Wiederent-deckung des alten Verstecks. Nach langen Überlegungen kam Méxicos Regierung schließlich überein, diesen Sensationsfund von wahrhaft nationaler Bedeutung in Münzform umzugießen. Und so ließ man im darauffolgenden Jahr daraus eine kleine Goldmünze, Nennwert 2 Pesos, prägen, wobei Cuauhtémocs wundersam erhaltener Blutstropfen ins flüssige Edelmetall ver-mengt wurde.
Umso mehr erschraken daher sämtliche Qualitätsprüfer während ihrer Begutachtungen des Resultates darüber, dass sich das Blut, über dessen unglaublich guten Erhaltungszustand (als ob es gerade eben erst vergossen wurde) Mediziner ohnehin nur ungläubig staunten, aus un-erklärlichem Grund partout nicht mit dem Gold hatte mischen wollen. War doch auf der Vor-derseite auch noch im strahlendsten Sonnenlicht links neben dem M unterhalb des Lorbeer-zweiges exakt dieselbe Form jenes Tropfens, nur jetzt in veränderter Farbgebung, gleichsam einer leicht oxidierten Oberflächenstelle eindeutig erkennbar.
Sogar die fortschrittsgläubigsten, Wunderzeichen grundsätzlich negierenden Wissenschafts-rationalisten im Raum erkärten verlegen, irgendetwas, irgendein wahrer Kern müsse schein-bar dran sein am Mythos. Doch damit nicht genug. Als sie staunend mit dem Begutachten des Goldpesos fortfuhren, stellte plötzlich ein nach dem anderen entsetzt aufschreiend fest: Egal ob er nun normalsichtig oder Brillenträger war, egal wie nah oder weit das Objekt gehalten wurde, es verschwamm derart unscharf, dass bei Sehtestergebnissen dieser Kategorie jeder Augenarzt, jeder Optiker wohl Grund genug hätte, um die betreffende Person besorgt zu sein.
Selbst Fräulein Martinez, unter ihnen das beste Sehvermögen überhaupt besitzend, gestand ratlos, trotz Einsatz des neu angeschafften Speziallupengerätes modernster Fabrikation kön-ne man die „5“ rein theoretisch ebenso gut für eine schlecht geratene „3“ halten.
Cuauhtémocs Blutfleck jedoch, die „Oxidation“, blieb für unsere aus unerklärlichen Gründen an einer besonders schweren Form akut auftretende Kurzsichtigkeit leidenden Angestellten ein-prägsam sichtbar, mochte deren Dioptrienzahl auch in Richtung unendlich gehen. Mehr noch: Je höher sie anscheindend lag desto unübersehbarer zeichnete er sich dem Betreffenden ge-genüber ab.
Da im Zustand allgemeiner Verzweiflung eilig herbeigerufene Priester umliegender Pfarreien beim Blick auf das Goldstück nun aber genau demselben Phänomen unterlagen, munkelten abergläubische Mitarbeiter ängstlich, eben weil es sich bei der neuen Münze eigentlich um al-tes Blutgold handele, wäre sie 1521 von Tenochtitláns letztem Herrscher automatisch mitver-flucht worden. So dauerte es – wie bei aufkommendem Gerede meistens üblich – nicht lange, bis quer durch ganz México wirreste Gerüchte umgingen, der in jener Noche Triste größten-teils verloren gegangene Aztekenschatz sei durch göttlicher Fügung endlich aufgetaucht. Je-den Augenblick käme Cuauhtémoc zornig vom Himmel herab, versammele zwischen Ciudad Juarez und Mérida gewaltige Heerscharen, um mit einer Armada, gigantischer als 1588, zur Rächung kolonialen Unrechts nach Spanien zu segeln. Und Personen, welche die Dos Pesos in ihren Besitz bringen wollen, bei diesem Vorhaben allerdings scheitern, werde schwarzes Pech mit klebrigen Händen bis ans Lebensende verfolgen.
Geschichtskenner verwundert es daher kaum, dass México angesichts einschneidender Ge-schehnisse des Jahres 1945 derartige Spekulationen politisch wirklich alles andere als gele- gen kamen.
Damit nicht erneut ein Größenwahnsinniger auftreten, angestachelt durch gelungene Inbesitz-nahme königlich aztekischen Edelmetalls frenetisch jubelnde Massen begeistern, eventuell sogar einen Dritten Weltkrieg anzetteln konnte, beschloss das Regierungskabinett einstim-mig, die Dos Pesos, geschätzter Sammlerwert rund 1.000.000$, schnellstmöglich dezent au-ßer Landes an einen streng geheimen Ort zu bringen.
Um Spuren geschickt zu verwischen, legte man falsche Fährten aus. Demzufolge hatten vier Gangsterprofis die Cuauhtémoca im Auftrag mehrerer nach Südamerika entkommener Nazis bei hellichtem Tag aus der staatlichen Münzpräge gestohlen. Auf ihrem abenteuerlichen Weg von Ciudad de México nach Buenos Aires wurden sie in Nicaragua nahe Catarina verhaftet. Glücklicherweise hatte Boss Ramón das glühend heiß gewordene Beutestück wohlweislich bereits schon vormittags per rekordverdächtigem Weitwurf dem riesigen, sich um diese frü-hen Stunden gerne leicht dunstig zeigenden Kratersee Laguna de Apoyo anvertraut, weshalb das Quartett wegen Beweismangels binnen zehn Minuten wieder freikam. Und die unheimli-che Caldera gibt ihr Wissen akribischen Suchanstrengungen zum Trotz niemandem preis.
Parallel dazu kursierte folgender, etwas abweichender Bericht. Schenken wir Gerücht 2 Glau-ben, schafften es die Männer an Catarina vorbei bis zur Grenze nach Costa Rica. Dort von wei-tem mit einem aus Polizei und Militär bestehenden Begrüßungskomitee konfrontiert, riet Ra-món von jeglichen Einreiseversuchen ab. Stattdessen wendete er hurtig den Wagen, worauf sie zwecks rascher Diebesgutentsorgung zum nahen Lago de Nicaragua fuhren.
Hier teilt sich die Erzählung wiederum in zwei Variationen auf. Während Version 2.1 Gold su-chenden Glücksrittern glaubwürdig versichert, sie müssten die Cuauhtémoca tief im Ufersand des unendlich weiten Gestades suchen, behauptet Variante 2.2 felsenfest, deren Lage befinde sich knapp einen Meter unterhalb des seichten Bodens im Brandungsbereich. Irgendwo halt.
In jüngster Vergangenheit erhielt speziell Version 2 neuen Auftrieb. 1999 kamen erstmals Plä-ne ans Tageslicht, dass Nicaragua einen zweiten, El gran canal genannten Durchstich als Kon-kurrenz zum Panamakanal beabsichtigt. Zahllose Verschwörungstheoretiker mutmaßen seit-her, hinter Managuas Mammutprojekt stünden in Wahrheit Absichten, mit Hilfe chinesischer Investoren unter dem Tarnmantel offizieller Kanalbauarbeiten das inzwischen Blaue Mauriti- us der Numismatik genannte Objekt zu finden.
Entsprächen doch die favorisierten Fahrrinnen exakt DEN möglichen Fundortbereichen, wel-che Ramón 1991 gegenüber zwei australischen Abenteurern nur als vage Zonen beschreiben konnte, weil sich ihnen damals bereits beim Hinausschieben des am Strand entwendeten Ru-derbootes der dunstverhangene Ometepe als Orientierung spendende Landmarke verweiger-te. Unter herzzerreißenden Tränen, so der rüstige Senior, hätten sie Arm in Arm hilflos zuge-sehen, wie Cuauhtémocs Blutgold zu ihrer eigenen Sicherheit en alguna parte unwiderruflich im See versank.
Konservative Gegner dieser dritten Hypothese widersprechen hingegen vehement, argwöhnen darin eine raffinierte Finte eigensüchtiger Zunftgenossen. Schwarze Schafe wollten lediglich an den Stränden buddelnde aufrichtige Kollegen „fünf Minuten vor zwölf“ in schaukelnden, hastig gezimmerten Nussschalen aufs offene Wasser locken. Ometepe hin oder her.
Wie dem auch sein mag, Tatsache ist jedenfalls, dass 1945 auf einer eigens dafür einberaum-ten Kabinettssonderssitzung leidenschaftlich, heftig und kontrovers debattiert wurde, wohin jene unheilvolle Goldprägung zur Erhaltung des gerade errungenen Welfriedens am besten verfrachtet werden könnte. Schließlich machten zwei Minister den Vorschlag, das loszuwer- dende Kulturgut nach Costa Rica zu bringen. Ein dort als Pfarrer tätiger Freund hätte sich te-lefonisch bereiterklärt, die gefährliche Cuauhtémoca in seiner Kirche für ewige Zeiten aufzu-bewahren.
Ihr Vorschlag fand begeisterte Zustimmung, so erleichert, so unendlich froh waren sie, das politische Problem nun endlich vom Tisch zu haben. Auf diese Weise gelangte die Cuauhtémo-ca ins mittelamarikanische Liberia, wo man im Fußboden des Kirchengebäudes von Ermita de la Agonía ein größeres Loch ausschachtete, mit Beton auskleidete, die Münze in einer ver-plompten Schatulle hineinlegte, es randvoll mit Zement füllte sowie anschließend den zuvor beiseitegeräumten Steinplattenbelag wieder ordnungsgemäß darüberlegte.
Als ausdrückliches Zeichen jedoch, dass México unbestrittener Souverän dieses Schatzes ist, erhielt seine Botschafter feierlichst der Kirchenschlüssel zum per bilateralem Abkommen als exterritioriales Staatsgebiet ausgehandelten Sakralbau überreicht. Ausschließlich er und sei-ne diplomatischen Nachfolger besitzen laut Vertrag für Ermita de la Agonía das Zutrittsrecht, weshalb die schwere massive Holztür aufgrund strikter Nichtwahrnehmung des Pivilegs über siebzig Jahre verschlossen blieb. Potentiellen, möglicherweise geschickt als harmlose, spa-nischunkundige Reisende getarnten Goldsuchern war somit kein einziger, kein noch so gerin-ger Schürfkratzer vergönnt.
Infolge diverser Indiskretionen, häufig Begleiterscheinungen diskret durchgeführter Aktionen, sickerten im Lauf der Zeit gewisse Details durch. Doch anders als bei den lancierten Gerüch-ten fand – Ironie der Geschichte – ausgerechnet die Wahrheit keinen Eingang ins Herz des in-ternationalen Glückrittertums. Zu abwegig, zu unglaubwürdig, zu albern, zu unseriös, zu lä-cherlich, zu konstruiert, zu sehr an den Haaren herbeigezogen, eben einen Tick zu verschwö-rungstheoreretisch abstrus erschien es, Schätze solcher Größenordnungen könnten ernsthaft in Costa Ricas Ciudad Blanca, welche außer ihren typischen, puertas del sol genannten Son-nentüren, ok, sowie dem Museo Ecológico del Sabanero, nichts wirklich Sehenswertes bietet, exterritorial verborgen sein.
Lediglich über Liberias Plätze, durch seine Straßen und Gassen, weht heutzutage noch leises, aufgeregtes Geflüster echter Ortsansässiger, vor langer Zeit einmal, weit vor Ankunft der Spa-nier, hätte glänzendes aztekisches Liebesgold den weiten Weg von Tenochtitlán als teueres Brautgeschenk für eine wunderschöne Prinzessin seinen Weg hierher nach Guanacaste ge-funden. Jeder einheimische Mann, jede einheimische Frau, jedes einheimische Kind kennt die- se von Generation zu Generation mündlich tradierte Romanze über erfülltes Glück, verbunden mit strengsten Auflagen, sie niemals, wirklich niemals irgendwelchen Reisenden, Zugezoge-nen oder anderen dahergelaufenen Fremden weiterzuerzählen.
Doch manchmal, ja, manchmal steigen selbst wohlgehütetste lokale Mythen gen Himmel auf, wenn etwa exotische Tiere, sagen wir zum Beispiel Tukane mit ihren neugierigen, spitzen, al-les erdenkliche wissen wollenden Gehörgängen, ausgerechnet in dem Moment Liberia über-fliegen, wenn Klatschexpertin Mama Conchita Nachbarstochter Dolores tratschend berichtet, Kartenlegerin Rosa Famosa hätte zuvor in Puntarenas geweissagt, nächste Woche käme des Mädchens heißersehnter reicher Texaner als Pauschaltourist ins Land gereist. Und sobald beider scheue Blicke sich direkt vor Ermita de la Agoniá errötend träfen, springe lauten Getö-ses deren Portal lauf, worauf Dolores im Inneren jenes legendäre El Dorado fände, das Gott bisher keine Menschenseele sehen ließ.
Genau dieser schier unfassbare Lottojackpot, von Rosa Famosas beruflich stark strapazierter Tarotkarte L’Amoureux prophezeit, genau dieses eine naive Siebzehnjährige verrückt machen-de Orakel schnappte nun ein in Richtung Nordgrenze flatternder, arglose Touristen ausrauben wollender Tukan interessiert auf, den Lateinamerika vom Rio Grande bis Patagonien bis heute furchtsam zitternd El Desperado nennt, in ganz besonders berüchtigten Stadtteilen sogar bis-weilen so wie ihn seine räuberischen Spießgesellen ehrfurchtsvoll rufen: El Diablo.
Besagter Gesetzloser, der sich seit seiner Abfahrt vom schicken, jetzt nicht unbedingt zu Cos-ta Ricas günstigen Unterkünften zählenden Strandhotel an die Fährte eines nun auf der Pan-americana fahrenden komfortablen Luxusreisebusses voller noch fröhlich lachender Tages- ausflügler geheftet hatte, bekam beim Vernehmen süßer, angenehmer, unermessliche Reich-tümer verheißender Sirenenklänge glänzende Augen. Oro! Oro!, jubilierte El Desperado. Cala-mitas! Calamitas!, dagegen Fortuna.
Tags darauf von der geliebten Mutter endlich zum Nachgehen ehrlicher Tätigkeiten bewogen, packte man ihn gleich beim ersten Versuch als hoteleigener Touristenbespaßer wegen spaßi-ger Kritik am Pfeffer des Restaurents auf Befehl von ganz oben. Er wurde eingesperrt und während des allseits beliebten Familien-Poolspiels Yeah! We know all about Costa Rica! als Hauptgewinn verlost. Hierüber wird woanders ausführlicher zu sprechen sein. Jedenfalls ge-staltete sich seine weitere Zukunft so: Ohne Krösus‘ Krone zu erben von der ältesten Tochter, seinem ihm dank väterlicher Entscheidung aufgezwungenen Frauchen, ungefragt in Herr Tuki Tukan umbenannt, von zwei resoluten Mädchenhänden ins Handgepäck verstaut, erhaschten zwei kläglich aus Alessa Maries Tragetasche herausschauende Augen durch im grellen Mor-genlicht Spiegeleffekte erzeugendes Fensterglas letzte Erinnerungsblicke auf sonniges Hei-matland, ehe es mit den Kaisers a tiempo nach Deutschland ging.
Auf schicksalshafte Weise gelangte also ein bunt verschmolzener Mix aus altindianischer Tra-gik, uralten Flüchen, Münzkunde, Fällen temporärer Miopie, dem Zweiten Weltkrieg, Gangster-abenteuern, Herzen rührenden Liebesgeschichten, Wahrsagekunst, sowie Dummschwätzerei, würdig genug, um auf teuerem Pergamentpapier für unsere Nachfahren festgehalten zu wer-den, über den großen Teich in den Garten von Familie Kaisers gepflegter Doppelhaushäfte, mit dessen Büschen und Bäumen Herr Tuki Tukan alias El Desperado (oder umgekehrt) fortan als Ersatz zum tropischen Regenwald Vorlieb nehmen musste.
So vor Gott und aller Welt bezeugt und geschehen A.D. MMXIV.
Erzählrunde 2
Verständlicherweise sann Herr Tuki Tukan nun, kaum dass er sein neues Urwalddomizil un-freiwillig bezogen hatte, nach Mitteln und Wegen, wie man Hanaus grüner Hölle schleunigst entkommen könnte, um die im Ursprungland unzähliger, in hiesigen Obstabteilungen wohl-sortierter Supermärkte feilgebotener Bananen aufgrund überstürzt eingetretener Ereignisse jäh vereitelten Absichten modifiziert wiederaufleben zu lassen. Bis ihm dazu schließlich im Frühjahr 2015, zwölf Monate nach am Frankfurter Flughafen erfolgter Zwangseinreise ins un-bekannte, fremde Hessenland, zur Zeit der herrlich duftenden Fliederblüte, wenige Wochen nachdem El Desperado den ersten hessischen tropischen Regenwaldwinter bibbernd vor Käl-te miterleben durfte, folgende, nicht anders als von den Musen inspiriert zu nennende Idee kam. Hell blitzenden Streicholzfunken nicht unähnlich.
Sehr schnell hatte er nämlich herausgefunden: Alessa Marie war begeisterte Zuschauerin im Fernsehen gezeigter Dokumentationen über Natur, Länder sowie natürlich auch Tiere, deren Reporter jedesmal über äußerst interessante, teilweise schier unglaubliche Dinge auf unse- rer Welt berichten. Eine für – wie wir wissen – neugierige Pfefferfresser geradezu verlockende Freizeitbeschäftigung. So kam es, dass beide eines schönen Samstagabends zwei Sendungen über die Vereinigten Staaten von Amerika, kurz USA genannt, sahen, welche unter anderem jenem im Bundesstaat Nevada auffindbaren Spielerparadies Las Vegas einige Minuten wert-volle Aufmerksamkeit widmeten.
Doch obwohl es sich wirklich nur um wenige Minuten handelte, reichten 560 Sekunden aus, um den hypnotisierenden Namen, welcher Optimisten glauben lässt, Fortuna, wohlgesonnen, werde dort brav in ihrem Sinne die flinken Roulettekugeln antreiben, ihm tief ins Gehirn ein-zuprägen. Kaum also war das Fernsehgerät ausgeschaltet, hatte sich El Desperado, erfasst vom Glauben ans wir Erdöl schießende Geld, folgendes Vorhaben in den Kopf gesetzt: Als ers-ten wichtigen Abschnitt seines unglaublichen Plans musste er einen möglichst günstigen Flug nach Costa Rica buchen. Von San José sollte ihn dann eigener kräftiger Flügelschlag gänzlich kostenlos weiter Richtung Liberia bringen. In Ermita de la Agonía flux den Schatz von El Dora-do an sich gerissen und zu klingendem Bargeld gemacht, war im nächsten, entscheidenden Schritt das nunmehr egal wie teure Flugziel Las Vegas anvisiert, um mit dem horrenden Fin-derlohn sämtlichen Casinos dieser weltberühmten Zockerstadt als von der lieblichen Ocea-nustochter heiß geküsster Vabanquespieler, gleich mehrere Besuche hintereinander abzustat-ten. Am gefährlichen Roulettetisch jubelnd beklatscht mühelos die Shows des legendären Ma-gierduos Siegfrid&Roy übertrumpfend.
Und Herr Tuki Tukan sah sich dabei im Hanauer Amazonas bereits von gutaussehenden, ko-ketten, jüngeren Damen umringt, die, während Croupier Bob demprimiert, fast schon unwillig, dem strahlend krächzenden Seriengewinner den nächsten völlig überdimensionierten Jeton-berg, höher als Europas Mont Blanc, zuschiebt, mit der Herausgabe ihrer privaten Handynum-mern zwecks exklusiver Teilnahme bald in seiner luxuriös ausgestatteten Nobelvilla nahe des Feuerberges El Arenal steigender feuchtfröhlicher Champagnerfeiern nicht geizen. Schließ-lich wollen Cathy, Tracy, Jamie und Stacie zwischendurch gemeinsam mit dem superlässigen Lateinamerikaner kichernd ins angeschlossene Badebecken hüpfen, wo vulkanisch erwärm- tes Wasser direkt aus Costa Ricas Erdtiefen sprudelt. Denn ermüdete Luxusgirls wissen: Nach der anstrengenden Party ist stets vor der anstregenden Party, so let’s take a bath!
Um nun aber quasi im Sinn psychologischer Selbstbelohnung für die just in dem Moment mit der Eigennote summa cum laude promovierten geistigen Höchstleistungen sein darüber ah-nungsloses Frauchen zusätzlich noch ganz besonders fies zu ärgern, hüpfte Herr Tuki Tukan an diesem wonnigen Maitag anno 2015 jedesmal ausgerechnet dann etwas auf und ab, kurz bevor Alessa Marie zum Fotografieren des einst im Stechen gegen Familie Jackson aus Sault Ste. Marie am kühlen Hotelpool gewonnen ersten Preises unter verklärten Engelsblicken fünf allerbester Freundinnen vor dem betörendste Düfte verströmenden Fliederzweig, welchen er sich als Stammplatz samt dazugehörigem Baum unter den Nagel gerissen hatte, fachfrauisch den Kamerauslöser drückte. Doch trotz energischer, teils verzweifelt anmutender Komman-dos wie EYYYYYYYYY, JETZT BLEIB GEFÄLLIGST SITZEN!!!!, gepaart mit einem fünfstimmigen, entzückt OMG, IST DER SÜÜÜÜÜÜÜÜSS!!!! singenden Mädchenchor, wollte aufgrund nerven-aufreibender Astschwingungen, kausal verursacht durch das Gesetz physikalisch wirkender Hüpfkräfte, keine einzige jener Sorte Nahaufnahmen gelingen, bei denen anschließende Be-trachterfreuden infolge dem pedantischen Expertenblick auf beruhigende Weise durchgehend scharf erscheinender Fotos vollkommen ungetrübt bleiben. OMG, CAISLIN, AMANDA, JANINA, MARIELLA, PAULA. OMG. OMG. SCHAUT DOCH NUR DAAAAAAA: DAS BLATT OBEN RECHTS IST EINFACH NICHTS GEWORDEN!!!! NEEEEEEIIIINNNNNNN, UND GUCKT MAL, DIE FLIEDERBLÜTE VORNE KANN ICH JA MAL VOLL VERGESSEN!!!! NEEEEEIIIIIINNN, ALLES UMSONST GEWESEN, NEEEEEEEEEEEIIIIIIIIIIIINNNNNNN!!!!!!!!!!!!! — Hm, aber auf Bild 2 geht sie doch eigentlich, was meinst du, Jani?, begann Caislin ihre angestammte Rolle als Trösterin. Zu spät. Die Künstlerin sank gerade einer Ohnmacht nahe in Amandas, Paulas und Mariellas stützende Arme.
DIE KANN ICH ALLE LÖSCHEN! ALLE!!!! ALLE!!!!!!! ALLE!!!!!!!!!! ALLE!!!!!!!!!!!!, schallten wütende Schluchzer laut übers elterliche Grundstück, woraufhin eine heulende Fotografin unter solida- rischen Beistandsbekundungen zurück ins Wohnzimmer eilte. BUMMMMM!!!!!!!!, tönte dumpf Kaisers Terrassentür hinter sechs empört dreinblickenden Grazien verächtlich zum schaden- frohen Costa Ricaner herüber. Hehehehehehehe, grinste der gesetzlose Pfefferfresser listig, la princesa entende, que ahora mismo yo pongo las condiciones en claro aquí! Übersetzung: Die Prinzessin kapiert, dass ich hier gerade die Verhältnisse klarstelle!
Was im Frühjahr 2014 mit ersten theoretischen Überlegungen begann erreichte also wie wir sahen binnen eines Jahres ein so weit fortgeschrittenes hypothetisches Stadium, dass Alessa Maries planerisch frisch provomoviertes Haustier am 05. Mai 2015 auf dem Fliederzweig hüp-fend gedachte, sich als nunmehr Herr Dr. phil. Tuki Tukan über eine Antrittsvorlesung zum Thema Meine geniale Idee im klassischen Praxistest. Ein empirischer Selbstversuch unter analytischer Zugrundelegung des Glückspielfaktors weiter zu habilitieren.
Das Experiment folgte denkbar einfachen Strickmustern: Damit seine doch recht ehrgeizigen akademischen Ziele ihm nicht den unrühmlichen Spitznamen Zerstreuter Professor einbrach-ten, stellte unser hoher Gelehrter nämlich nach eingehender wissenschaftlicher Medienanaly-se jener kompletten James Bond Filmsammlung, welche er irgendwann einmal während des täglichen Herumschnüffelns zufällig im Schrankregal rechts neben Kaisers Großbildfernseher aufgestöbert hatte, die Fachkollegen schwer beeindruckende Theorie auf, man müsse nur ge-duldig den Zeitpunkt abwarten, bis jene unter dem Decknamen Fleißiges Lieschen auf Alessa Maries innig geliebter Sozialen Netzwerkseite Spionagetätigkeiten aller Art anbietende Agen-tin, die für Accounts aus Gründen absoluter Geheimhaltung außer Blumen niemals reale Bil-der verwendet, endlich am Tor unwissender Hausbesitzer klingelt und diskret jemanden zu sprechen wünschend um raschen Einlass bittet.
Pssssssssssssttt! Hey! Hey, du! Komm doch mal hoch zu mir!, malte er sich auf eigentlich Kai-sers (faktisch jedoch ihm) gehörendem Fliederbaum warme Frühlingsluft genießend in exoti- schen Klangfarben jene süß hauchende, verführerisch anmutende Damenstimme aus, deren gut gepflegte Hände ihn sanft emporhoben, um mit ihm auf adäquater Augenhöhe kommuni-zieren zu können, nachdem Frau Kaiser eine herrlich duftende, modisch gekleidete, dazu auch noch verflixt gutaussehende Achtzehnjährige sprachlos auf die Terrasse geleitet hatte. WAS? WER? ICH? — Pschschschschscht!!!! Die Nachbarn! Genauuuuuuuuu! Unserem gemeinsamen Chat nach zu beurteilen scheinst du mir ein sehr gerissener Tukan zu sein! — Echt? Hey, ja, das stimmt, ich bin sogar ein sehr gerissener Tukan *krächzkrächzkrächzkrächz*, ich bin EL DESPE… — Pschschschschscht!!!! Die Nachbarn! Genauuuuuuuuu! Weiß ich doch, Kleiner, El Desperado nennt man dich! Und weil ich das weiß, habe ich von meinen drei Freunden be-kommen, wonach du dich sehnst. — EHRLICH? DU HAST VON DEN ZAUBER… — Pschschsch- schscht! Die Nachbarn! Genauuuuuuu! Für nur 500$! — WAAAAS? FÜR NUR FÜNFHUND… — Pschschschschscht! Die Nachbarn! Genauuuuuuuuuuuu! Du hast richtig gehört. Für nur 500$. Solche Angebote zum Vorzugspreis kann man nicht ausschlagen!
Versierte Experten der Sesamstraße erkennen an der Art des Gesprächsverlauf sofort: So wie der sympathische Ernie vom gewieften Buchstaben- und Zahlenverkäufer ein „O“ oder eine „8“ erwarb, würde diese wilde Biene Lateinamerikas abgebrühtestem Pfefferfresser ohne Gesetz jenen einmaligen Trick verkaufen, welcher am Roulettetisch tatsächlich jedes Casino auf Er-den zur Plünderung freigab.
Lieutenant Goldfinger, wie sich unser Costa Ricaner neuerdings lieber nannte, besaß nämlich das für Tukane schier unglaubliche Glück, dass die Miezekatze, deren drei Minuten nach Re-gistrierung seines eigenen Accounts eingegangene Freundschaftsanfrage selbstverständlich postwendend akzeptiert worden war, in ihrer endlosen Rubrik Meine Freunde ausgerechnet auch jenes berühmte Trio „Freunde“ nennen durfte, welches aufgrund unfassbarer, bestimmt auf magischen Kräften beruhender Geschicklichkeit einst unter dem Namen Zauberglöckchen für internationale Schlagzeilen sorgte. Von sämltichen Spielhöllen weltweit gefürchtet. Fairer-weise auf der Sperrliste für ewige Zeiten geführt. Gelang es doch den Dreien mit jeweils nur einer einzigen Rouletteumdrehung hintereinander Macau, Monaco, Deauville, Baden Baden, Wiesbaden sowie Bad Homburg ohne mit der Wimper zu zucken in die Knie zu zwingen.
Ja. Zu dieser wissenschaftlich belegbaren Hypothese sollte Lieutenant Goldfingers Habilita-tionsschrift alsbald gelangen. So war es geplant. Ja. So hatte es Lieutenant Goldfingers mes-serschafer Verstand neunmalklug ausbaldowert. Ja. Eines schönen Tages würde es an Kai-sers schmucker Doppelhaushälfte klingeln. Geheimagentin Fleißiges Lieschen würde heiter scherzend Frau Kaiser mit frei erfundenen, an den Haaren herbeigezogenen Geschichten über die Beweggründe des offensichtlich unerwarteten Damenbesuchs dreist hinters Licht führen, durch das Wohnzimmer trällernd zu ihm in den Garten schlendern und dort dem gut zahlen-den Auftrageber von ihren Freunden, den Zauberglöckchen, bislang wohlgehütete, am Rou-lettetisch millionenschwere Casinotricks dezent zum Schnäppchenvorzugspreis anbieten… unter Freunden.
Die geschickt eingefädelte Agentenoperation Hokuspokus war jedoch trotz brillanter Planung sowie Fräulein Lieschens beglaubigter Seriosität aufgrund stets wachsamer Blicke der Nach-barn beziehungsweise noch hellhörigerer, routiniert in leicht geöffnete Fensterspalte gehalte-ner Lauschorgane dermaßen riskant, dass sogar der für besagten Geheimnisverkauf ausge-machte Treffpunkt Fliederbaum gegen Mittag vor unerträglich steigender Anspannung wie Espenlaub zitterte – während das Jetongebirge in gierigen Augen mittlerweile dem Himalaya ernsthafte Konkurrenz machte.
Erzählrunde 3
Zwei Jahre unerträglich harter Wissenschaftsarbeit strichen ins Land. Zwei Jahre knallhartes Feilschen auf Englisch in wildromantisch geführten Chatgesprächen, als ob sich beide beim Candlelight Dinner verliebt anschmachtend direkt gegenübersäßen, um Lieschen als feuriger Latin Lover berechend davon zu überzeugen, seine gedanklich ausgemalten 500$ seien unter jetzt zwar noch schüchtern Anbandelnden, später jedoch Waikikis palmengesäumten weißen Strand eng umschlungen entlanglaufenden frisch Getrauten preislich angemessen. Obwohl aber die nicht minder abgebrühte, im früheren Job wohl Vollblutauktionarin gewesene Verlob-te zu seinem Verdruss ihn sowie aus allen Herren Ländern Mitbietende per zeitgleich eben-falls von Amor bewegten digitalen Sprechblasen geschäftstüchtig gegeneinander ausspielend den Internetauktionspreis immer höher trieb, erschien El Desperado der für letztlich 250.000$ erhaltene Zuschlag, mit welchem er den nun sicherlich vor Wut bebenden Herrscher des Öl-emirates Fata Morgana endgültig in die Wüste schickte, wie Nichts im Vergleich zur verloc-kenden Aussicht, die achtzehnjährige Blume, Cathy, Tracy, Jamie und Stacie anführend, als erste zu ihm kichernd ins Entspannungsvergnügen pur spendende Nass steigen zu sehen. Die nach erfolgreich getätigter Banküberweisung postwendend im Chat erscheinende, mit zwölf roten Herzchen verzierte Nachricht I love you, Touci Pooh, because you are my 007 Tututututu Touci Pooh!, bewies: Er hatte bei der Damenwelt erwartungsgemäß alles richtig gemacht.
Das ging runter wie Öl. My 007 Tututututu Touci Pooh. Sein prahlerisches, angelesenes Ange-berwissen über jeden einzelnen James Bond Darsteller zeigte Wirkung. Endlich sendete Lies-chen dem Flirtprofi von der Playa de Coco jenes sehnlichst erwartete Signal konkreter wer-dender weiblicher Annäherungsbereitschaft. Nach zwei ewig langen Jahren schüchternen, als Auktionsveranstaltung getarnten mädchenhaften Zögerns hatte Tucano Casanova sie endlich drinnen im Pool. Mit aufgesetzter tiefdunkler Sonnenbrille wäre es kaum klarer erkennbar ge- wesen. I love you too, Lieschen, my sweet honey bee!!!!, tippte er nach den mit nur einer Rou-letteumdrehung lässig zurückzahlbaren albernen, einem angesichts gerade gewonnener as-tronomischer Beträge peinlich knauserigem Croupiertrinkgeld ähnelnden 250.000$ sowie Lie-schens Poolgesellschaft lechzend sofort hastig ins Chatfeld.
So wurden sie sich rasch handelseinig: Am 03. August 2017, mittags Punkt 14 Uhr Hanauer Ortszeit würde ihm Sweet Honey Bee den Universalschlüssel zu Onkel Dagoberts Geldspei- cher überreichen; doch anders als 2015 der Flieder beim frisch gebackenen Doktor, vibrierte an diesem Tag das unbelebte Material des Professorenstuhls, auf welchem unser bald Habili-tierter lange vor der würdevollen Zeremonie einfach schon mal gemütlich Platz nahm, nicht.
Der 03. August 2017, genauer Zeitpunkt beim Gongschlag 14 Uhr, kam, wie das Amen in der Kirche. Als die nahegelegenen Kirchturmglocken irgendwann dann mal 18 Uhr läuteten, flat-terte jemand immer noch äußerst zuversichtlich dreinschauend zum nächstverfügbaren Lap-top, um auf seinem Account beruhigende Hinweise bezüglich der durchaus legitimen Frage zu finden, weshalb bloß das beste Pferd des Secret Service nicht zum vereinbarten Termin am vereinbarten Treffpunkt galoppiert kam. Auch wenn Lieutenant Goldfinger besagten Univer-salschlüssel bislang ausschließlich träumend mit raffgierigsten Krallen packte, konnte es sich jetzt nur noch um wenige Augenblicke handeln, von Lieschen in für unwürdige Cretins streng geheime Glücksspielmysterien eingeweiht zu werden. Geduld, Geduld, alles ist gut!, lautete daher die ausgegebene Parole.
Der Optimist behielt Recht. Selbst Spionen passieren nämlich gelegentlich jene höchst ärger-lichen Flugerlebnisse, von denen manche unter Ihnen bestimmt aus leidvoller Erfahrung ein Lied singen können. Im Chatpostfach fand Herr Tuki Tukan eine mit unzähligen traurig wei-nenden Emojis garnierte Mitteilung. Unter Tränen schilderte Lieschen, wie ihr Flieger nach er-folgreicher Beendigung des letzten Auftrages pünktlich von Honkong aus nach Singapur ge-startet war. Der Flug verlief gut, und bei fast wolkenlosem Himmel überflog man Vietnams Küstenlinie. Das Ziel zum Greifen nahe, zwang ein über den Stadtstaat fegender Tropensturm den Piloten allerdings zum Einlegen mehrer Ehrenrunden, bis CX735 endlich Landeerlaubnis erhielt. Neunzig Minuten verspätet ins Terminal 1 stürmend stellte Lieschen wütend fest, dass ihr Anschlussflug Changi Airport längst Goodbye! gesagt hatte. Mit Looooooooving kisses from Singapore, see you tomorrow, same time same place. Miss you soooooooo much my 007 Tutu-tututu Tuci Pooh! PS: By the way, there are some pictures from my flight, only for you. Enyoy! endete die Mitteilung, welche anhand vier angefügter Fotos bewies: Lieschens Nichterschei- nen beruhte auf höherer Gewalt.
Der 04. August 2017, genauer Zeitpunkt beim Gongschlag 14 Uhr, kam, wie das Amen in der Kirche. Als die nahegelegenen Kirchturmglocken irgendwann dann mal 18 Uht läuteten, flat-terte jemand immer noch äußerst zuversichtlich dreinschauend zum nächstverfügbaren Lap-top, um auf seinem Account beruhigende Hinweise bezüglich der durchaus legitimen Frage zu finden, weshalb bloß das beste Pferd des Secret Service nicht zum vereinbarten Termin am vereinbarten Treffpunkt galoppiert kam. Auch wenn Lieutenant Goldfinger besagten Univer-salschlüssel bislang ausschließlich träumend mit raffgierigen Krallen packte, konnte es sich jetzt nur noch um wenige Augenblicke handeln, von Lieschen in für unwürdige Cretins streng geheime Glücksspielmysterien eingeweiht zu werden. Patiencia, patiencia, todo bien!, lautete daher die ausgegebene Parole.
Der Optimist behielt Unrecht. Selbst Spionen unterlaufen nämlich bisweilen Dilettantenfehler, welche selbst einfältigsten Tukangemütern gleich mehrere Lichter aufgehen lassen. Im Chat-postfach entdeckte unser Mittelamarikaner eine mit unzähligen heiter lächelnden Emojis gar-nierte Nachricht. Fröhlich schrieb Lieschen, wie Flug SQ326 pünktlich in Frankfurt gelandet war. Am Gepäckband stehend, traf sie dort – die Welt ist klein – ihre allerbeste Agentinnen-freundin. Seit über zehn Jahren hatten sie sich nun nicht mehr gesehen, und so beschlossen zwei überschwengliche Wiedersehensfreude artikulierende Überraschte spontan, beim Essen über alte Zeiten zu quatschen. Mit See you at 10.00 PM, same place. PS: By the way, there are some pictures from my flight. Enjoy! endete die Mitteilung, welche anhand vier angefügter Fo-tos bewies: Lieschens Nichterscheinen beruhte auf betrügerischen Absichten.
Finanzpanik ergriff ihn. Madre de Dio!!!!, klangen bereits kurz nach Beginn des Unternehmens Hokuspokus tukanisch klagende Schluchzlaute durch die laue Abendluft jener Augusttage, an denen drückende Temperaturen Maximalgewichte erreichen, vom Professorenpult bis in ent-legenste Gartenwinkel. Bei der heiligen Agata de las Sierras Blancas, weh mir, ich bin da wohl auf eine ganz miese Fake-Userin hereingefallen!!!!
Weil Lieutenant Goldfinger auch nach zehnfachem Hinschauen einfach nicht glauben konnte, was ihm Lieschens total lieb gemeinter Fotoanhang Ungemütliches offenbarte, beschloss er, erstmal in Ruhe über die ganze Angelegenheit zu schlafen, seine arg strapazierten Nerven zu beruhigen, um am nächsten Morgen ausgeschlafen nachzuschauen, ob lediglich überpropor-tional hohe Anspannung seinen Augen üble Streiche gespielt hatte.
So flog Herr Tuki Tukan sofort in aller Herrgottsfrühe mit einer Kombination aus schrecklicher Vorahnung sowie dem verzweifelten Mut des Tapferen hinauf in Alessa Maries Zimmer, um, während Madame tief und fest ruhte, am Laptop erneut seinen Account zu öffnen; zur heiligen Agata betend diesmal glückicherweise wieder erfreuliche, ruckzuck etwaige Missverständnis-se beseitigende Agentenbotschaften zu lesen.
Hola, que passa aquí?, kreischten bald darauf schrille Schnabellaute zur größten Verärgerung seines gerade eben noch im wohlverdienten ferienhaften Schönheitsschlaf befindlichen Frau-chens quer durch den Raum, nachdem zwei ungläubig starrende Augen realisierten, dass ih-nen direkt unter dem seriös wirkenden, bis dato kein einziges Mal ausgetauschten Profilbild von sweeeeeetcuty_FleißigesLieschen_loooooveagent eine bei Communitymitgliedern extrem gefürchtete Zusatzinformation grausam realistisch entgegenlachte: Gesperrt.
El Desperado verblieben allerdings nur zehn Sekunden, nach dem Aufkrächzen an Alessa Ma-ries elektronischem Spielgerät eigene Versäumnisse, welche derart dramatische Entwicklun- gen möglicherweise begünstigten, kritisch aufzuarbeiten. Stürmischst aufbrausendes Erwa-chen oder Windstärke 12 auf der Beaufort-Skala erfasste unseren Protagonisten wie über Be-lize rasende Hurricans, wirbelte ihn, leicht mit todesverachtenden Luftakrobaten des chinesi-schen Staatszirkus‘ verwechselbar, rasanter als sonst zur Gelnhausener Marienkirche.
Nachdem er hoch oben auf dem Wetterhahn des wuchtigen Westturms sein tägliches Pensum Liegestützen, Kniebeugen, Kopfstände und andere Gymnastikübungen zum Entzücken Einhei-mischer sowie zur Kirche spazierender Tagesbesucher absolviert hatte (was ihm diesmal ver-ständlicherweise weniger gut gelang), war der aufgeschreckte künftige Casinoschreck in jetzt wieder normalem Flugstil nach Hanau zurückgeflogen. Große, unangenehm große Herausfor- derungen harrten seiner. Demütigende, peinliche, Schuldeingeständnisse auf besagtem, von Alessa Marie Chefinnethron genannten Professorenpult, um dort gravierende Defizite beim Internetumgang wimmernd Revue passieren zu lassen.
Was war geschehen? Nur knapp drei Monaten zuvor nämlich trug El Desperado jenes vom Bankvorstandsvorsitzenden höchstpersönlich überreichte Kreditbewilligungsschreiben noch siegreich im Schnabel nach Hause. Zwei aktuelle lokale Tagesblättchen sowie die damals vom dauergrinsenden, sonnengebräunten, coolen, junge weibliche Gäste erfolgreich anflirtenden Animateur, Surfprofi Ken aus Kapstadt, Herrn Kaiser kumpelhaft in die Hand gedrückte, auf Familie Kaiser ausgestellte Tukangewinnurkunde vorzeigend wurde das nachweisliche Mitei- gentum des auf Seite 1 großformatig mit dem Oberbürgermeister wettkampfmäßig strahlen-den ehemaligen Krankenpflegers betreffs seines Anliegens binnen einer Minute per Mausklick unter dem Vermerk VIP Bonität +++++ geführt.
So hatten fast alle etwas zu lachen. Der eine, mittlerweile siebenfacher Alleinabstauber beim Euro Jackpot, wollte es vor Glück kaum fassen, sich, Gattin und Töchter just vor drei Tagen in den Adelsstand eingekauft zu haben, der andere frohlockte, inzwischen sogar vom renom-mierten Hanauer Psychiater Ambrosianus dringend angemahnte Ausbesserungen der maro-den, vollkommen desolaten Straßen und Bürgersteige über großzügige Spenden einer golde- nen Weihnachtsgans finanzieren zu können, damit dessen Patienten ständiges Stolpern künf-tig für keine Erdbeben mehr hielten. Der Dritte jedoch dankte Jakob Fuggers Geist inbrünstig dafür, dass er über diesen gefiederten Bittsteller 17,5% Zinsgewinn einstrich.
Nur für Lieutenant Goldfinger gab es nichts zu lachen. Tatsächlich ist am Laptop der Glaube töricht, auf einem für Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren als Zielgruppe ausgelegten Sozia-len Netzwerk gäbe es wahre Liebe fürs Leben suchende sechzehnjährige Agentinnen mit acht Jahren Berufserfahrung. Registriert auf einer Internetseite, deren Gefahren sein dort bereits länger angemeldetes Frauchen stets eindringlich hervorhob: Niemals, wirklich niemals, pre-digte Alessa Marie tagtäglich äußerst besorgt, dürfe er dort auf eigene Faust Communitymit- glied werden; und ohne Beisein sei mit Hilfe des frechen Schnabels oder gar vorwitziger Füß-chen erfolgendes Einloggen auf ihrem Account grundsätzlich tabu.
Aber als User banditoTucano_amore, Mädchen im worlwide web grenzenlos vertrauend, die komplette Lebensvita detailreich ausgeschmückt ausplauderte, inclusive aktuell gültiger Ad-ressen – auch die von Papa und Mama Tukan – wollte er 2015 bei Chatbeginn Ratschläge In-terneterfahrener einfach nicht hören. ZACK, prompt waren sie 2017 weg jene 250.000$, wel-che Herr Tuki Tukan natürlich liebend gern an eine von Teinehmerin Lieschen genannte Kon-tonummer in San José überwies. Gegen Vorlage exzellenter Referenzen wie Zuckerschlecken vom Bankvorstandsvorsitzenden bewilligtes Kreditgeld.
Doch bedauernswerterweise, Herr Doktor auf dem hohen Gelehrtenstuhl, prallte bei all die-sen verspätet eintreffenden bitteren Erkenntnissen selbst rührseliges Gejammer wie Und da-bei hatte ich doch als Vorsichtsmaßnahme gegen Internetkriminalität Lieschen extra noch auf ihr Profilbild anspielend gefragt, ob Blumen überhaupt in der Lage sind, Agententätigkeiten auszuüben! gegen kalte Granitwände. Ein kokettes Oh my Tututututututuci Poooooooooh, your are soooooo sweet. Logically they can do because every day plants and flowers live and speak like James Bond 007 in his films. Don’t you really know that???? muss trotz sich unermüdlich abwechselnder „Love“ und „Nerd“ Emojis nicht unbedingt automatisch bedeuten, dass mit blu-migen Worten argumentierende Agentinnen jedes Mal meinen, was sie erzählen. Oder hast du dich nie ernsthaft gefragt, warum in Hanaus Gartenbetrieben sämtliche Calibrachoae stumm blieben als sie von dir zur doppelten Absicherung über die Vertrauenswürdigkeit ihrer costa ricanischen Verwandten ausgehorcht werden sollten?
Um 12.30 Uhr gab Kaisers Familiengericht dem reuigen Angeklagten das Urteil bekannt: MIR DOCH SCHNUPPE!!!! SEHE ER NUR GEFÄLLIGST ZU, DASS ER AVEC GRANDE VITESSE UNSERE MONNAIE WIEDER AUFTREIBT!!!! ANSONSTEN SCHMEISST MON PÈRE IHN SOFORT RAUS!!!! DANN MAG ER MEINETWEGEN AUF DEN OBERLEITUNGSMASTEN AM STEINHEIMER GARE, WENN’S BITTER KALT UND WINDIG IST, GAR TREFFLICHE MENUETTE TANZEN WIE’S BELIEBT, WÄHREND UNTER IHM DIE TRAINS BRAV EN MESURE VORBEIRAUSCHEN!!!!
UND DAMIT ES BIS ZUM AMUSEMENT JA NICHT ALLZU WEIT ENTFERNT SEIE, BEZIEHE ER AVEC NOTRE PRIVILÈGE GERNE DAS DORTIGE SIGNALGESTELL ALS TRÈS FORMIDABLE VO-LIÈRE. SIE DIENE WOHL ZUM KLETTERN UND HÜPFEN WIE’S IN COSTA RICAS URWALDBÄU- MEN TUKANISCHER VÄTER SITTE.
ÀPROPOS: AUS DEM ÜBERALL HERUMLIEGENDEN PAPIER BASTELE SICH MONSIEUR TOUCAN DANN AVEC PLAISIR EINEN CONFORTABLEN WINDSCHUTZ, DENN DER ERSTE EISIG FEGENDE HERBSTWIND SOLL IHM NATURELLEMENT HOCHOBEN NICHT ZU ZUGIG WERDEN!!!!
Während die junge, barsch à la mode parlierende Marquise dabei zur theatralischen Unterma-lung so demonstrativ mit dem rechten Schühchen stampfte, dass ihre aufwendige Turmfrisur à la Marie Antoinette mehrmals ernsthaft ins Ungleichgewicht geriet, umliegende Nachbarn zwecks dringend notwendiger Glasreinigungen großzügig geöffnete Fenster gewiss bald wie-der wie auf Kommando schließen würden, stolzierte des adligen Fräuleins Vater, der Graf, ge-kleidet à la Louis XVI., mit ausgestreckten Armen beide Zeigefinger wichtigtuerisch auf Lieute- nant Goldfinger richtend durch die aufstehende Terrassentür zum Chefinnenthron. Allez, al-lez, allez Toucan, dans la salle de séjour le billet d’avion est sur la table. Bon voyage! — Und vergesse er ja nur die retour nicht, sonst wird Costa Rica à nouveau spanische Kolonie, und le grand Roy Philippe liefert ihn sicher gerne aus. Fort mit ihm!
Entsetzt über die Vorstellung, sein über alles geliebtes Heimatland könne bald erneut dem un-erträglichen Joch Spaniens anheimfallen, fand sich El Desperado, das Urteil besser anneh-mend, daher gegen 19 Uhr am Frankfurter Airport an Gate B14/ B60 wieder, Ziel San José, als Patriot festen Willens, Lieschen rechtzeitig aufzuspüren, bevor Zentralamerikas reicher Küste Schlimmes wiederführe. Sichtlich irritierten Airline-Mitarbeitern beim Boarding schwörend, nur mit gräflichen 250.000$ im Gepäck werde man den Rückflug antreten, verließ er das Flug-hafengebäude und sprach: Hasta luego, muchachos!
Erzählrunde 4
Nachdem Frankfurts Vorfeldbus den ersten großen Schwung Fluggäste ohne unterwegs er-folgte Blechschäden wohlbehalten zur Position gefahren hatte (was beim vielen Verkehr auf der Rollbahn für Menschen ohne Vorfeldführerschein oft wie wahre Wunder anmutet), flatter-te El Deperado missmutig in Richtung der gerade in vollem Gange abgefertigten Maschine, um sich schnellstmöglich auf seinem urgemütlichen Business Class Fensterplatz niederzulassen. El Diablo beschlich nämlich seit Betreten des Gatebereichs jenes ungute Gefühl, das sonnen-hungrige Urlaubsvolk lehne Lateinamerikas fürchterlichsten Gangster als vollwertigen Mitrei-senden ab. Schon vor Boardingbeginn konnte sich Herr Tuki Tukan des üblen Verdachts nicht erwehren, stattdessen vielmehr für einen vom Veranstalter angeheuerten Bordunterhalter ge-halten zu werden.
Besonders dieses junge, frischgebackene, engstens umschlungene, äußerst infantil agierende Ehepaar war Lieutenant Goldfinger hierbei besonders negativ aufgefallen. Während ihrer zwi-schen kaum endenden wollenden Knutschattacken dringend benötigten Atempausen warfen die Frischvermählten ständig albern kichernde Blicke herüber. Entsetzlich! Sogar im schau-kelnden Gefährt starrten beide ihn beim romantischen Verschnaufen fast losprustend an. Als säße dort kein Tukan, sondern irgendein Exot mit Unterhaltungsqualität.
Endlich öffnete Fahrer Benny alle Türen. Madre de Dio, bloß schnell raus! Weg von diesen all inclusive Dom Rep Touristen! Jede Putzfrau kann sich Punta Cana leisten. Zum Glück fliege ich in ein Land, das lieber gezielt auf gediegenen Urlaub setzt, zwar extrem teuer, aber dafür sind dann die gut zahlenden Reisenden fernab der Masse für zwei, drei Wochen rundum glücklich. So soll es sein!, sinnierte Familie Kaisers einstiger Hauptgewinn und versuchte daher, den Ab-stand zum turtelnden Billigurlaubspärchen von „sehr nah“ geschwind auf standesgemäß „un-endlich weit“ zu vergrößern.
Doch Romantik pur verströmenden Liebende lassen sich nicht so einfach abschütteln. Händ-chen haltend folgten sie seinen wilden Flügelschlägen schnurstracks hinterher. Mist, das sind Profis, erkannte El Diablo, wissen genau, was für ein Gedränge gleich auf dem Economy Gang los sein wird, wollen natürlich die ersten sein. Pah, Fußvolk!
Hihihihihihi, schau nur, Mützelchen, hihihihihihi, der total ulkige Tukan fliegt auch mit uns!, rief die zu 100% einer total verknallten Teenagerin gleichende Ehefrau. Hihihihihihihihihi, siiiiiieee-eeehhhhhssst du, Pützelchen, ich hatte Recht, antwortete der zu 100% einem total verknallten Teenager gleichende Ehemann, das unser ist Bordanimateur. So wie am Hotelpool. — Huhu-huhuhuhu, hihihihihihi, du kennst dich immer so gut aus, Mützelchen! Garantiert ein richtiger Spaßvogel! Hihihihihi, dabei sieht er gar nicht wie ein echter Tukan aus. — Oooooooooohhhhh, huhuhuhuhuhu, jetzt wo du’s sagst, ja, oh, hihihihihihi, mehr so wie ein Stofftier, das elektrisch fliegen kann. — Hihihihihihihihihihi, schau nur seine putzigen Füüüüßchen, mein Gott sind die süüüüüüüßßß! Und schau nur daaaaaaaa, Mützipützi, unser Pilot ist diesmal ein Bäääääär. — Hihihihihihihi, duuuuuuuuu, Pützmützi, dann gibt’s garantiert Hoooooonig zum Bordfrühstück, mmmmmmmhhhh lecker!
Lieutenant Goldfinger blickte auf die Flugzeuglackierung, rollte peinlichlich berührt seine Au-gen. So etwas erlebst du echt nur bei Touristen in die Dominikanische Republik!, ging es ihm durch den Kopf. Gottseidank steigen die allesamt in Santo Domingo aus! Gottseidank!
Und schon sauste unser Held an einer die Passagiere am Flugzeugeingang freundlich begrü-ßenden, sehr sympathisch wirkenden Stewardess vorbei ins Innere.
Die roten Anschnallzeichen waren kaum erloschen, befreite sich El Diablo zu allererst vom lästigen, seine Freiheit enorm einschränkenden Gurt. Kein Costa Ricaner duldet nämlich seit der ruhmreichen Unabhängigkeit von Spanien 1821 jemals wieder dückende Fesseln.
Missmutig schlürfte er auf dem noblen Business Class Fensterplatz letzte Tropfen jenes vor-züglichen heimatlichen Rums, welchen die freundliche, sehr sympathisch wirkende Stewar-dess von der Begrüßung vorhin eingeschenkt hatte. Aaaaaaahhh, tuuut das gut!!!!! Der 62%ige aus Aguacaliente. Bekommt man selbst da kaum. Alles für Touristen sowie Business Class und First Class beiseite geschafft. Komm, grad noch einen!
Den hatte er auch wirklich bitter nötig. Hihihihihihihi, du, dreh dich mal um, Mützelchen, unser Bordanimateur sitzt direkt hinter dir. — Huhuhuhuhu, jaaaaaaaaa, du hast Recht, Pützelchen, hihihihihihi, dann beginnt sicher gleich das Showprogramm. — Hihihihihihihihi, er trinkt sich vorher nur kurz etwas Mut an. — Oooooooh, wie gemein von dir, Pützimützi, hihihihihi. — Gar nicht gemein, Mützipützi. hihihihihi, komm fang mich doch, bin zuerst ganz hinten am Gang-ende. Kriegst mich nicht, ätsch! — Hihihihihihi, huhuhuhuhu, hab dich schon, ätsch! — Oooh, wie gemeeeiin von dir, Mützelchen, du musst doch zuerst bis 3 zählen, damit ich einen Meter Vorsprung habe. Du bist doch immer soooo schnell. Nochmal!
Ääähm…Sie haben sicher Dom Rep gebucht. All inclusive, nehme ich an, unterbrach Herr Tuki Tukan das vertraute eheliche Geplauder, seinen großen Schnabel wissbegierig über die Sitz-lehne steckend. Neeeeeeeiiiiiinnn!!!, wehrten beide gleichzeitig entrüstet, beinahe beleidigt ab. Dom Rep ist Masse. Jede Putzfrau kann sich heutzutage Punta Cana leisten. Hauptsache billig. WIR fliegen nach Coste Rica! Guanacaste. Im Norden. Pazifikküste. Playa de Matapalo. Zwan-zig Kilometer von Liberia entfernt. Sündhaft teuer, meinte selbst unser Reisebüro. Aber wis-sen Sie, man heiratet schließlich nicht täglich. Voll verrückt, in Liberia existiert bis heute eine mexikanische Exklave. Eine alte, seit Kriegsende fest verschlossene Kirche. Irgendein legen-därer Goldschatz. Übermorgen wird sie jedoch nach fast zweiundsiebzig Jahren endlich geöf-fnet. Da kommt eine Aztekenausstellung rein. Steht im Reiseführer. Wussten Sie das? Besu-chen wir natürlich.
Absoluter Tiefschlag. Ne, echt jetzt? Na, das freut mich aber wirklich für Sie. Tut mir leid, noch nie davon gehört. Doch jetzt mal ganz unter uns…Costa Rica…eine denkbar ungünstige Wahl. — Ich will ja nicht neugierig sein, entgegnete Pützelchens leicht irritierter Gatte, aber warum, wenn ich fragen darf? — Im Vertrauen. Hand auf’s Herz. Hat Sie bei Ihrer Entscheidung kein Mitarbeiter gewarnt? — Ehrlich gesagt…nein. Wovor sollte uns das Reisebüro denn gewarnt haben? Strömung Humboldtis Extraordinaria, nie gehört? — Strömung hää? — Dachte ich’s mit doch!, jammerte El Diablo verzweifelt. Man schickt skrupellos ahnungslose Flitterpaare mitten hinein ins blinde Verderben! Hauptsache, die Kasse klingelt! Unverantwortlich!!!!! Zum Glück treffen Sie mich! Ääähm…ohne Ihnen unnötige Angst einflößen zu wollen…ich habe mo-mentan nur einen einzigen, wirklich gut gemeinten Ratschlag für Sie. — Erzählen Sie weiter! Erzählen Sie weiter! — Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, und Sie Costa Rica unbeschadet über-stehen wollen, fliegen Sie bitte direkt nach unserer Landung in San José umgehend zurück! Egal wie teuer. Egal mit wie vielen Zwischenstopps. Nur so haben Sie beide gegen den Ozean eine Chance! — Wollen Sie uns verkaspern????? Sie haben zuviel Rum konsumiert!!!!! Ich bin promovierte Ozeanologin. Kein einziger Meeresstrom trägt einen derart bescheuerten Namen. — Aber…Pützelchen…du…bitte…lass ihn doch erstmal ausreden. Schau, der Tukan ist Costa Ricaner. Er kennt das Land wie seine eigene Westentasche. Bitte, Pützelchen, lass mich weiter mit ihm sprechen. — Mach wie du denkst, Oliver! Naiv genug bist du ja! — Äh, ja, was genau ist denn eigentlich diese Strömung Hu…Hu…Kolumbi… — Humboldis Extraordinaria. — Dan-ke. — Ein Monstrum!!!!! Eine Menschenfresserin!!!!! Gottes Tourismusgeißel!!!!! Ausgerechnet zur Hauptreisezeit taucht jenes gierige Todesgespenst aus den Tiefen des Pazifiks auf, wenn wir es in Costa Rica am allerwenigsten gebrauchen können. Also jetzt. — Oliver!!!!! Dreh dich sofort wieder zu mir um!!!!! Du riechst doch selber den Rum!!!!! — Du… Sabrina…aber wenn uns Frau Müller im Reisebüro vielleicht wirklich etwas verschwiegen hat? Ich bin mir hundert- prozentig sicher, er weiß was. Bitte, Sabrina! Bitte! Bitte! — Na, dann erklären Sie einer pro-movierten Ozeanologin die angebliche Strömung mal genauer.
Aaaaahhh, tut das gut! Der 62%ige aus Aguacaliente. Bekommt man selbst da kaum. Alles für Touristen sowie Business Class und First Class beiseite geschafft. Komm, grad noch einen! Den hatte er auch wirklich bitter nötig. Denn obwohl in allerbester Erzähllaune, ließ sich sein redseliges Sprechwerkzeug im Vergleich zu vorher seltsamerweise nicht mehr ganz so locker öffnen. Strömung Humboldtis Extraordinaria nennen Wissenschaftler eine zwischen Dezem-ber und April auftretende, vermutlich vom fortschreitenden Klimawandel verursachte Störung im mächtigen Humboldtstrom. — Ach, den kennen Sie? — Pschscht, du bringst ihn ja völlig durcheinander! — Bekanntlich basiert der nach dem deutschen Naturforscher Alexander von Humboldt benannte Strom unter anderem auf sogenanntem Upwelling. Kaltes antarktisches Tiefenwasser steigt auf, erreicht Chiles Westküste, von wo es oberflächennah parallel zum südamerikanischen Kontinent weiter Richtung Norden fließt. Südlich des Äquators, vor Peru beziehungsweise Ecuador, schwenkt Humboldts Strom westwärts, um seinen Weg im weit-eren Verlauf als wärmere Südäquatorialströmung fortzusetzen. Ab Ende November aller-dings, *hicks*, bewegt er sich ungewöhnlich schnell. Folglich gelangt immer mehr antarkti- sches Ursprungswasser empor. Diese erhöhte Fließgeschwindigkeit erzeugt beim Abdrehen von Südamerika permanent gewaltige „Ausreißer“. Daher auch die Ergänzung Extraordinaria. Sie können das Phänomen am besten, *hicks*, mit offenen LKW-Ladungen prall gefüllter Kar- toffelsäcke vergleichen. Biegt man allzu rasant ab, purzeln einige herunter. Physik. Und ge-nauso, *hicks*, werden unterhalb des Äquators gewaltige Massen eisigen Wassers – selbst an der Meeresoberfläche messen Forscher vor Ecuador aufgrund äußerst niedriger Thermokline trotz Äquatorlage lediglich 18°C – aus dem Humboldtstrom herauskatapultiert. Abermillionen Kubikmeter sinken rapide ab und durchqueren den Ozean tief unten als Strömung Humboldtis Extraordinaria weiterhin unbeirrt nordwärts. Bis diese schließlich wenige Kilometer von Costa Rica entfernt aufsteigt und mit südpolarer Kraft entlang des gesamten Küstenverlaufs unsere herrlichen Strände erreicht. Volle Breitseite. Sie können das Phänomen am besten, *hicks*, mit der Rhône vergleichen, die nahe Le Bouveret in den wärmeren Genfer See hinabsinkt und bei Genf wieder nach oben kommt; falls man Ihnen sowas im Fach Ozeanologie beibringt. — Hast du DAS gehört, Oliver, wie unverschämt dieser Kerl zu mir ist? Der hat doch getrunken! Jetzt tu endlich was! — Äh…äh…aber Sabrina, Pützelchen, bitte, sei doch nicht immer gleich aufgebracht. Glaub mir, er meint es nicht so. Bitte, bitte, Sabrina, lass ihn frei reden. Du, wir kommen gerade einer mega heißen Sache auf die Spur. Aber wenn du ihn anmotzt, weigert er sich am Ende noch weiterzuplaudern. Glaub mir, Sabrina, glaub mir, wir sind haarscharf dran!
El Diablo nutzte geschickt die willkommene Unterbrechung, um mit dem Schnabel rasch sein Tablet aus der Reisetasche zu ziehen. Besagtes Naturereignis bewirkt, dass Meerwasser mit Temperaturen nur wenig über dem Gefrierpunkt mein geliebtes Heimatland peinigt. Wie bei Puerto Caldera. Die Aufnahmen entstanden im März 2014 auf der Mole. Von Dezember bis Ap-ril misst der Pazifik dort konstant 1,8°C, *hicks*, einzig und allein Costa Ricas wärmende Son-ne verhindert Eisbildung sowie ein Zufrieren des nahegelegenen Haupthafens Punta Arenas. BOOAAAHHH!!!!! Sabrina, schau!!!!! Das Meer sieht schon auf den Bildern ausladend aus!!!!!!!!!! BRRRRRR!!!!! Da friere ich ja allein beim Anblick. — Mensch, kapierst du es nicht, Oliver????? Der Typ hat dämlich fotografiert!!!!! Wie viele Likes? — Leider null. — Hahahaha, alles klar, Kleiner! — Hm…ich weiß nicht, Sabrina…also irgendwie beunruhigen mich seine Aufnahmen. — Und wo soll sie jetzt bitte schön sein, Ihre Strömung? Entschuldigen Sie bitte, wenn ich kurz unterbreche, ich bin auch gleich wieder weg!, vernah- men sie in dem Moment jene freundliche, äußerst sympathisch wirkende Flugbegleiterin von der Begrüßung vorhin. Es ist uns wirklich etwas unangenehm, eben ging schon die vierte Be-schwerde ein. Könnten Sie Ihre interessante Unterhaltung ein bisschen leiser fortsetzen? Nur so ein klitzekleines bisschen. Die anderen Businesspassagiere haben wie Sie viel viel Geld be-zahlt. Deshalb: Bitte einfach mehr doucement. Pssssssttt! Aaaaahhh! Das tut gut. Der 62%ige aus Aguacaliente. Bekommt man selbst da kaum. Alles für Touristen sowie Business Class und First Class beiseite geschafft. Komm, grad noch einen! DEN hatte er auch bitter nötig. Bei dem ganzen Misstrauen. O…o…ooozeanolologische Wissen-schaftsexpertennnn sowie Costa Ricaner erkennen das Vorliegen von Strömung Humboldtis Extraordinaria auf den Fotos am atypischen Wellenverlauf. — Oliver!!!!! Jetzt reicht’s mir end-gültig!!!!! Ich sag dir eins: Wenn… — Pssssstt!!! Bitte, Sabrina! Du weißt doch…die Stewardess! Nur eine Minute. Es dauert garantiert nicht mehr lang. Bitte, Sabrina, hab Geduld! Ich kaufe dir dafür in Liberia auch zwei funkelnde Diamantenketten. Versprochen!!!!! Großes Indianerehren-wort!!!!! — Normaaaaaaaaaaaaalerweise, *hicks*, normaaaaaaaaaaaaleeeeeeerweise rollt die Brandung mit ausgesprochen laaaaaaaaaaaaannnnggeeeeeennnn Wellen an, von der Mole bis hinten zum Landvorsprung. Angesichts antarktischer Verhältnisse besitzt das klirrende Was-ser jedoch eine Konsistenz, welche ausschließlich den Aufbau kleinerer, lokal begrenzter Wel-len zulässt. Hier, drei weitere Aufnahmen. — Darf ich? — Klar. Oh Gott!!!!! Genau da, in Puerto Caldera, wollten wir auf unserem Transfer einen kurzen Foto- stopp machen. Ehrlich gesagt möchte ich dabei aber nicht von der Mole ins Wasser fallen. Bei 1,8°C. Momentchen…grade mal auf die Karte schauen…hm…gut…dann soll der Taxifahrer vom Flughafen gleich den Weg via San Ramón und Espiritú Santo nehmen, und nicht die geplante Route über Atenas und San Mateo. Bin doch nicht lebensmüde!
Hmmmmmm…irgendwie merkwürdig…darf ich nochmal? — Klllaaaaaaaaar.
Da…genau dasselbe…wieder komisch… — Was soll komisch sein, Oliver? — Schau mal näher hin, Pützelchen, we… — Und n e n n mich nicht Pützelchen!!!!! Ich hasse das!!!!! — Ok, ok, Sabrina. Alles gut! Aber auf den Fotos…seltsam…am Strand…keine Menschenseele. — Hat er bestimmt wegretuschiert. Es gibt so Pedanten. — Wie leergefegt. Unheimlich. — Dann lass deinen Herrn Schlaumeier doch einfach weiterquasseln. Lallen tut er ja schon. Bin sicher, er weiß was. — Bitte, Sabrina, bitte, hör doch endlich damit auf! — Perfekt beobachtet, Oliver, aah…wir dutzen uns doch? — Gerne, super. Oliver. — El Diablo. Weißt du, Amigo, die Sache ist soooooooooooooooooo. Was nützt dir in Costa Rica der beste Strand, wenn du eh nicht ins Wasser kannst? — Klingt absolut plausibel. Ha! Von wegen wegretuschiert!!!!! — Eher kämst du komplett barfuß den Mount Everest sowie gleich anschließend den K2 hoch als im Neo-prenanzug zehn Meter weit ins Meer. Diese antarktische Eisbrühe friert einem binnen kurzer Zeit sofort alles weg. Sagen wir mit wirklich guter Kondition maximal fünf Minuten. Dann ge-ben auch sie freiwillig auf. Und jetzt frage ich dich ernsthaft: Was sollen Leute am Strand von Puerto Caldera, von dem sie ohnhin nichts haben? Costa Ricaner denken praktisch. Also blei-ben wir gleich daheim, sparen dadurch unnötiges Benzin und trinken unseren Rum irgendwo bei Freunden.
Sabrina mischte sich wieder ein: Wir sind aber keine Einheimischen. Außerdem ist unser Golf-resort sowieso viel weiter nördlich. Richtung Nicaragua. — Wo genau nochmal? — Playa de Matapalo. Hoteleigener Privatstrand. Traumhaft. Unser Miet-Katamaran liegt schon vor Anker. — POR DIOS!!!!! — Oh Gott, wie meinst du das, El Diablo? — Amigo…sieh selbst…
BOOAAAHHH!!!!! Sabrina, schau!!!!! Das Meer sieht schon auf dem Bild ausladend aus!!!!!!!!!!!! BRRRRRR!!!!! Da friere ich ja allein beim Anblick. Ffffhhhhh…ffffhhhhhh… — Meine Güte, was ist nun wieder los, Oliver? — Ffffhhhhh…ffffhhhhh…boah…mir ist plötzlich eiskalt, als ob fros-tiger Atem aus meinem Mund kommt…ffffhhhh…ffffhhhh…. — Oliver! Zieh jetzt bitte nicht wie-der deine Dramanummer ab!!!!! Hast du mich verstanden????? — Ffffhhhhh…ffffhhhhh… ich brauche dringend einen heißen Tee. Zum Aufwärmen…ffffhhhhh…ffffhhhhh…
Als könne sie Mützelchens Bestellwunsch erraten, sprang da auch schon hurtig wie auf Fin-gerschnipp die zwar noch relativ freundliche, dennoch irgendwie unsypathischer wirkende Flugbegleiterin von der Begrüßung vorhin herbei.
Entschuldigen Sie bitte! So geht das nicht! Vier unserer Stammgäste haben den Kapitän holen lassen und damit gedroht, nächstes Mal mit anderen Anbietern fliegen zu wollen; sollte es weiterhin laut zugehen. Das hier ist Busi- ness Class. Bitte, nehmen Sie entsprechend Rücksicht. Ihre spannende Konversation geht si-cherlich auch um einiges leiser. Doucement…pssssssssttttt! Danke!
Oha, mit der ist nicht gut Kirschen essen!, flüsterte El Desperado, nachdem die junge Dame endlich wieder fort war, leise. Hier sind noch welche, Oliver.
Du, sag mal, El Diablo…ffffhhhhh…ffffhhhhh…kommt es mir auf beiden Bildern nur so vor… oder ist die Brandung an der Playa de Matapalo anders? — Erneut perfekt beobachtet, Oliver. Ich merke, du hast den richtigen ozeanologischen Fachblick. Solche Fotos besitzen beinahe Seltenheitswert. Ungelogen. Geschlagene zwei Stunden saß ich beim Fotoshooting wie ange-wurzelt auf dem Ast – bis endlich dieses Exemplar kam. Strömung Humboldtis Extraordinaria drückt weiter oben im Norden dermaßen kalte Wassermassen in den Golfo de Papagayo, dass das Meer sozusagen ins Korsett gepresst wird. Es verliert vor lauter Eiseskälte quasi jegliche Lebenskraft. Hier bestehen keine wesentlichen Unterschiede zum Menschen. Vereinzelt alle paar Stunden auftretende Wogen bedeuten kaum mehr als eine Art letztes verzweifeltes Auf-bäumen vor dem Erstarren. — Deeeenk dran, Oliver. 1,8°C. Nur Costa Ricas Sonne verhindert Schlimmeres. — Hör nicht auf sie, Oliver. Zwischen 0,8°C und 1,1°C. Ehe sie drei Kilometer vor der Bucht empor kommt, sagen manche Forscher, überquert Strömung Humboldtis Extra-ordinaria unten auf dem Meeresgrund, wie zuvor vermutlich mehrmals seit ihrem Absinken südlich des Äquators, höchstwahrscheinlich nochmal ein unterseeisches Plateau mit etlichen kalten Quellen, englisch Cold seeps oder Cold vents genannt. Ihr austretendes Wasser muss extrem niedrige Temperaturen besitzen, weshalb der Pazifik selbst ganz im Süden nahe Pa-namas Grenze, seiner wärmsten Stelle, nicht über 3,0°C hinauskommt. Leider ist die Tiefsee bis heute praktisch unerforscht. Umfangreiche wissenschaftiche Expeditionen können hier si-cherlich wertvolle Aufschlüsse liefern. Das Problem: Tiefseeforschung ist enorm kostspielig, stimmt’s, Sabrina? Um aber wieder auf Ihr gebuchtets Ziel Playa der Matapalo zurückzukom-men: Nach dieser Welle herrschte erneut Flaute. Höchstens kleine Schaumkronen ab und zu an der Wasserkante. 90 Minuten später gab ich genervt auf und beschloß, tagsdrauf mein Fo-tografenglück an der benachbarten Playe de Coco zu versuchen.
Und kein einziger Badender zu sehen. Wie ausgestorben. — Ist doch logisch, Oliver. Denk an die Wassertemperatur, weißt doch, da hilft auch kein Neoprenanzug mehr. Du bist soooo blöd, kein Wunder, dass man dir das Zweite Staatsexamen verwehrte. — Nicht provozieren lassen, Oliver, die Stewardess. Wir müssen uns zusammenreißen. Sonst sind unsere teuren Business Class Plätze futsch. Außerdem gibt es schlimmere Dinge im Leben. Etwa Doktorarbeiten, die sich nachträglich als dreiste Plagiate entuppen. Stimmt’s, Sabrina? — Äh, aber sag mal, El Diablo, wenn wir dann auf dem Katamaran unterwegs sind, und einer von uns dummerweise ins Wasser fällt… — Oh, mein Gott, nicht auszudenken, Oliver! Denk dran, zwischen 0,8°C und 1,1°C. — Wiederum sehr scharf kombiniert, Oliver. Ich bin richtig stolz auf dich! Stürze aus Costa Ricas praller Hitze ohne jegliche Vorwarnung direkt ins eiskalte Antarktiswasser enden meistens tödlich. — Ffffhhhhh…ffffhhhhh…du, warte bitte kurz, El Diablo. Ich will mich unbe-dingt erst in meine warme Sitzplatzdecke kuscheln. Sonst erfiere ich noch. — Klar. — Danke, El Diablo. So, jetzt ist es besser. — Ein Risiko, dessen fatale Folgen die meisten Touristen auf ihren Katamaranen, Booten oder Yachten verkennen. Urlauber sind trotz überall angebrach- ter Warntafeln leider oft leichtsinnig, denken, der Pazifik könne ihnen trotz eindringlicher Hin-weise nichts anhaben. Doch dann…nur einmal unachtsam…und das war’s. Jedenfalls verzeiht Strömung Humboldtis Extraordinaria nur selten Fehler. Wie gnädigerweise damals im März 2014. — Mach mir jetzt bitte keine Angat, El Diablo, ich freu mich doch schon so lange auf un-sere tollen Katamarantouren! Was ist bloß passiert?
Aaaaaahhh, tut das gut!!!!! Der 62%ige aus Aguacaliente. Bekommt man selbst da kaum. Alles für Touristen sowie Business Class und First Class beiseite geschafft. Komm, grad noch ei-nen!!!!! Den habe ich jetzt auch wirkich bitter nötig!!!!! Auch einen, Amigo? — Nein, danke, El Diablo, ich trinke nicht. — Sehr löblich. Auf dich, Oliver! Also. Wie gesagt. Am nächsten Tag flog ich zur dank Strömung Humboldtis Extraordinaria um diese Jahreszeit nicht minder ent-völkerten Playa de Coco, wo die Wellenchancen nachmittags um einiges höher liegen. Mit ein bisschen Glück kriegst du dann binnen neunzig Minuten drei vor deine Kamera.
Wahnsinn, da ist niemand! Der Strand ist tot! Jetzt muss ich aber echt dumm fragen, El Diab-lo. Wo sind eigentlich die ganzen Touristen? — Amüsieren sich bei drittklassiger Poolanima-tion auf Kosten einheimischer Tiere. Meistens Leguane. — Wie auf Kosten einheimischer Tie-re? Versteh ich nicht. — Da komme ich gleich drauf zu sprechen , Oliver. Also. Wie gesagt. Es war bereits spät am Nachmittag, und die Sonne stand bereits tief. Der Himmel begann sich allmählich zu bewölken, weshalb Costa Ricas Hitze besonders unerträglich auf der Playa de Coco lastete. Einfach nur drückend. Passend zur gedrückten Stimmung. Mir schwante bereits unterwegs nichts Gutes, weil knapp zwei Kilometer vor dem Strand ein Seenot-Rettungs-hubschrauber eilig über mich hinweg Richtung Liberia flog. Also. Wie gesagt. Welle Nummer 1 war nach nur fünf Minuten im Kasten. Anschließend ging es zu jener Palme da, von welcher ich die nächste zusammen mit schönen Zweigen eines Baumes im Bild festhalten wollte. Das einzige, was ich allerdings nur zu sehen bekam, bestand lediglich aus leichtem Geplätscher, erzeugt durch ein gerade entlang gerastes Patroulllienboot unserer Küstenwache.
Warum das denn, El Diablo? — Augenblicke später schrie eine Stimme im militärischen Kom-mandoton Anweisungen aufs Meer hinaus. Leider darf ich sie nicht originalgetreu wiederge-ben, ansonsten sitzen wir nämlich gleich eingepfercht beim Fußvolk in der Economy Class. Also. Wenn jene drei ertappten Bootsfahrer nicht unverzüglich wieder den Anker ließen und wie alle anderen brav die Evakuirung abwarteten, werde man sämtliche Insassen sofort fest-nehmen. Danach fuhr es weiter. Obwohl mir die Gründe solcher drastischen Maßnahmenan-kündigungen vollkommen klar waren, flog ich neugierig hin. Und siehe da. Dreißig Minuten da-rauf zeigte sich dort prompt Welle Nummer 2.
Weitere dreißig Minuten verstrichen. Welle Nummer 3 erschien. Ja, da kannst du an der Playa de Coco fast schon deine Uhr nach stellen.
Ich krächze: Hey, bei der unerträglichen Nachmittagshitze wäre jetzt ein Rum on the rocks ir-gendwo drüben im Schatten ideal. — Der aus Aguacaliente? — Ne, den gibt’s an der Playa de Coco nicht, nur drittklassigen 38%igen aus dem Supermarkt. Aber egal. Also. Ich sitze dann da auf meinem bequemen Ast, als unten vor mir plötzlich ein Leguan im Sand gut getarnt vor-beihuscht. Als sei er panisch auf der Flucht.
Hola, Amigo! Wohin des Weges so schnell?, rufe ich. Ist deine Frau mit dem Nudelholz hinter dir her? Was ist los, Oliver? Ohje…bitte sag jetzt nichts. Er blieb stehen, drehte sich wie ein ge-hetztes Tier keuchend um in meine Richtung.
Amigo, brachte er schnaufend hervor, halt mich bitte bitte nicht auf, ich muss in zehn Minuten im Big Pacific Ocean Blue Star sein. Im Costa Rica Always Sun And Fun wollten die Poolgäste eben gerade zehn Zugaben. — Die erniedrigende Affennummer als Robin Hood auf dem Seil? — Ja! Genau die! — Du Armer! — Und du? — Hatte den Gag mit dem Sonnenuntergang. — Nicht dein Ernst? — Bin dann aber aus ausgestiegen. — Danke Gott, dass du den Absprung geschafft hast! Amigo, ich muss jetzt wirklich weiter! — Ok, will dich nicht aufhalten. Nur eine kurze Frage noch. — Komm, mach, die schmeißen mich sonst raus! — Ist wieder einer ins Wasser gefallen? Bereits im Umdrehen begriffen, hielt der Leguan traurig inne.
Irgendein neureicher Australier. Angeblich mehrfacher Lottomillionär. Hat wohl erst vor vier Wochen abgesahnt und dann gleich per Internet eine hier sofort losfahrbereite schicke Yacht gekauft. Befand sich zu nah an der Reeling, meinten Polizeioffiziere. — Zu viel Champagner, nehme ich an. — Nein, es war so. Er stand da halt nichtsahnend, als seine Frau von hinten kam und ihm leicht auf die Schulter tippte. Sie wollte laut eigener Aussage eigentlich nur was völlig Harmloses von ihm. Na ja. Jedenfalls verlor der Typ vor lauter Schreck das Gleichge-wicht. — Tot? — Iron Man Sportler. Super Kondition. Topp in Form. Kommt durch, sagte der Notarzt, muss aus medizinischer Sicht gleich drei Schutzengel auf einmal gehabt haben, in- nerhalb von 12 Sekunden schaffte er es allein aus dem eisigen Grab. Zwei mehr…Exitus. Die-sen akuten Temperatursturz von aktuell 37,5°C Außen- auf 1,0°C Wassertemperaur hält kein menschlicher Kör… — AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHH!!!!!!!!! — EYYYYY, SAG MAL, OLIVER, SPINNST ODER WAS????? DA WAR NUR EIN KLEINER FUSSEL AN DEINER SCHULTER!!!!! — PSSSSSSSSTTTTT, SEID IHR BEIDEN VERRÜCKT GEWORDEN????? DENKT AN DIE *HICKS* FLUUUUUUUUUUUGBEGLEUUIITERIN!!!!! — CHARLES BUKOWSKI!!!!! CHARLES BUKOWSI!!!!! OOOH GOOOOOOTTTT!!!!! ICH NARR!!!!! MEIN EINER PROFESSOR AN DER SORBONNE HATTE RECHT!!!!!!! Erinnerst du dich, Sabrina? — UND NEEEEEENNNN MICH NICHT SABRINA!!!! ICH HAAAAAAAAASSSSSSEEE DAS!!!!!!!
Wir hielten ihn damals für absolut komplett durchgeknallt. Er berief sich auf Luthers „Allein die Schrift“ sowie den Hinduismus. Lehrte, alle textlich überlieferten alten Epen hätten sich einst buchstabengetreu – ohne jede Abweichung – tatsächlich so zugetragen. Geschilderte Er-eignisse unterlägen ferner in ihrer Grundstruktur dem ewigen Reinkarnationskreislauf, wür-den als teils identische teils abweichende Erscheinungen über die Jahrhunderte hinweg wie-dergeboren. Dann fing er jedoch damit an, seine krude Theorie auch anhand neuerer Literatur zu belegen, und die Sorbonne warf ihn hochkant raus. ES PASST AUSNAHMSLOS ZUSAMMEN! Der Zug ist dieses Flugzeug. Der Pazifik an Costa Ricas Küste eine antarktische Wasserhölle. Und durch die Fotos von El Diablo haben wir sie gerade erreicht. Nicht schön! Frau, bitte, ver-steh doch: WE MET A GENIUS ON THE AIRPLANE TODAY!!!!!
I met a genius on the train today
about 6 years old,
he sat beside me
and as the train
ran down along the coast
we came to the ocean
and then he looked at me
and said, it’s not pretty.
Was für eine unfreundliche, unsympathisch wirkende Stewardess von der Begrüßung vorhin!, schimpfte Herr Tuki Tukan aufgebracht, nachdem Oliver, Sabrina und er auf der letzten, ex-trem engen, keinerlei Beinfreiheit gewährenden Dreiersitzreihe Platz genommen hatten. Lässt dich nicht mal I Met A Genius zuende rezitieren: it was the first time I’d realized that.
Erzählrunde 5
Santo Domingo. Aeropuerto Internacional de las Américas. Crew- sowie Maschinenwechsel. Während die meisten Passagiere hier ihr Ziel endlich erreicht hatten, voller Urlaubsfreude den Hinweisen Salida/Exit folgend der Pass- und Zollkontrolle entgegeneilten, orientierten sich circa dreißig verbliebene Weiterflieger an der Bezeichnung Transit, um nach erneutem obliga- torischem Sicherheitscheck Boardingate A2 zu erreichen. Wie bereits in Frankfurt allen weit voraus, durchflog El Desperado die nachts kurz vor halb vier völlig verwaisten Gänge, immer noch mit diesem dumpfen, unerträglichen Gefühl im Bauch, man denke insgeheim von ihm, er sei im Auftrag des Reiseveranstalters als tropisch-exotischer, stets zum heiteren Scherzen aufgelegter Bordbespaßer mit unterwegs.
A2 war dank exzellenter, kundenfreundlicher Beschilderungen problemlos bereits von weitem erspäht. Perfekt, dachte sich unser Costa Ricaner sichtlich zufrieden, Santo Domingo hat we-nigstens einen Gatebereich mit großen Fenstern für uns im Angebot, nicht wie dieser unzu-mutbare Bunker B14/B60, grässlich. Es gibt doch nichts schöneres als vor dem Boarding ge-mütlich das geschäftige Treiben auf dem Vorfeld zu beobachten. Vor allem die Flugzeugbferti- gung finde ich jedes Mal mega spannend, weil ja irgendwo im Container auch mein Gepäck ist. Kaum zuende überlegt, entdeckten seine stets neugierigen Äuglein beim rasanten Hineinflat-tern ins Gate auch schon ein urgemütliches Plätzchen ganz da hinten im Eck, welches ideale Blickmöglichkeiten auf jene Maschine bot, welche die sichtlich kleiner gewordene Reiseschar um 04.45 Uhr weiter nach San José bringen sollte. So steuerte Flugkünstler El Diablo zielge-nau einen dieser zahlreichen runden Stehtische direkt am dicken Fensterglas an und begann sofort damit, die Aussicht auf den gerade startklar gemachten Flieger rundum zu genießen.
Supi, das Pushback-Fahrzeug ist ja auch schon da, jublierte El Desperado innerlich, ein gutes Zeichen! Dann jedoch stockten die gedanklichen Genüsse. Etwas irritierte seine jederzeit hell-wachen Hörvorrichtungen. Dumpfes Gemurmel im Hintergund kam näher, zunächst ein unde-finierbarer akustischer Einheitsbrei, aus dem sich alsbald erste deutlich vernehmbare Wort-fetzen herauskristallisierten. Die Nachhut holte auf, wollte nun auch dorthin, wo er bereits war. Der ausgelassenen Lautstärke nach zu beurteilen hatte die lange Atlantiküberquerung trotz Zeitverschiebung der allgemeinen Stimmung offenbar keinen Abbruch getan. Im Gegen-teil. El Diablo kam es so vor, als sei sie im Vergleich zu Gate B14/60 sogar noch fröhlicher ge-worden. Anscheinend liefen die Costa Rica Urlauber erst jetzt während ihres Zwischenstopps so richtig zu touristischer Höchstform auf, sei es aus Freude über nun selbst in der Economy Class winkende großzügige Bewegungsgreiheit, sei es jenes untrügliche Gefühl, dass lediglich knapp zwei Flugstunden vom heißersehnten Traumziel trennten.
Wie unser gefiederter Freund leider sehr rasch sowie darüber hinaus höchst unerfreut fest-stellen musste, sonderte sich aus diesem allgemeinen Stimmengewirr ein kleiner Teil ab und steuerte ausgerechnet jene Ecke an, von der aus seine Blicke gerade das fachgerechte An-koppeln des tonnenschweren Schleppers begutachteten. Mädels, wir gehen mal gucken, was der Flieger so macht. Ihr beibt uns aber dahinten schön brav treu, gell?, tönte hessischer Ak-zent herüber. Hohohohohoho, meint ihr, unsere flotten Damen schaffen das die paar Minuten? Schallendes Gelächter. Eine ältere fidele Herrenriege in Champagnerlaune kam dem runden Stehtisch unaufhaltsam näher. Ei, Manfred, schau, da drüben sitzt ja unser Conferencier! Los, Jungs, den fragen wir gleich, welche Nummern er für den Weiterflug parat hat. — Hast Recht, Lutz. Kommt, Männer! Affenstarke Leistung die Einlage mit seinen beiden Kollegen als unan-genehm aufgefallene Business Class Passagiere. Vom Käpt’n persönlich unter Protest auf die hinterste Economy Sitzbank verbannt. Hollywood pur! — Sagt einmal, wo sind die zwei ei-gentlich abgeblieben? — Ei, ist doch logisch, Josef, die proben bestimmt irgendwo „Handfes-ter Ehekrach“. Schallendes Gelächter.
Ist das peinlich!, dachte El Desperado nur. Jetzt bloooß nicht so tun als hätte ich was gehört. Jetzt bloß nicht umdrehen. Schön tapfer weiter aufs Flugzeug schauen. Sich auf keinen Fall in Gespräche verwickeln lassen. Besagter Trick zog tatsächlich. Aber um welchen Preis? Eeiiiii, Hans, geh mal her! Dahinten! — Wooooo? Seh nix! — Na daaaaaaa, du ahler Simbel!!!! Unser Pilot ist ein Tiger. — Oioioioioioioioi, Ooooobacht, Männer, jetzt wirds gefäääährlich! Passt mir nachher drinnen bloß gut auf eure Frauen auf!!! Grrrrrrrrrrrrrrrrrrr, isch bin ein Tiiieescheeer, grrrrrrrrrrrrr!!! — Mach doch unserem armen Bordmaskottchen keine Angst, sonst vergisst es am Ende nachher noch seinen Auftritt. Auf drei. 3, 2, 1,
Schnaps, das war sein letztes Wort,
dann trugen ihn die Englein fort.
Schnaps, das war sein letztes Wort,
dann trugen ihn die Englein fort.
Mit beiden Flügeln hielt sich El Diablo so fest wie er nur konnte die Gehöröffnungen zu. Weg, weg!!! Ich muss hier weg!!! Diesen Karnevalsschlager ertägt mein Kopf keine Sekunde länger!, rauschte es ihm durch den vom harten Aguacaliente leicht benebelten Schädel, woraufhin er schleunigst das Weite suchte.
Doch wohin um diese Uhrzeit? Der gesamte Transitbereich war vollkommen leergefegt. Keine Bar offen. Kein Duty Free, in dem man sich für Teil 2 des Fluges mit hochprozentigem Proviant hätte eindecken können. Hm, vielleicht beginnen sie in Santo Domingo ja eher mit dem Boar-ding als angegeben, dann könnte ich es mir im Flugzeug schön gemütlich machen.
Hätte ich mir eigentlich denken können!!!!! Fest verschlossene Schiebetüren machten mögli-cherweise vorzeitig borden wollenden Passagieren unmissverständlich klar, dass Santo Do-mingos Flughafenmitarbeiter keinesfalls gewillt waren, anders als ihre Frankfurter Kollegen zu arbeiten. Also. Wohin jetzt? Gerade wollte sich Lieutenant Goldfingerl umdrehen, um nach Alternativen Ausschau zu halten, als ihn seine Aufmerksamkeit erneut auf die blau-weiße Ab-flugtafel lenkte. Irgendetwas stimmte nicht.
Ist das peinlich!, dachte El Desperado nur. Ok, wenn sie in Frankfurt kein Spanisch können, dagegen haaab ich ja nichts. In einer Spanisch sprechenden Ex-Kolonie sollte es sich dagegen trotz Unabhängigkeit mittlerweile irgendwie schon überall herumgesprochen haben, dass es San José heißt! San José! Mit é hinten! Oder machen die das hier absichtlich? Ha, bestimmt kamen Anweisungen von der Tourismusindustrie, um meine Heimat Costa Rica als Urlaubs-ziel unfair herabzusetzen. Dadurch will man zeigen, dass die Dominikanische Republik besser geeignet ist. Frechheit! Sollen lieber zwei, am besten drei hübsche Chicas fürs Boarding an-tanzen!!! Doch hinter der schimmernden Abflugtafel blieb alles dunkel wie die Nacht draußen. Also. Wohin jetzt? Kurzzeitg wurde erwogen, zur munteren älteren Herrenriege zurückzukeh-ren. Was umgehend wieder verworfen wurde. Jene sechs lustigen Hessen hatten nämlich ih-ren Frohsinn inzwischen unter den gesamten Weiterfliegern quasi im Schnelltempo verbrei-tet. Zum Dirigententeam geworden gaben sie den Takt zu einem alten Paul Kuhn Schlager vor, welchem der A2-Chor, eingehakt wie auf Karnevalssitzungen schunkelnd, inbrünstig folgte:
Es gibt kein Bier auf Hawaii, es gibt kein Bier.
Drum fahr ich nicht nach Hawaii, drum bleib ich hier.
Es ist so heiß auf Hawaii, kein kühler Fleck,
und nur vom Hula-Hula geht der Durst nicht weg.
Jetzt teste ich einfach mal diesen hell erleuchteten Gang, beschloss daraufhin Lateinamerikas trinkfestester Tukan angesichts weiterhin akuter Gehirnvibirierungen, dort hat bestimmt et-was geöffnet.
Just gestartet, potentiell schluckabarem Hochprozentigem schwungvoll entgegen, entschloss sich unser Pilot kurz vor den grellen Weganzeigern jedoch zur dringenden Notlandung.
Ist das peinlich!, dachte El Desperado nur. Von der linken oder rechten Gangecke hinten, so ganz genau ließ sich das von hier nicht lokalisieren, lärmten ihm zwei bekannte Stimmen ent-gegen.
BITTE, SABRINA, SEI DOCH VERNÜNFTIG!!! DU KANNST MICH DOCH NICHT HIER ALLEI- NE ZURÜCKLASSEN!!! WAS WIRD DENN DANN AUS UNSEREN FLITTERWOCHEN??? — OH, UND OB ICH DAS KANN, OLIVER!!! SIEH ZU, WIE DU IN COSTA RICA SELBER FLITTERST!!! UND ICH SAG DIR NUR EINS, OLIVER: MIT MIR NICHT!!! MIT MIIIIIIR NICHT!!! — SABRINA, BIIITTE, BIIITTE BLEIB, ICH LIIIIIIEEEBE DICH DOCH!!! — MEHR HAST DU MIR NICHT ZU SAGEN??? SELBST MIT DICKSTEN TOMATEN AUF DEN AUGEN SIEHT MAN DOCH GLEICH, WAS DAS FÜR EIN ZWIELICHTIGER VOGEL IST!!!!! — ABER SAB… — HÖR GUT ZU, OLIVER!!!!! I C H BIN PROMOVIERTE OZEANOLOGIN. ANSTATT MICH ALS DEINE FRAU ZÄRTLICH ZU KÜSSEN, LÄSST DU DICH LIEBER VON SO EINEM VOLLQUATSCHEN. DER HAT SIE DOCH NICHT MEHR ALLE!!!!!! IN MEINEM GANZEN LEBEN BIN ICH NOCH NIIIIIIIIIEEEEEEEE VON EINEM MANN SOOOOOOOOO GEDEMÜTIGT WORDEN!!! UND DAS, OLIVER, DAAAAAAAAAS VERZEIH ICH DIR NIEMALS!!! DU UNMENSCH!!!!! — SABRI… — HAST DU EIGENTLICH SCHON GESCHAUT, OB DEIN PORTE- MONNAIE NOCH DA IST? — ALSO JETZT MACH MAL EINEN PUNKT, JETZT HÖR ABER AUF!!! — EINER KOLLEGIN HABEN SOLCHE TYPEN AN DER COPACABANA IHRE GELDBÖRSE UN-TERM HANDTUCH WEGGEKLAUT. OBWOHL SIE DRAUFSASS. NICHTS GEMERKT. NUR SO ALS INFO. — SABRIIIIIIIINNNNAAAAAA, BIIIIIITTEE VERLAAAASS MICH NICHT!!!!! — NUN GUT, OLI-VER. AUSNAHMSWEISE. ABER NUR WENN DU DICH MIR ZU FÜSSEN WIRFST!!!!!
Sehr gut, Oliver, jetzt kannst ihr endlich zeigen, dass du der Herr im Haus bist!, feuerte Macho Tucano Sabrinas Ehemann geistig an. Sei cool, dreh dich auf dem Absatz um, lass sie stehen und flieg alleine weiter. In Costa Rica finsdet du genug heiße Chicas, die gerne nach Europa möchten. Und soooo toll sieht deine nun auch nicht aus. — AUF DIE KNIE OLIVER!!! — Schö-nen Urlaub auf der Dom Rep, Sabrina! — SIIIIIIIIIIIEEEHHHSTE! GEHT DOCH!
Oh nein, er ist eingeknickt. Aber dafür weiß ich jetzt wenigstens, wem dieser achtlos liegenge-lassene Transitschein gehört, hatte mich schon gewundert.
Mit dieser Erkenntnis also flog El Diablo von Santo Domingo weiter nach San José, ohne je-mals herausgefunden zu haben, ob er, dem hell erleuchteten Gang folgend, in einer Bar oder einem Duty Free Shop vielleicht doch noch an köstlichen Rum gekommen wäre.
Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 3 - Der
Projektausflug (Aus den gedanklichen Memoiren der Fürstäbtissin von Ilbenstadt)
Erzählrunde 1
Zeitungsmitarbeiter: Hochwohlgeborene Fürstäbtissin, wenn ich nochmal so spontan zurückblicke, können meine überschwänglichen Worte wirklich nur aufs Neue jene bereits von mir drinnen beim Empfang gegenüber Ihrem Herrn Vater geäußerte Bemerkung wiederholen: Cet petit château est d’une beauté féérique!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Merci, merci, Monsieur. Zugegeben, unsere bescheidene Sommerresidenz ist tatsächlich recht schnucklig. Fast unglaublich, stand doch das Rumpenheimer Schloss infolge Kriegseinwirkungen bis 2002 trostlos in der Gegend herum, lediglich die Seitenflügel waren bis dahin intakt. Hahahahaha, letztes Jahr hat es sich dann Papa samt dem Offenbacher Stadtteil unter den Nagel gerissen.
Zeitungsmitarbeiter: Und im Inneren überall heiteres, verspieltes, einladendes Rokoko. Traut man dem Schlösschen von außen keineswegs zu. Wahrscheinlich sündhaft teuer gewesen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ach, ich sag Ihnen! Papa ordert Interieur ausschließlich in Paris. Chefsache. Düst jeweils höchstpersönlich am Steuer mit dem gelb-roten gräflichen Möbeltransporter zum Abholen hin. Begleitende Entourage folgt in Kleinbussen. Ist zugleich Kurzurlaub.
Zeitungsmitarbeiter: Dann strömen gewiss permanent von ringsumher scharenweise sensationsgierige Touristen herbei, vermuten witzige Marketinggags oder spannendes Straßentheater. Soweit ich Sie beim Rausgehen richtig verstand, trägt der Hanau-Münzenberger Hof grundsätzlich Louis Seize beziehungsweise Louis Quinze. Überall.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Korrekt. So wie es sich für eine absolutistisch regierte Grafschaft geziemt. Wobei seit Ende der verbliebenen Coronamaßnahmen, sprich seit Ablauf des 07. Aprils, zeitgleich mit Hessen, Louis Quatorze schwer en vogue ist. Neues, postpandemisches Lebensgefühl. Ähnlich dem Barockzeitalter als Reaktion auf den Dreißigjährigen Krieg.
Zeitungsmitarbeiter: Nachvollziehbar. Zwei Jahre Covid-19-Horror haben eine ganze Generation geprägt. Kombiniere: Folglich war die galante offizielle Begrüßungszeremonie auf Französisch für mich vorhin definitiv kein Kostümball.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Im Gegenteil, höfischer Alltag. Deswegen fiel Papas Wahl exklusiv auf Sie, niemand sonst bei Ihrer Zeitung besitzt entsprechende Sprachkenntnisse. Steht Ihnen übrigens super, Ihre gepuderte Zopfperücke mit Anzug und Schuhen. Chic, chic! En parfait gentleman!
Zeitungsmitarbeiter: Gewöhnungsbedürftig. Wir schreiben heute den 03. August 2022. Neun Uhr vorbei. Seit zehn Minuten gelten Hitzewarnungen. Zweifellos wäre eine Badehose praktischer. 36℃ soll’s geben.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Meinen Sie, mir geht’s besser in meinem Habit? Dazu der Äbtissinnenstab! Angesichts drückender Temperaturen sparen selbst wir kühles Nass.
Zeitungsmitarbeiter: Sehr vorbildlich. Schlimm, mit der Trockenheit dieses Jahr.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Mama würde ja gerne, ohne plätschernde Fontäne fehlt dem Ensemble etwas. Bedenken Sie jedoch den sofort im Internet losbrechenden Shitstorm. Auf solche Gelegenheiten lauern unsere Hater wie der Fuchs auf die Gans. Hm, schlage vor, wir nehmen fürs Interview lieber die andere Richtung zur Fähre. Ich meide die Gasse wie die Teufelin das Weihwasser.
Zeitungsmitarbeiter: Dann stimmt es also tatsächlich, was man sich in der Wetterau erzählt.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Aaaaaaaaaahhh, verstehe, daher weht der Wind. Wetterau. Ilbenstadt. Grafentochter. Hanau-Münzenberg. Hahahahahahaha, deshalb sind Sie vom Wetterauer Dorfpostillon losgesandt worden. Hahahahaha, sollen listig herausfinden, was dran ist an den Gerüchten. Raffiniert.
Zeitungsmitarbeiter: Madame, wir sind nur ein unbedeutendes Miniwochenblättchen, am Leben erhalten von großherzigen Sponsoren, erscheinen aus Kostengründen nicht mal in der gesamten Region. Umso größer unser Dank für das huldvoll gewährte Privileg, Sie, hochwohlgeborene Fürstäbtissin interviewen zu dürfen. Verständlicherweise interessiert heimatverbundene Leser die Frage, unter welch dubiosen Umständen Ilbenstadt mitten in der Coronapandemie, mitten im Lockdown 2, quasi über Nacht aus rätselhaftem Nichts hervorgezaubert, keiner kann sich’s bis dato erklären, wieder zum Kirchenstaat wurde. Nach Ihres Herrn Vaters Grafschaft Hanau-Münzenberg das zweite souveräne absolutistische Gebilde binnen vier Jahren. Darüber hinaus jedoch bereitet ihnen die primäre Sorge, ob das altehrwürdige Stift seitdem kompetent regiert wird, schlaflose Nächte.
Fürstäbtissin von llbenstadt: Monsieur, wir haben vielmehr dem Wetterauer Dorfpostillon zu danken. Kenne ich übrigens, steckt regelmäßig im Klosterzeitungsrohr. Wissen Sie, die großen Blätter ignorieren uns beharrlich, die Regenbogenpresse überbietet sich an realitätsfernen Klatschgeschichten aus Schloss Philippsruhe. Dabei strahlt Papas absolute Macht unübersehbar vom Main bis weit in den Spessart. Nebenbei gefragt… kennen Sie eigentlich Ilbenstadt?
Zeitungsmitarbeiter: Ich muss zu meiner großen Schande gestehen, lebe seit meiner Geburt zwar in Florstadt, hab’s jedoch tatsächlich kein einziges Mal hingeschafft.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Na, sowas aber auch!
Zeitungsmitarbeiter: Weiß allerdings aus der Schulzeit das mit der 1803 säkularisierten Prämonstratenserabtei. Und ja, bekanntlich 2021 als Frauenkloster erneut besiedelt. Allerdings verweigert Ihnen der offizielle Orden jegliche Anerkennung. Der Konvent, ausnahmslos Ihnen treu ergebene, ehemalige Oberstufenmitschülerinnen des Abiturjahrgangs.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Exactement.
Zeitungsmitarbeiter: Eine imposante mittelalterliche Basilika ziert den Ort.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Jooooaaaa, schindet ordentlich Eindruck. Im Vergleich dazu wirkt Rumpenheims Schlosskirche provinziell. Hahahahahahaha, anscheinend besaßen unsere Vorgänger nicht ganz so dicke Portemonnaies wie die Prämonstratenser. Meine Güte, sehen Sie bloß das Laub und die Äste. Der arme Baum. Kaputt vom ausbleibenden Regen.
Zeitungsmitarbeiter: Ähm…mit Verlaub, hochwohlgeborene Fürstäbtissin…das starke Sonnenlicht…
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Stimmt. Jetzt wo Sie sagen. Mon diiiieeeeeuuuuuuuu, ich glaub, ich brauch ne Brille! Mit zwaaaaaaaaannnnzig!!!!!
Zeitungsmitarbeiter: Unfassbar. Marcos Biergefasel in unserer Stammkneipe ist wahr. Immer nach dem dritten Pils. Sie existiert tatsächlich, die erbarmungslos scheinende, alles versengende Sonne Hanau-Münzenbergs…sogar menschliches Wahrnehmungsvermögen. Noch vorhin hielt ich es für typisch adlige Scherzerei, als Ihr Herr Vater mir zum Schluss zuflüsterte: „Mais attention, mon cher ami: Ist sie zu stark, bist du zu schwach!“
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Irgendwie beschleicht mich das ungute Gefühl, dass Sie zudem vorher noch nie in unsere wundervolle Grafschaft gereist sind.
Zeitungsmitarbeiter: *räusper*
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Na, sowas aber auch! Egal. Über was konkret möchten Sie Ihrer geneigten Leserschaft berichten? Ehrlich, bitte!
Zeitungsmitarbeiter: Der Redaktion wurden diverse Augenzeugenberichte hochbrisanten Inhalts zugespielt.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ich lach mich schief. Dem Wetterauer Dorfpostillon?
Zeitungsmitarbeiter: Offensichtlich mehren sich Stimmen, welche Ihre politischen Fähigkeiten anzweifeln.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Das ist ja eine bodenlose Unverschämtheit! Darf ich mir mal diese Aussagen ansehen?
Zeitungsmitarbeiter: Selbstverständlich. Hier. So wirft Ihnen eine über jeden Zweifel erhabene Nieder-Wöllstädterin am 30. Juli 2021 per E-Mail unter anderem feudale Ausbeutung des Dienstpersonals vor.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Aus Nieder-Wöllstadt? Hmmmm…okeeee…hmmmm…Quatsch mit Soße! Eindeutiger Fall übermäßigen Alkoholkonsums. Zehn Doppelte. Mindestens! Oder war etwa Hanau-Münzenbergs Sonne zu heiß?
Zeitungsmitarbeiter: Eine einzige Reinigungskraft für den gesamten Abteikomplex. Inclusive Gehwege, Platz und Garten. Schlimmer als im Mittelalter die Leibeigenschaft. Zumal laut schockierter Zuträgerin an besagtem Tag extrem mühselige Zusatzaufgaben anstanden.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Nur immer raus mit der Sprache!
Zeitungsmitarbeiter: Steht alles schwarz auf weiß da: Entfernung hartnäckiger Schmierereien auf dem Pflaster, ausnahmslos gegen die damaligen Coronamaßnahmen gerichtet, nach Ihrer vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Abiturfeier.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass im Stiftsgebiet Ilbenstadt Klosterangestellte jemals zu unwürdigen Konditionen arbeiteten. Für Detailinformationen kontaktieren Sie bitte die Personalabteilung. Amanda hilft Ihnen als fachkundige Leiterin gerne weiter. Zur anderen Sache, diesbezüglich fehlt mir ebenso jede Erinnerung.
Zeitungsmitarbeiter: Was Ihnen unsere werten Leserinnen und Leser sofort glauben, heiß wie es herging. Alles voller sturzbetrunkener Leute. Dann. Die Schnapsidee par excellence. Circa dreißig Typen wollten plötzlich der holden Weiblichkeit imponieren, versuchten gröhlend auf dem Klosterplatz Fahnenmasten und Verkehrsschilder mit Manneskraft umzulegen, wobei offenbar ein gewisser Leon besonders hervorstach; von Ihnen, hochwohlgeborene Fürstäbtissin, eifrig begleitet von stimmgewaltigen Mädels, aus den Fenstern des Äbtissinnenhauses champagnerflaschenbewaffnet mit „Leon! Leon!“ Rufen kaum weniger lautstark angefeuert. Allein weil der Suff diese Kerle eher umnietete, blieben die Stangen, wenn auch teils schief, stehen – nicht nur zum Entsetzen unserer glaubwürdigen Informantin.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Erinnerungslücken. Wer, bitteschön, ist Leon? Tut mir leid. Ich muss einen ziemlichen Filmriss gehabt haben, bin ja schon nach einem Glas Sekt ziemlich beschwipst. Überhaupt, jene Möchtegernindizien sind derart nichtssagend, darüber lachen ja die Hühner!
Zeitungsmitarbeiter: Wie dem auch sei. Jedenfalls vertreten mächtige, einflussreiche Kreise, nicht nur in der Wetterau, den einhelligen Standpunkt, Partys, Konzerte und Discos stünden einer Zwanzigährigen wesentlich besser zu Gesicht. Nach offizieller Aufhebung der Coronamaßnahmen endlich von Neuem das junge Leben in prallen Zügen genießen, Spaß haben, auf Ibiza die Clubs unsicher machen, volle Kanne abfeiern, anstatt nach Lust und Laune unüberlegt zu schalten und zu walten wie’s grade beliebt.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Na wartet, euch werd ich was!!!!
Zeitungsmitarbeiter: Man prangert anhand des delikaten Vorfalls exemplarisch Ihre völlige Inkompetenz an, weil Sie gleich zu Beginn der wüsten Sause mit einer bereits halb geleerten riesigen Champagnerflasche schwankend spontan für vierundzwanzig Stunden sämtliche Coronaregeln auf Ilbenstädter Stiftsgebiet außer Kraft setzten. Anfang Juli 2021 skandalös ohnegleichen. Null Abstand. Keine Teilnehmerhöchstzahl. Keine Maskenpflicht. Keinerlei Impfnachweise. Keinerlei Genesungsnachweise. Von Tests ganz zu schweigen. Was rasch beim regionalen und überregionalen, CoVid-19 bedingt ausgebremsten Partyvolk helle Begeisterung auslöste. Geschockte Fernsehreporter wähnten sich auf der früheren Berliner Loveparade.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Bedaure, auch hier verweise ich ausdrücklich auf meine bereits genannten Erinnerungsdefizite.
Zeitungsmitarbeiter: Erschwerend kommt zum Ganzen hinzu, dass zwischen Feier und Ihrer am 01. Juli erfolgten feierlichen Inthronisation lediglich zwei Tage lagen. Anders ausgedrückt. Mithilfe dieses gelungenen Einstandes haben Sie Ihren Gegnern wirklich einen Bärendienst erwiesen. Meine Güte!!!!! Knallen die beiden Sonnen grell vom Himmel runter!!!!!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Zwei Sonnen?
Zeitungsmitarbeiter: Schräg oberhalb des kleinen Rundtempels jeweils eine.
Fürstäbtissin von lIbenstadt: Ähm…mit Verlaub…der Baum…
Zeitungmitarbeiter: Wahnsinn!!!!! Hanau-Münzenbergs brennende Sonne erzeugt im Hirn tatsächlich Halluzinationen. So muss Marco sie erlebt haben. Und wir hielten ihn bislang für einen lausigen, an den Haaren herbeigezogene Biermärchen lallenden Aufschneider. Am Kneipentresen fiel er auf die Knie, rutschte herum, flehte jeden einzelnen tränenüberströmt um der Liebe Christi willen an, sich vor ihr zu hüten, sollten wir je die Grenze überqueren.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ist sie zu stark bist du zu schwach. Hmmm… Papa hat den Spruch doch von irgendwoher…hmmmmmm. Mist, komm nicht drauf.
Zeitungsmitarbeiter: Bald fange ich an, meinen eigenen Verstand zu hinterfragen. Aber kurz etwas anderes. Reine Neugier. Weshalb schleppen zwei Diener ständig dieses schwere Cembalo hinterher? Hören Sie doch bloß die Bemitleidenswerten in ihren historischen Livrees stöhnen. 36°C soll’s heute geben.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Als künstlerisch Begabte muss mir das Instrument jederzeit einsatzbereit zur Verfügung stehen.
Zeitungsmitarbeiter: Will mich jetzt um keinen Preis wiederum umdrehen, könnte den Anblick kaum mehr ertragen. Eine Verschnaufpause auf der Bank täte den beiden fraglos gut.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Nichts da! Die bei der Flugzeugabfertigung am Frankfurter Flughafen können sich schließlich auch nicht mittendrin einfach hinsetzen.
Zeitungsmitarbeiter: Aber dort fährt an solchen Hitzetagen wenigstens regelmäßig ein Wagen mit leckerem Eis, kühlen Getränken sowie frischem Obst übers Vorfeld.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Wohlgemerkt, wir befinden uns hier in Rumpenheim. Abgesehen davon, was ist mit uns währenddessen? Stehen dumm rum. Drehen Däumchen. Am Ende bitten mich die Faulenzer allen Ernstes, ihnen aus dem Schloss ein kühles Bierchen zu bringen. Seh ich so aus?
Zeitungsmitarbeiter: Ein kleiner musikalischer Vortrag wäre ihnen sicher Erquickung genug.
Fürstabtissin von Ilbenstadt: Bedaure. Benötige dafür künstlerische Inspiration. Fehlt zur Zeit. Ja…ja…ja…ja, ist’s denn möglich…nein, welch Zufall…die Musen…beginnen…um mich herum zu tanzen. Hahahahahaha, hundert Pro wegen Ihnen. Allez, allez, stellt es auf dem Rasen ab. Aber vorsichtig! Vite, vite! Des großen Zeus‘ Töchter drängen mich! Auf, auf, auf, auf, vor den Baum! Husch, husch, bewegt euch!
Zeitungsmitarbeiter: Absolutismus live.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Was steht ihr immer noch wie angewurzelt rum? Braucht ihr’n Bier?
Diener 1: Vor welchen, durchlauchteste, allergnädigste Herrin, vor welchen? Es sind der Bäume viele!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Vor den kleineren. Den dahinten. Mir direkt gegenüber. Von hier aus gesehen vis-à-vis. Blödmann!
Zeitungsmitarbeiter: Bin gespannt.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Zuuuuurüüüüüüüüück!!!!! Der Boden ist villiiiiieeeeeeeeel zu uneben! Da treff ich die Töne ne pas avec pécision. Hopp, hopp, hopp, auf die Pavillonbühne rauf! Und wehe, eure Perücken verrutschen dabei oder fallen gar runter!
Zeitungsmitarbeiter: Menschenunwürdig.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ruhe nebenan! Jeden Moment betrete ich hochkonzentriert die Bühne. Und dass Sie mir zwischenzeitlich ja nicht alleine weiterspazieren!
(Musikalischer Vortrag der Fürstäbtissin von Ilbenstadt)
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ulkig, Sie klatschen weiterhin ununterbrochen Beifall, dabei gehen wir längst den Weg weiter.
Zeitungsmitarbeiter: Bravo! Süperb! Bravissimo! Fantastisch! Bravississimo! Unglaublich! Da capo! Jan Pieterson Sweelinck. Fehlerfrei! Und wie Sie dabei gleichzeitig das Lied sangen! Welche Ausdruckskraft! Diese Tragik!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Mein junges Leben hat ein End. Ungeeignet für Zartbesaitete.
Zeitungsmitarbeiter: Hätte ich Ihnen ehrlich gesagt nie und nimmer zugetraut. Ihre emotional aufgewühlten Diener vergießen unaufhörlich Tränen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ausschließlich Sweelincks Variationen vorzutragen wäre vermutlich schonender gewesen. EEEEEYYYYY, IHR BILLIGEN JAMMERLAPPEN, HÖRT AUF ZU FLENNENI BEZAHLT PAPA EUCH FÜRS RUMHEULEN? SENTIMENTALE WEICHEIERI MÄNNERI SEHT LIEBER ZU, DASS IHR DEN ANSCHLUSS NICHT VERPASST!
Zeitungsmitarbeiter: Sie sind hart zum Personal, hochwohlgeborene Fürstäbtissin.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Unsinn! Der Verfasser war lediglich Realist. Ein mahnender Rufer durch die Zeit. Was liegt demnach für eine hochgestellte Frau meines Standes näher als zu Mein junges Leben hat ein End über die traurige Vergänglichkeit blühenden menschlichen Lebens nachzudenken? Beiläufig bemerkt, bevorzugt im Klostergarten.
Zeitungsmitarbeiter: Mit dem Sie unsere Gewährsfrau – wie bereits erwähnt – ebenfalls erheblich belastet
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Sie wollen mich auf den Arm nehmen!
Zeitungsreporter: Nichts täte ich im Moment lieber!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Hihihihihihi, Sie sind voll frech! Aaaaaaaawww, wie süüüüüüß, er wird ja ganz rooooooooooot!
Zeitungsmitarbeiter: Ääääääääääähhhhmmmm…okay, Spaß beiseite. Hochwohlgeborene Fürstäbtissin, besagte Lobby meint es bitterernst. Droht unverhohlen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ach, wirklich? Tut sie das? Kriege schon ne Gänsehaut vor lauter Angst. Diese Mail ist doch von vorne bis hinten manipuliert. Erdichtet. Gefälscht. Unsere gepflegte Gartenanlage belegt einzig und allein, dass dort tadellos sauber gemacht wird. Lob an unsere Reinigungskraft! Warum mehrere bezahlen, wenn’s eine schafft?
Zeitungsmitarbeiter: Jedenfalls fordern tonangebende Finanzkräftige sofortige Schließung des Stifts, nebst in summa Damenheimreise ins Hotel Mama.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: In summa?
Zeitungsmitarbeiter: Vollständig. Komplett. Sans exception. Mögen die rein zufällig gemachten, vergleichsweise harmlos anmutenden Beobachtungen der Dame Ihrerseits als letzte Warnung verstanden werden. Andernfalls gehen dem Wetterauer Dorfpostillon richtige Beweisfotos vom Abichaos zu, dermaßen aussagekräftig, dermaßen kompromittierend, sodass Sie, hochwohlgeborene Fürstäbtissin, samt Freundinnen freiwillig packen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Angenommen, wir denken im Traum nicht daran
Zeitungsmitarbeiter: Erstürmen ohnehin über die herrschenden Zustände aufgebrachte Landbewohner, angeführt von einem neuen Thomas Münzer die Abtei, beenden das dolce vida. Eine Neuauflage des Bauernkriegs anno 1524/25. So zumindest das Kalkül. Hochwohlgeborene Fürstäbtissin ahnen nicht, was der Gemeine Mann anzustellen vermag, tobt dessen entfachter Zorn erst einmal hemmungslos.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Verstehe. Und Ihre Lokalpostille soll die dafür notwendige revolutionäre Stimmung verbreiten, indem durchs Auftischen drittklassiger Schmuddelgeschichten ans heimatliche Herzblut appelliert wird. Ergibt Sinn. Wer in Stralsund, Eisenhüttenstadt oder Görlitz kennt Ilbenstadt. Boulevardjournalismus! Tief gesunken, der Wetterauer Dorfpostillon! Warum starren Sie beim Laufen eigentlich ständig stur geradeaus, betasten unentwegt mit der linken Hand übervorsichtig Ihre Zopfperücke? Sehen wie eine komische Schießbudenfigur aus. Keine Bange, sitzt perfekt.
Zeitungsmitarbeiter: Momentchen…Momentchen…Gottseidank…kein Brandherd am Zopfende…hätte schwören können…aber vielleicht mehr mittig…
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Darfste echt niemandem erzählen.
Zeitungsmitarbeiter: Seltsam, seit der Fata Morgana am Tempel fürchte ich, die sengende Hitze könnte den Perückenstoff anzünden. Ähnlich wie in Costa Rica. Da kam ich einst als Tourist per Taxi zurück vom Lago de Nicaragua, auf Deutsch Nicaraguasee. Plötzlich standen Feuerwehrwagen entlang der Panamericana. Man löschte Felder, welche sich angesichts brütender Nachmittagshitze selbst entzündet hatten. Mein Chauffeur warnte eindringlich, mit Costa Ricas Sonne sei nicht zu spa…
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Alles gut. Beim Anblick zu qualmen beginnender Haaren schreie ich unverzüglich: „FEURIO!“
Zeitungsmitarbeiter: Mein Gott, hab ich mich erschrocken!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Uuups.
Zeitungsmitarbeiter: Was aber, wenn Hanau-Münzenbergs gnadenlose Sonne eine gewaltige Stichflamme auslöst? Ehe Sie schreien können, brennt mein Kopf lichterloh. Flammen springen auf den eleganten Anzug über. Auf Ihr Nonnengewand. Unausdenkbar!!!!! Ha, Idee! Ich halte einfach den Dreispitz schützend hoch.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Bedaure.
Zeitungsmitarbeiter: Wieso?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Etikette. Der chapeau bras wurde im 18. Jahrhundert unter dem Arm getragen, um die Perückenfrisur nicht zu verhunzen.
Zeitungsmitarbeiter: Das heißt, er dürfte auch nicht als Sonnenhut fungieren?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Erfasst.
Zeitungsmitarbeiter: Entsetzlich!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Menschenskind, da passiert nix!
Zeitungsmitarbeiter: Momentan vielleicht! Aber das Thermometer steigt ja erst noch richtig krass an. 36°C soll’s nachmittags geben. Erst 09.45 Uhr. Es erschlägt einen förmlich. Bereits gegen Elf beträgt das Stichflammenrisiko bestimmt…
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Gewonnen, Nervensäge, gewonnen! Wir sind an der Mainseite unseres bescheidenen Feriendomizils angekommen. Extra für Sie gehe ich nochmal rein, hole einen Diener, der zu Ihrem persönlichen Schutz zwei Kanister Wasser trägt! Stopp! Zunächst zu den Dauerheulsusen! SAGT, SCHÄMT IHR EUCH GAR NICHT? VOR MEINEM SYMPATHISCHEN GAST SOLCH EINE ERBARMLICHE SHOW ABZUZIEHEN! SWEELINCK IST LANGST VORBEI! REISST EUCH GEFÄLLIGST ZUSAMMEN! ANDERENFALLS SETZT’S PRÜGEL MIT DEM ÄBTISSINNENSTAB! PAH! MÄNNER!
Diener 1: Durchlauchteste, allergnädigste Herrin! Nicht schlagen! S’il vous plaît! Wir weinen nicht wegen Sweelinck. Wir stehen an der Balustrade, außer Stande unsere schluchzenden Gesichter von unten abzuwenden.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Was soll unten großartig sein? Da wartet ein Auto, will hinüber nach Maintal-Bischofsheim. Ist das verboten?
Diener 2: Durchlauchteste, allergnädigste Herrin! Genauso wenig weinen wir wegen des Autos. Vielmehr quält uns schreckliche Versagensangst beim Gedanken, wie wir bloß das Clavecin die Treppenstufen runterbekommen.
Erzählrunde 2
Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 4 - Das große Nachspiel zum Projektausflug (Aus den gedanklichen Memoiren der Gräfin von Hanau-Münzenberg)
Erzählrunde 1
Als Bernardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg am 16. Oktober 2019 gegen 09.30 Uhr, ihr brillantbesetztes Smartphone dicht am Ohr, unwirsch vorbei an zwei sich tief verbeugenden Dienern durch die soeben für Ihre Durchlaucht untertänig geöffnete Haupteingangstür von Schloss Philippsruhe hinausmarschierte, ahnte sie, dass dieser Tag, kaum richtig begonnen, bereits unwiderruflich gelaufen war.
Aus dem luxuriösen Château getreten entschied sich Ihre Durchlaucht zunächst für eine zwischen unterster Treppenstufe und Brunnenrondell gelegene Stehposition, um von dort aus jene zwanzig Meter zu überwachen, welche noch bis zum Haupttor fehlten. Unversehens emporschießende gedankliche Schreckgespenster ließen die Schlechtgelaunte jedoch schaudern. Zitternd den zarten Halsbereich vorsichtig abtastend wollte sie überprüfen, ob das von einer überdimensionalen Turmfrisur à la Marie Antoinette gezierte Haupt noch am richtigen Platz säße. So unendlich tief saß der Schock, dass es trotz erleichterten Aufatmens ratsamer erschien, im balkonüberdachten, mehr persönliche Sicherheit versprechenden Portalbereich zu verweilen.
Doch wer weiß, vielleicht lag es auch nur am grell von Südosten scheinenden Licht, weswegen Hanau-Münzenbergs arg geblendete Herrschergattin nach erfolgreich festgestellter anatomischer Vollständigkeit blinzelnd beide Hände gegen die Sonne hielt und spontan deutlich angenehmere Ausschaugelegenheiten Richtung leicht brunnenverdeckter Philippsruher Allee präferierte; wobei Zweige des rechts vom neu gewählten Standort befindlichen Baumes als zusätzlich willkommene Lichtfänger fungierten. Gleichwohl, mulmige Halsschmerzen bereitende Gefühlsüberreste steckten anscheinend weiterhin hartnäckig im Kehlkopfbereich fest. Wiederum musste Madame de mauvaise humeur würgend schlucken, felsenfest davon überzeugt, böse Geister hätten soeben Philippsruhes Schlossplatz in die Place de la Concorde verhext und dessen hübsch plätschernde Fontäne in …
Gottseidank! Gerade jetzt blieb keinerlei Zeit, das entsetzliche Horrorszenario weiterzuspinnen.
„KLAPPE HALTEN!!!!“, unterbrach Bernardette Constanze Amalia recht unhöfisch ihren ehelichen Gemahl am anderen Ende, welcher seit rund dreißig Minute in wichtiger Angelegenheit sein Glück als erfolgreich überzeugende Endlosquasselstrippe probierte. Verbale Aufmerksamkeit galt vielmehr zwei von den immer und überall wachsamen Sehorganen der Schlossherrin erspähten Mitarbeitern des mobilen Dienstpersonals. Auftrag: drei bestellte britische Fahnen im Tuchladen abholen. Freilich schien man erteilte Order beim selbst genehmigten Zigarettenpäuschen als weniger dringlich einzustufen. Die Bediensteten keines direkten Blickes würdigend, beide Augen ausschließlich geradeaus auf das sprudelnde Wasser gerichtet, appellierte sie: “ Husch, husch, meine Lieben! Bitte, ein bisschen mehr Hingabe! Schließlich macht ihr hier einen Job mit Gütesiegel! Wir sind eine Marke! Looos, Abfahrt, oder soll ich euch persönlich chauffieren?“ Es funktionierte. Getrieben von größter Sorge um den Verlust renommierter, leider knauserig bezahlter Arbeitsplätze brausten die Angestellten schleunigst davon.
Fraulicher Unmut widmete sich nunmehr wieder dem Gespons, welcher zwischenzeitlich charmant plaudernd versuchte, Mitgehörtes für schmeichelnde Umgarnungsversuche zu nutzen. „SEI STILL, DU! WARTE NUR AB, KOMM DU MIR ERST HEIM! DAS NUDELHOLZ WARTET BEREITS!“ Rote Taste. Anruf beendet.
Madame Noblesse beäugte hektisch das kostbare Mobiltelefon, widmete ihre bange Aufmerksamkeit aufs Neue jenem blutdürstigen Mordgerüst vis-à-vis, welches heimtückisch vorgab, lediglich ein harmlos plätschernder Brunnen zu sein. Bis schlagartig die Tagespolitik im Kopf kreiste. „Mon Dieu, in knapp vierundzwanzig Stunden, morgen um 09.00 Uhr, fährt sie vor, Unsere Hanau-Münzebergische Staatskutsche mit Lord Ashley Winston Chesterton Grand Seigneur of Tintagel, frisch akkreditierter Botschafter des Vereinigten Königreiches hier am Main!“ Spannung knisterte förmlich in der Luft. Hatte doch Premierminister Boris Johnson gleich nach Amtsantritt verlautbaren lassen, Großbritannien pflege künftig im Rahmen seines EU-Austritts als weltweit erstes Land diplomatische Beziehungen mit der seit Oktober 2017 absolutistisch regierten, daher von der internationalen Staatengemeinschaft gemiedenen Grafschaft Hanau-Münzenberg, um „in the times after the Brexit“ einen vom Königshaus hochgeschätzten Regenten, den „Duke of Hanau-Munzenberg“, proudly „beloved friend of Her Majesty“ nennen zu dürfen. So Teresa Mays Nachfolger vor Downing-Street Number 10.
But exactly this royal friend machte sich derzeit lieber als berühmter Elefant im Porzellanladen Rang und Namen. Um bei der britischen Krone mächtig Eindruck zu schinden, gab nämlich Dennis Kevin I. Graf von Hanau-Münzenberg für das umgehend konzipierte repräsentative chambre d’ambassadeur wahrhaft unerhört kostspieliges Interieur im Spätrokokostil bei renommiertesten Pariser Manufakturen in Auftrag. Weil jedoch Seine Durchlaucht bekanntermaßen niemals Fortunas Launen vertraut, war Bernardette Constanze Amalias Göttergatte samt dreier Diener im großen Möbeltransporter zur persönlichen Abholung solch bedeutsamer Fracht an die Seine gereist. Ärgerlicherweise entging ihm dabei, dass Frankreich dem Absolutismus bereits anno 1789 „Adieu!“ zugerufen hatte, weshalb er auf der Rückreise zwei weibliche Bedienungen eines Autobahnrestaurants in guter alter Feudalmanier wie überfällige Abgaben schuldende Bäuerinnen behandelte, gepudert und gekleidet nach französischer Adelsmode um 1780. Eine zufällig tankende Polizeistreife eilte den studentischen Aushilfskellnerinnen zu Hilfe, nahm den Zopfperücke tragenden Spinner inclusive kostümierter Dienerschaft mit auf das nächste Revier. Dort mochte Monsieur Graf parlieren was das Zeug hielt, nicht alle Wachen besaßen Informationen, dass Hessens Gebrüder Grimm Stadt Hanau stolze Kapitale eines politisch selbständiges Territorium ist. Und als sie dann endlich gehen durften, wäre des Souveräns gelb rot lackierter Lastwagen inzwischen sicherlich gut 200 Kilometer weiter gewesen.
Seine Gem
ahlin bekam von alledem nichts mit. Aufgrund typischer Angewohnheit lag nämlich ihr brillantbesetztes Smartphone zwischen abends 20.00 Uhr und morgens 09.00 Uhr im obersten Kommodenschubfach. Ausgeschaltet. Folglich konnte Zuckiputzi sie um 20.05 Uhr von der Polizeistation nicht mehr erreichen (und vor lauter Peinlichkeit hätte er hundertprozentig keine andere Person angerufen). Daher erfuhr Zuckerhasi, ihn eigentlich bereits längst angekommen wähnend, in einer improvisierten Nachtschicht mit dem Einrichten des Botschafterzimmers beschäftigt, schwitzenden Dekorateuren penibelste Anweisungen erteilend, erst Punkt Neun bei ihrer Morgentoilette, Hanau-Münzenbergs Vorzeigepaar werde sich gemäß Navigationssystem plus minus 10.00 Uhr MEZ wiedersehen. Seitdem machte Frau Aristokratin den um keine süße Casanovaausrede verlegenen Angebeteten unablässig zur Schnecke. Steigerte sich hinein. Sprang irgendwann vom samtbezogenen Frisier- und Ankleidestuhl auf. Stolperte davon. Dreiviertel bekleidet. Unfertiges Make up. Unfertige, physikalisch noch höchst wackelig sitzende Turmfrisur. Gefolgt von mit Kosmetikzubehör sowie Haarnadeln bewaffneten Hofdamen. Zermürbt von Visionen, Lord Ashley Winston Chesterton Grand Seigneur of Tintagel werde angesichts unabgeschlossener Innenarbeiten folgendes Todesurteil fällen: „The Queen is not amused!“
Knapp zwanzig Minuten bis zur Ankunft des geliebten Mannes laut Navigationssystem. Perfekt! Genug um in die Trickkiste professioneller Ehefrauen zu greifen, die ihren Schatz gehörig Mores lehren möchten. Bernardette Constanze Amalia wusste: „Mit Durchhaltevermögen bist du stets klar im Vorteil!“ Darin lag das Erfolgsgeheimnis. Die Erfahrene kannte sie, seine betörenden Schliche. Ein Rosenkavalier würde aus dem LKW springen, den am letzten Autobahnrastplatz vor Hanau käuflich erworbenen Notfallblumenstrauß für arg in Bredouille geratene Ehegatten hier an der Eingangstreppe im rhythmischen Wechsel zwischen treuem Schoßhündchenblick und arrogantem Grinsen reuevoll fünf Stufen emporhalten, säuselnden Tones kunstvoll die Verbeugung galanter Kavaliere im 18. Jahrhundert ausführen. „Chère Madame. Excusez-moi. Pour vous!“ Dem galt es vorzubeugen.
Generalprobe. Vorwurfsvolles, kindisches Trotzgesicht. Herablassender Schmollmund. Abweisend verschränkte Arme kleiner bockiger Mädchen. Und als unfehlbare Geheimwaffe beim Gegner extreme Konfusion stiftende, monoton klackende Schuhabsätze. Während vier aus Kostengründen zugleich das Amt einer Kammerzofe bekleidende Hofdamen emsig ihr Bestes gaben, vorhin im Ankleidezimmer begonnene Werke vor dem festlichen, Seiner Durchlaucht Ankunft ankündigenden Hupkonzert in D-Dur zu vollenden.
„Da ist er ja!!!!“, zischten ihre Lippen. „Jetzt kannst du was erleben!!!!“ Unverzüglich wechselte sogar für Yvette, Veronique, Chantal und Sylvie kaum noch erträgliches Klacken vom probenden Allegro zum ernsten Presto. Jetzt die Schnut etwas länger ziehen. Mist! Zu früh gefreut! Es war nur ein Adagio molto des vor Philippsruhes schmiedeeiserner porte du château um die scharfe Kurve biegenden Linienbusses der Hanauer Straßenbahn GmbH. Warum musste sein Möbeltransporter ausgerechnet dieselben markanten Farben tragen? Warum? Warum? Warum?
Und warum um Gottes Willen haperte es seit geraumer Zeit andauernd beim Personal? Jene tolldreiste Raucherpause bewies einmal mehr: In Wahrheit regierte nicht Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg, sondern Herr Schlendrian das Schloss! Und nein, hier lagen gewiss keine unmotivierten Einzelfälle vor. „Zweifellos geplante, großangelegte Verschwörungen, deep state, aus dem Hintergrund systematisch gesteuert von fremden Geheimdiensten! Jawohl!“, argwöhnte Bernardette Constanze Amalia. Erst vergangenen Sonntag war im Garten der immer noch ihnen gehörenden Doppelhaushälfte beim Kontrollieren ausgeführter Herbstarbeiten inakzeptable Schlamperei zutage getreten. Des Meisterbetriebes begnadete Koryphäen hatten tags zuvor vergessen, die Thujahecke auf Schnittlinie zu stutzen.
Eilends drehte sie sich erschrocken nach links. Ein heftiges Rumpeln, ein lauter Schlag gegen die untere Innenseitenhälfte der massiven Eichentür zum bald seiner Bestimmung übergebenen Botschafterzimmer ließen ihren Körper reflexartig zusammenfahren. Vermutlich unachtsame Diener beim Bewegen alten Mobiliars. Telefonisch autoritär angetrieben, um verplemperte Zeit aufzuholen. Puuuh, Glück gehabt! Hätten Veronique und Sylvie nicht beherzt manuell stützend eingegriffen, garantiert wäre ihrer Gebieterin unvollendeter Pouf auf den zum Eingang führenden gepflasterten Aufweg gepurzelt. Sekunden lang eisige Totenstille. Dann zerriss Edvard Munchs Der Schrei Kesselstadts morgentliche Atmosphäre. „INCROIAAAAAAAAAAAABLE!!!!! C’EST UN AFFROOOOOOOOOOONT CONTRE NOOOOOUUUUUS!!!!!“ Papierfetzen! Laubblätter! Seit 08.45 Uhr sollte eigentlich alles picobello sein, obendrein ohne Unterlass bis morgen früh 08.45 Uhr viertelstündlich nachgereinigt werden. Fish and Chips sollte Lord Ashley Winston Chesterton Grand Seigneur of Tintagel vom Boden essen können! Yes! So jedoch würde der Diplomat postwendend London Meldung erstatten, Hanau-Münzenberg mangele es an Geld für Reinigungskräfte.
Schon ertastete Madames resolute rechte Hand ihr kaum bezahlbares Kommunikationsgerät. „Jawohl!!!!! Ein Exempel statuieren!!!!!“ Doch unerwartet übern Schlossplatz trällerndes Pfeifen zerstörte ersonnene Absichten. „Bonjooooouuuuuur, Madame la mère! Seulment deux heures en physique aujourd’hui!“ Dieser lockere Spruch einer unbeschwert schlendernden Siebzehnjährigen rette fünf im hinteren Parkbereich genüsslich beim Kartenspiel qualmenden Vollzeitbeschäftigten die 450 Euro Monatsgehalt.
Arbeitsrechtliche Schritte in letzter Sekunde vermeidend kappte Fingerdruck die aufgebaute Verbindung, ehe Oberhofmeister Lucien sein im Hosenbund klingelnde Diensthandy herauskramen konnte. Stattdessen nahm das empörende Gartenheckenerlebnis vom 13. Oktober umso intensiver von Frau Gräfins Vorstellungskraft Besitz, benebelte zusehends, erzeugte eine Art Schläfrigkeit, infolgedessen sie alsbald in hypnoseähnliche Zustände glitt. Bild um Bild tauchten aus dem Unterbewusstsein Erinnerungen an bürgerliche Zeiten auf. Zügig entstand ein Gesamtpuzzle jener Begebenheit, welche sich praktisch genau vier Jahre zuvor, am 10. September 2015, quasi um dieselbe Uhrzeit, circa 12.50 Uhr, auf der gleichen Terrasse zugetragen hatte; deren Auswirkungen Familie Kaisers Herbsturlaub prägten und 2017 in einem beispiellosen Kirchenskandal mündeten. Wohl mancher Zuschauer irgendwelcher Unterhaltungsshows hätte Blauklötzchen gestaunt, wie viele Kaninchen der Hypnotiseur da vorne bei der Gräfin von Hanau-Münzenberg eines nach dem anderen aus dem Zylinder ans Licht zaubert.
Dieselbe Terrasse. Dieselbe Plattenrampe. Dasselbe Smartphone, damals ohne Funkelaccessoirs. Dasselbe sich unbekümmert nähernde Pfeifen. Dasselbe frühere Heimkommen. Physik. Dasselbe herrliche Herbstwetter. Zugegeben, Garten- sowie Terrassengestaltung sahen 2015 vielleicht etwas anders aus. „Na ja, dermaßen tiefgründige Seeleneinblicke gestattet das Unterbewusstsein halt auch nicht immer, ihm genügen manchmal grobe Übereinstimmungen“, lautete ihr gedanklicher Rückschluss. Wie dem auch sei, die Teilzeitkraft hatte es 2015 eilig. Modebewusst angezogen. Elegante Handtasche über die Schulter tragend. Smartphone dicht am Ohr. Anruf von Frau Schmidt, Klassenlehrerin ihrer ältesten Tochter. Oh Gott! Alessa Marie! Helle Aufregung! Elterngespräch! Im Rektorat! Unverzüglich! Kaum durch die angesichts warmer Mittagstemperaturen offen stehende Terrassentür gestürzt, vernahm sie prompt altbekanntes naives Gepfeife. Im Seitenhof vom Fahrrad gestiegen trabte das Mädchen verträumt auf den leicht diagonal verlegten Steinquadern vorwärts, alle Zeit der Welt gemächlich im Ausflugsrucksack spazieren tragend. Anders die Druck ausübende Pädagogin: „Frau Kaiser, hören Sie, wenn Sie nicht binnen zehn Minuten anwesend sind, geht diesmal der Schulverweis endgültig raus! Da hilft auch keine Spende von den Lottomillionen Ihres Mannes mehr!“ Rote Taste. Anruf beendet.
Erzählrunde 2
„Alessa Marie!“, hörte sich die Gräfin von Hanau-Münzenberg als frühere Frau Kaiser laut ausrufen, während das „Hi, Mami!“ rufende Töchterchen ihr mit zwei für sie jeweils mit dem Notenprädikat 6- ausgezeichneten unangekündigten Physik-Lernkontrollen zur Begrüßung herzlich zuwinkte. „Was musste ich eben gerade wieder von Frau Schmidt am Telefon über dich erfahren? Wieso seid ihr überhaupt schon aus Seligenstadt zurück?“
Alessa Marie schaute erstaunt, wunderte sich wirklich sehr über derart vorwurfsvolle Worte. Warum sollten unschuldig klimpernde Augen irgendwelches Schuldbewusstsein ausdrücken, seit jenem heißen Flirt, den die Dreizehnjährige auf der Rückfahrt mit einem Typen gehabt hatte? Handynummernaustausch inclusive. Längst gehörte da die eigentliche Schulveranstaltung jüngster, lückenlos ausgeblendeter Vergangenheit an.
Schnell musste die vom weiblichen Erziehungsberechtigten barsch Angesprochene allerdings realisieren, dass sie jetzt von aus dieser Zeit stammenden dunklen Schatten unbarmherzig auf der Terrassenrampe eingeholt wurde. „Fräuleinchen! Nur zur Information. In deiner Schule steht das Lehrerzimmer Kopf! Alle sind völlig außer sich über solch grob fahrlässiges Verhalten! Oh, Kind! Wie konntest du es als verantwortungsbewusste Klassensprecherin einem unverschämten Scharlatan und Betrüger gestatten, achtundzwanzig Schüler, zwei Lehrkräfte mit Zweitem Staatsexamen sowie eure neue Referendarin plump übers Ohr zu hauen?“
„Ey, sag mal, was willst du eigentlich von mir??????“, verteidigte sich Trotzköpfchen. „Sind mit dem Zug zurückgefahren. Irgendwelche Tussis aus Aschaffenburg hatten Pascal, Benjamin und Jonathan die Reifen plattgestochen. Außerdem konnten wir doch im Traum nicht ahnen, dass Herr Leier-Kastenmann die Gelegenheit heute gemein ausnutzen würde, um endlich Fräulein Treue-Istweg rumzukriegen. ER hat die ganze Klasse total fies getäuscht und uns um sämtliche hoffnungsfrohen Erwartungen an diesen Projektausflug betrogen. Radeln die zwei einfach davon! Hatten uns soooooooooo sehr auf das Thema ‚Klosterleben im Mittelalter‘ gefreut! Waren echt schon totaaaaaaaaaal gespannt!“
„Alessa Marie, sag, wie dumm können Mädchen mit fast 14 eigentlich noch sein? Verstehst du immer noch nicht: Ihr seid heute allesamt dem, den Zeitungen und Nachrichten nur ‚Täuscher‘ nennen, vollständig auf den Leim gegangen! Weltweit treibt dieser Unhold jetzt schon seit längerer Zeit sein schändliches Unwesen, ist einfach nicht zu fassen. Aber was rege ich mich auf…woher soll es auch kommen, wenn das junge Ding sich täglich mit Jungs trifft, anstatt aktuelles Weltgeschehen zu verfolgen. Schäm dich, Gymnasiastin! Hätte fürsorglichen Klassensprecherinnen nicht wenigstens etwas komisch vorkommen müssen?“ „Was denn, Mama?“ „Schau, Bienchen: Herr Ungelernt-Arbeiter geht zur Kasse. Kaum weg, hüpft mir nichts dir nichts eine barocke Steinfigur daher, um euch diese unangekündigte Physik-Lernkontrolle aufzuschwätzen. Verdächtig, nicht wahr? Dass da etwas faul zu sein scheint, sagt einem gesunder Menschenverstand! Ebenso wäre zutiefst Misstrauen angebracht gewesen, als euch zur Krönung des Ganzen eine goldene Kuppelfigur vollends der Lächerlichkeit preisgab. Astro-Blumenphysik, da lachen ja die Hühner! Hat man jemals dermaßen hirnrissigen Quatsch gehört? Hahaha! Raketenforscher und Prediger will er gewesen sein? Durch Zufall fanden Gärtner im hintersten Eck auf dem Beet ein Schutzschild, unter welchem Pinsel, zwei Eimer Goldfarbe, ein Hammer, zerbrochener Granit sowie ein über dreißig Jahre altes, inzwischen überholtes Astronomielehrbuch lagen. Daneben drei offenbar beim Schrotthändler erworbene Scheinwerfer, vom Gebrauch ganz warm. Dazu drei Lautsprecheranlagen. Der ‚Täuscher‘ muss sich nach seinem ersten Auftritt rasch weiteres billiges Halbwissen angeeignet, selbst leuchtend angemalt und den Farbeffekt durch Anstrahlen intensiviert haben, um in luftiger Höhe naiven Achtklässlern simple Regietricks als Achtes Weltwunder zu verkaufen. Den Riesenknall verursachte allem Anschein nach Granit zerschlagender Hammerschlag, über Lautsprecher massiv verstärkt.“
„Mensch, Mami, woher weißt du denn das alles?“ „Hanaus stille Post. Und jetzt pass gut auf, Bienchen: Nur deshalb, weil einige von euch ihre zu Fächern gefalteten Testblätter achtlos unter einem Baum liegenließen, wobei der Schrift nach eine besooooonders kluge Schlaumeierin unbedingt die Schuladresse draufschreiben musste, zusätzlich fein säuberlich bekritzelt mit frechen Wörtern wie ‚Gefängnis‘ oder ‚Diktatur‘, nur deshalb rief die Parkverwaltung im Sekretariat an. Man dachte, eure Theater AG hätte geprobt und die Requisiten vergessen. Nur so kam alles ins Rollen. UNFASSBAR! Warum hast du nicht mit Leonie den Kerl verscheucht? Sie ist deine Stellvertreterin! Immerhin seid ihr Kolleginnen! Zusammen seid ihr stark!“
„Aber Mama“, versuchte Unschuldslamm Alessa Marie die Wucht der Schelte durch geschickte rednerische Einwände, Wellenbrechern gleichend, ihrer Kraft zu berauben, „Leonie musste doch gleich nach unserer Ankunft unbedingt aufs Klo und lief schnellstens zum Toilettenhäuschen am Mainufer. Als die angehopste Barockfigur uns anquatschte, rief ich sie natürlich sofort an: ‚Du, Le, benötige brennend deinen Rat, voll verrückt, hier steht so ein sprechendes Wesen aus Stein, sieht aus wie diese Statuen hier überall, trägt ein ziemlich schweres Schild. Du, es sagt, wir schreiben jetzt eine…‘ Doch Leonie ließ mich ja leider nicht ausreden: ‚Ähm, sorry, Lessa, dauert bei mir lange, entscheide du!‘ Ich antwortete: ‚Oki, mach ich!‘ Und überlegte: ‚Hmmmmmmmm… ööööööööhhh…schwierige Frage…aaaaaaaaalllllsssoooooooooo… irgendwie cool der Typ…logisch, darf weitererzählen.‘ Außerdem, Mama, selbst wenn Herr Ungelernt-Arbeiter wirklich der Täuscher gewesen sein sollte, waren das doch endlich mal echt voll geniale physikalische Effekte. Kein Schwachsinn wie beim richtigen Herrn Ungelernt-Arbeiter, der beim Aufbau zweier Schaltkreise einen im gesamten Schulgebäude qualmenden Kurzschluss verursachte, woraufhin sämtliche Raucher einzeln zum Rek…“
Soweit la Comtesse de Hanau-Muenzenbergue weiter memorierte, konterte Frau Kaiser: „Bist du mir still!“ Versierte Rhetorikerin ahnte, dass durch den eingesetzten Kompetenzvergleich potentielle taktische Nachteile drohten. Zur Vermeidung wählte sie ihrerseits geschickt das Stilmittel der Komparation: „Schweig! Gravierendes Unterrichtsversagen ist für einen beamteten Studienrat schlimm genug. Schlimmer ist es jedoch für soziale Verantwortung tragende Klassensprecherinnen, statt einen öffentlich auftretende Trickbetrüger durch sofortiges Herunterreißen seiner Maske als ‚Möchtegerntäuscher‘ zu blamieren, die eigene Klasse zu spalten. Stell dir bloß vor: Kurz nach der Gartenverwaltung riefen prompt die Mütter von Pascal, Jonathan und Benjamin im Schulsekretariat an, wollten unverzüglich euren Rektor kontaktieren. Außer sich vor Empörung schilderten sie, wie alle drei ihre nigelnagelneuen platten Fahrrädern schiebend weinend nach Hause gekommen waren und ab heute nur noch mit Stofftieren kuscheln wollen. Astronomie? Modelleisenbahn? Fußball? Computerspiele? Uninteressant!!!!! Jonathan sitzt in seinem von innen verschanzten Zimmer, sagt, er habe Cola und Chips für sechs Monate, will sein ganzes Leben lang mit ‚Schnuffel‘, ‚Kuschel und ‚Flocki‘ von morgens bis abends ununterbrochen ‚Die Biene Maja‘ sehen. Alles andere sei ihm wurscht. Die Familie tut einem leid. Was in Gottes Namen hast du ihnen angetan? Mitten in der Pubertät befindliche Teenager, durch dich seelisch gebrochen, weisen extremste kindliche Verhaltensweisen auf. Und das ist an der ganzen Sache am schlimmsten. Hörst du mir überhaupt zu???? Deine Schuld!!!! Was für ein schrecklicher, nie wieder reparierbar Entwicklungsschaden. Zeitlebens unschuldig fürs Leben gestört! Oooooooooh, wie konntest du nur drei liebe, sympathische Jungs von nebenan dermaßen asozial aus eurer soliden Klassengemeinschaft ausschließen?“
„Mensch, Mama, versteh doch, Benjamin, Pascal und Jonathan sind Götzen!“, wollte die Klassenvorsteherin daraufhin mit Hilfe an den Haaren herbeigezogener theologischer Argumente die Hanauer Disputation zu ihren Gunsten drehen. „Wenn Herr Ungelernt-Arbeiter wirklich der Täuscher gewesen sein sollte, dann ließ sich unser Geschichtslehrer zuerst hinters Licht führen. Hätte er nicht am Treffpunkt vor der Schule merken müssen, dass ein Schwindler anradelt? Also sind wir nur dank grob vernachlässigter Aufsichtspflichten zu Witzfiguren geworden, über die ganz Hanau garantiert im nächsten Karneval lachen wird. Falls man überhaupt von Witzfiguren sprechen kann, wurde meine Klasse doch vielmehr dank der Täuscherpredigt zu eifrigen Bekämpfern jenes Götzendienstes, gegen den unsere Pfarrerin vorletzten Sonntag von der Kanzel wetterte. Glaub mir Mama, Gott höchstpersönlich stellte dem Gauner im Klostergarten ein Bein, indem er dessen Ziel, uns in Finsternis zu sperren, ins genaue Gegenteil verkehrte. Du weißt doch, was sie predigte: ‚Ich lese Erster Korinther, Kapitel 10 Vers 9: Darum, meine Geliebten, flieht vor dem Götzendienst!'“.
„Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht, worauf mein Bienchen damit hinauswollte!“, überlegte Dennis Kevins feudale Autokratengattin (und am liebsten hätte sie zusätzlich bekräftigend ihren Dez geschüttelt, wenn da nicht diese unfertig sitzende Turmfrisur gewesen wäre), nachdem Madames Erinnerungen jene Stelle erreichten, als es Frau Kaiser 2015 auf der sonnigen Terrasse ratsam erschien, pubertierendem Mädchengeschwätz über irgendwelche Götzen nüchterne, knallharte Fakten entgegenzuhalten. „Aber Bienchen! Was denn für Götzen? Was reeeeedest du da? Hast du deine Tage? Soll ich dir Tee und Wärmflasche bringen? Alle wissen doch, Herr Leier-Kastenmann wandelt derzeit wie Romeo auf Freiersfüßen, besitzt nur Augen für Fräulein Treue-Istweg. Du etwa nicht? Unsterblich verliebt ist er, sein Wahrnehmungsvermögen daher enorm eingeschränkt. Männer ticken halt so, Bienchen! Wart’s nur ab, bis bei dir später mal einer auf der Matte steht! Aus diesem Grund wäre es deine besondere Pflicht als hingebungsvolle Klassenvertreterin gewesen, dem blind Verliebten bereits kurz vor eurem Aufbrechen diskret anzudeuten, Herr Ungelernt-Arbeiter könne niemals Herr Ungelernt-Arbeiter. sein, weil Herr Ungelernt-Arbeiter heute seltsamerweise heute keine seiner typischen Schirmmützen mit dem unübersehbaren Aufdruck NICARAGUA trug, für die er in deiner Schule berühmt ist. Erst nach eurer Rückkehr kam der Betrug auf blamable Weise ans Tageslicht. Herr Ungelernt-Arbeiter, Herr Leier-Kastenmann sowie Fräulein Treue-Istweg gingen ins Lehrerzimmer, wo sie dem richtigen Herrn Ungelernt-Arbeiter begegneten. Jemand hatte ihm gestern eine Notiz mit Herrn Leier-Kastenmanns Handschrift ins Lehrerfach gelegt, nicht er sondern Referendarin Treue-Istweg käme als zweite Begleitsperson mit. Woraufhin Herr Ungelernt-Arbeiter gutgläubig morgens normal Unterricht hielt, ahnungslos, dass eine Fahrrad fahrende Imitation am Treffpunkt auftauchte. Und so interessierte es natürlich den Neugierigen die ganzen Stunden über mit verschmitztem Grinsen, ob in Seligenstadt alles roger in Kambodscha war. Jetzt kannst du dir sicher vorstellen, wie der Arglose grauenvoll aufschrie, als plötzlich neben dem geschätzten Kollegen ein Klon seiner selbst den Raum betrat. ‚Hahahahaha, äääääääääääääätsch! Sie Depp sind auf mich hereingefallen! Ich bin der ‚Täuscher‘!!!‘, zeigte der Böse spottend sein wahres Gesicht, drehte ihm sogar dazu frech eine lange Nase: ‚Bääääähäääääää!!!!! Bääääähääääää!!!!! Fang mich doch, du Eierloch!!!!!‘ Und jetzt der Gipfel. Unter eindeutigen, obszönen Gesten am Schritt machte er Fräulein Treue-Istweg an: ‚Naaaaaaaa, Zuckerpuppe, wie wär’s denn mit uns zweien?‘ Beide zwei stürzten los, wollten ihn packen, doch jener Kerl sprang höhnend aus dem weit geöffneten Fenster und suchte das Weite.“ Die über alles bestens informierte Mutter rang um Fassung. „Vor sämtlichen Kollegen bis auf die Knochen gedemütigt! Befand sich doch zeitgleich eine hochrangige Begehungskommission im Lehrerzimmer, sich sichtlich erfreut von eurem Direktor verabschiedend. ‚Wir möchten Ihnen im Namen des Kultusministers nochmals ausdrücklich auf das Herzlichste unser Lob und unsere Anerkennung für ein unglaublich engagiertes, motiviertes, kompetentes, jung-dynamisches Team aussprechen! Chapeau! Das verdiente Qualitätszertifikat kommt per Post. Machen Sie weiter so!‘ Alles nur wegen deiner gewissenlosen Nachlässigkeit!“ Bernardette Constanze Amalia sinnierte: „Ich frage mich allerdings ernsthaft, woher solch ein Verantwortungsbewusstsein 2015 auch hätte herkommen sollen. In der Fürstenloge tippt unser Prinzesschen ja noch immer während des Gottesdienstes auf dem Smartphone herum.“
„Ach Mama, hab ich dir eigentlich schon erzählt? Mein Traumtyp steht doch lääääängst auf der Matte. Wir sind uns heute beim Einstieg in den Bus begegnet. Er heißt übrigens Yannick. Sein Vater ist reicher Zahnarzt. Fahre nachher gleich zu unserem ersten Date am ‚Goldschmiedehaus‘. Ooooooh, mein Gooooooooooooott, bin tooootaaaaaaaaaal aufgeregt. Was meinst du soll ich anziehen?“, knüpfte Frau Kaisers verknallte Tochter gewitzt an deren wenig vorher verwendete Redensart an, um sie glühender Wangen über fest geschmiedete Zukunftspläne mit dem frech lächelnden Dentistensprössling aufzuklären: „Sag Papa heute Abend, er soll mir 2 Millionen von seinem ersten Jackpotgewinn auszahlen! Wir ziehen nächste Woche zusammen, brauchen logischerweise Geld für die Miete und unser süßes Baby, das ich bekommen werde. Die Wahrsagekarten prophezeien: Es wird ein Mädchen sein! Tessa! Und frag Oma Elisabeth, ob sie uns die Babykleidung bezahlt! Und wenn Yannick und ich in der Schule, sind übernimmt Oma Anna…“
„GARNICHTS ÜBERNIMMT OMA ANNA!!!!!“, schrillte es über den mit Pflasterstein zementierten Anstieg zum künftigen Diplomatenempfangsquartier. Die Zofen erzitterten. Eine dramatischer Umschwung im Disput zu Ungunsten der trommelndes Tam-Tam veranstaltenden Rebellin vollzog sich. Sprachliche Brachialgewalt anstatt mühsamer Rhetorikkniffe, lautete Frau Kaisers kommunikative Strategie. Vernimmt sie aufmüpfiger Nachwuchs, erscheint weiteres Aufbegehren zwecklos. Folglich musste auch die Aufmüpfige realisieren, zwar evangeliumsgemäß Jesu Liebesbotschaft verbreitet, im missionarischen Eifer dagegen nicht deren Folgen abgewägt zu haben. „ALESSA MARIE!!!!! ES REICHT!!!!! DAS ZIEHT KONSEQUENZEN NACH SICH!!!!! ICH HABE OHNEHIN VOR LÄNGERER ZEIT MIT PAPA SOWIE DER PFARRERIN GESPROCHEN. WENN WIR IM OKTOBER WIEDER NACH BAD REICHENHALL FAHREN, WIRST DU DORT STATT IN DER THERME HERUMZUFAULENZEN TÄGLICH MIT DER ERSTEN SEILBAHN ZUM PREDIGTSTUHL HOCHFAHREN, DORT BIS ZUR LETZTEN TALFAHRT EIFRIG EINE GLAUBENSPREDIGT AUSARBEITEN SOWIE DIESE NACH DEN FERIEN EINER KIRCHENSPRUCHKAMMER VORTRAGEN, UM DEINE GOTTESFÜRCHTIGKEIT ZU DEMONSTRIEREN. BESTEHST DU, IST DEIN PLATZ FORTAN OHNE SMARTPHONE IN DER ERSTEN REIHE, DIREKT UNTER DER KANZEL, DAMIT DU GOTTES WORT GLASKLAR VERNIMMST. FÄLLST DU BEANSTANDET DURCH, WIRST DU DIE KONFRIMATION ZWEIMAL HINTEREINANDER MACHEN. OHNE GESCHENKE. SOOOOOOOO GEHT’S JEDENFALLS NICHT WEITER, MADAMECHEN!!!!! HABE ICH MICH KLAR GENUG AUSGEDRÜCKT???? AUF DEIN ZIMMER!!!!! SOFORT!!!!!“ Tippte Alessa Marie anfangs auf traditionelle harmlose Pokerbluffs, denen abgezockte Noch-Dreizehnjährige keine Bedeutung beimessen, durfte sie leidvoll erfahren, dass dummerweise kein einziges Wort von Mamas Ankündigung auch nur ansatzweise spaßig gemeint gewesen war.
Teile jenes zweiwöchigen Herbstaufenthaltes 2015 im Kurort Bad Reichenhall, welcher Kaisers erstmalig in ihrer Urlaubsgeschichte getrennte Wege gehen ließ, schwirrte in sechs unvergesslichen Kulissenszenen geistig an Bernardette Constanze Amalia vorbei.
Kulissenszene 1: Die herbe Enttäuschung, als Herr und Frau Kaiser, Charlotte Janine sowie Johanna Jennifer gemeinsam vor St. Zeno drohend ihre geballten Fäuste ausstreckten, wütende Blicke nach oben gerichtet, weil derzeit der Kreuzgang, welcher ein Relief Kaiser Barbarossas birgt, nicht zugänglich war. Ausgerechnet!
Kulissenszene 2: Die unendliche Wut, als Herr Kaiser am alten Salinenwerk tobte, weil ausgerechnet zum Aufnahmezeitpunkt von rechts kommendes intensives Sonnenlicht für gelingende Bilder ausschließlich Kameraauslösungen aus schräger Position gestattete, er aber partout Direktansichten wünschte, schließlich wegen Beschimpfung des unschuldigen Himmelskörpers samt seiner Lieben einjähriges, bei Verstoß lebenslanges Platzverbot erhielt.
Kulissenszene 3: Der peinliche Familienzank, als Furie Charlotte Janine während des gemeinsamen Spaziergangs übers Kurparkgelände widerwillig vor dem Brunnenhaus verharrte, mit verächtlicher Miene „Eyyyy, ich will nicht länger hier im blöden Bad Reichenhall sein!!!!! Ich will wieder nach Bad Driburg!!!!! Da gab’s süße Hirsche auf der Wiese!!!!! Hier im Kurpark gibt’s außer langweiligen Blumenbeeten oder öden Holztürmen gar nix!!!!! Sofort Papa!!!!! Sofort!!!!!“ skandierte, im Brunnenhaus tatkräftig unterstützt von Furienschwester Johanna Jennifers Theaterinszenierung „Iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiihhh!!!!! Igiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitt!!!!! Pfuiiiiiiiiiiiiiiiiiiii!!!!! Wie ekelhaft schmeckt DAAAAAAAAAAAAAAS denn????? Da stirbt man ja!!!!!“, der Familienvater schier unerträgliches Zickengezeter durch machtvolles „CHARLOTTE JANINE!!!!! JOHANNA JENNIFER!!!!! EIN FÜR ALLE MAL!!!!! DER HERR IM HAUS BIN IMMER NOCH ICH!!!!! WER BRINGT DAS MEISTE GELD HEIM? ICH!!!!! DRUM ENTSCHEIDE AUCH ICH, WO’S HINGEHT!!!!! KAPIERT?????“ mundtot machen wollte, sie persönlich es hingegen vorzog, angesichts schlagartig verstummter, eben noch flotte Walzer aufspielender Musiker die Ihrigen diskret Richtung Hotel zu lotsen, ehe hier allen dasselbe Los drohte wie vorhin am historischen Salzbergwerk.
Kulissenszene 4: Der lautstarke Standpauke, als er, im Hotelzimmer angekommen, zunächst zwei klatschende Ohrfeigen kassierte, gefolgt von ihrer klaren Ansage „ICH HATTE DIR DOCH GLEICH GESAGT: ‚LASS UNS NACH DEM SOMMERDESASTER IN SINGAPUR DER KINDER ZULIEBE NOCHMAL WIE IM JANUAR BAD DRIBURG BESUCHEN!‘ SEIN ‚GRÄFLICHER PARK‘ MIT DEN WILDTIEREN SOWIE DER SCHÖNEN ALLEE GEFIEL IHNEN SO GUT! UND WIE SIE HERZHAFT VOM QUELLWASSER TRANKEN! DORT KOMMT ES FEIN AUS WASSERHÄHNEN, WIE IN DER KÜCHE! NICHT SO EIN UNANSTÄNDIGER KURBRUNNEN MIT VÖLLIG UNBEKLEIDETEM KNIRPS, WESHALB WIR UNS WEGEN DER MÄDCHEN AUSSCHLIESSLICH DAHINTER AUFHALTEN KONNTEN! ABER NEIN, HERR DENNIS KEVIN MACHT IMMER NUR DAS, WOZU ER GERADE LUST HAT…WIE…WIE BEIM SEX…OHNE RÜCKSICHT!!!!!“, kurz unterbrochen von prustendem Mädchengekicher, „UND MERK DIR EINS – OOOOOOHHH, WAG ES JAAAAAAA NICHT, DEINEN MUND AUFZUMACHEN!!!!! – WERD DU ERST MAL GRAF MIT FEINER PARKANLAGE WIE DER VON OEYNHAUSEN-SIERSTORPFF, DANN REDEN WIR WEITER!!!!!“ HAST BEKANNTLICH MEHRMALS IM ‚EUROJACKPOT‘ DIE 90 MILLIONEN GEKNACKT!!!!! WARUM GEHEN WIR ÜBERHAUPT NOCH ARBEITEN????? ALLES LEGT DER KNAUSERIGE KLINIKMITARBEITER AUF DIE HOHE KANTE!!!!! ALTER GEIZKRAGEN!!!!! ICH WILL AUCH GRÄFIN SEIN!!!!!“, dermaßen geräuschintensiv, dass Kaisers beim ersten Wandklopfen auf Freigebigkeit hoffender Zimmernachbarn ängstlich zusammenfuhren, geprägt vom Salinenerlebnis in banger Erwartung, man werde sie gleich hinauskomplementieren.
Kulissenszene 5: Der schmerzvolle Abschied, als Kaisers gescholtener Haupternährer am letzten Urlaubstag in Berchtesgadens Stadtzentrum mit zwei blauen Veilchen Richtung Stiftskirche zurückblinzelnd „Pfüati Gott!“ ächzte, wo er während seiner Geschreis „WELCHE IDIOTEN MUSSTEN AUSGERECHNET DORT IHRE DÄMLICHEN AUTOS ABSTELLEN????? VERSCHANDELN MIR DIE GANZE SCHÖNE BILDANSICHT!!!!! ALS OB BERCHTESGADEN SONNTAGS NICHT GENUG PARKPLÄTZE HÄTTE!!!!! ÜBERALL, WIRKLICH ÜBERALL IST RINGSUM FREI, NEEEEEEIIIIIIINNN, DAAAAA MÜSSEN DIE KARREN STEHEN!!!!! DAS WAR VOLLE ABSICHT, UM FOTOGRAFIERENDE TOURISTEN ZU ÄRGERN!!!!!!!!!!!! WARTET’S AB FREUNDE, WENN ICH EUCH SEHE, DANN GNADE EUCH…“ von hinten zwei Löwenpranken gestandener, grantiger bayerischer Mannsbilder unsanft auf den Schultern spürte.
Kulissenszene 6: Die Lamentationes Jessicae, als die Teilzeit-Fremdsprachensekretärin beim Stützen des malträtierten Krankenpflegers in akuter religiöser Anwandlung gen Himmel wehklagte: „Oooooohhh, Herr, berechtigterweise strafst du alle vier Anwesenden hier, ließest in deiner unergründlichen Allmacht sogar zu, dass die Heiligen Petrus, Johannes der Täufer und Andreas ihren Spaß mit ihnen treiben! Du hast Recht, Zuckiputzi, ausgerechnet ein von unzumutbaren Störobjekten freies Ensemble mit den grüßenden Türmen von ‚St. Peter und Johannes der Täufer‘ sowie ‚St. Andreas‘ verwehrten gellend lachend deren Namenspatrone, nachdem sie uns zuvor beim Betrachten der Fassade der Propsteikirche listig idealste Aufnahmebedingungen suggeriert hatten! Weh, warum ignorierte ich bloß meine weibliche Intuition! Ach, schon am allerersten Tag hätte es mir im Wald von Bayerisch Gmain dämmern müssen, dass dieser Urlaub nur Pech und Unglück bringen wird! Unentwegt herrlicher Sonnenschein, kein einziges Wölkchen. Ach, wie wir uns voller Vorfreude ranhielten, um endlich Schnappschüsse vom meerblauumrahmten ‚Hohenstaufen‘ zu posten. Ach, welch Reinfall auf der Lichtung! Für derart optischen Müll verschwendeten wir keinen Speicherplatz. Genauso wenig für den ‚Wappbach‘ und dessen kleinen Wasserfall. Absoluter Tiefschlag! Musste die Kaskade unbedingt am Wegrand mit der prallen Sonnenseite liegen? Oh, wie gerne hätten wir jenen darüber lieblich bergab plätschernden Bach mit aufs Bild genommen, null Chance, unsere Displays schimmerten grellweiß vom blendenden Wasser. Das wäre so richtig klasse geworden! Von vorne wirken Bergbäche doch tausendmal besser, was willst du mit denen von hinten? Warum, um Gottes Willen, nur gegen das Licht? Warum nicht mit dem Licht? Jaaaaaaaaa, Herr, darum führtest du uns als Irrlicht hunderte Kilometer hierher, um Kaisers im ‚Berchtesgadener Land‘ zu züchtigen, jaaaaaaaaaaaa, zu züchtigen, bis ins letzte Glied, weil Zuckiputzi Bad Driburg nicht gut genug war!“
Ihr Kreuzweg dagegen führte die älteste Tochter allmorgendlich unwillig vom Hotel zur Talstation, von dort noch missmutiger mit der ersten Bergfahrt zum Predigtstuhl hinauf, um sich durch fleißiges Arbeiten vor dem Prüfungsausschuss von ihrer besten Glaubensseite zeigen zu können. Und immer wenn die angehende Prüfungskandidatin spätnachmittags während der Rückfahrt zur Feststellung gelangte, dass selbst die letzte Gondelfahrt aufwärts noch gut mit kamerabehangenen Urlaubern gefüllt war, sie daraus irrtümlich schlussfolgerte, alle ausnahmslos darauf erpicht, mit der weltweit ältesten in Betrieb befindlichen Kabinenseilbahn zum gemütlichen Tagesausklang mutig den Berg zu bezwingen, nur um hoch über der alten Salzstadt furchtsam zitternd der auf Bad Reichenhalls Freiluftkanzel knallharte zeitgenössischer Raptexte auslegenden Predigerin lauschen zu dürfen, tragischerweise vergeblich, wertete Alessa Marie dies als untrüglichen Wink Gottes, er werde am 21. November vor dem unbestechlichen Tribunal wohlwollend Partei für sie ergreifen. Tatsächlich jedoch keineswegs gewillt, am Prüfungstag ernsthaft zu erscheinen, schmiedete das nicht auf den Kopf gefallene Früchtchen 1613 Meter oberhalb des türkisfarbenen Saalachsees nebenbei listige Pläne, wie ungeliebte Pflicht trickreich umgangen werden könnte. Denn nicht anders vermochte eine allmählich Lunte riechende Mutter gewisse Verkettungen anfänglich unbeabsichtigt anmutender, infolge zunehmend eklatanter Häufung allerdings unter Garantie künstlich herbeigeführter Umstände zu deuten, welche Termin um Termin kurzfristig platzen ließen.
Erzählrunde 3
„Huch!“ Ihre Durchlaucht öffnete weit ihre gedankenversunkenen Augen. Als sei sie über ihre eigenen Worte erschrocken, welche am 10. August 2017 Gelnhausens im prallen Sonnenlicht liegenden Untermarkt aufhorchen ließen. Die Marienkriche im Fokus. Das humpelnde Mädel unerbittlich hinter ich her ziehend. „LOOOS, VORWÄRTS, UNGEZOGENE TOCHTER! ODER WILLST DU ZU SPÄT KOMMEN? AUF, AUF, EIN BISSCHEN BEEILUNG, WENN ICH BITTEN DARF! ALLE ANDEREN SIND BESTIMMT SCHON DA! MACH! DALLI DALLI! TEMPO!“
Nein, am drückend warmen Donnerstag war die schlaue Mama nicht mehr drauf reingefallen, hatte sich nicht von ausgebufften Taschenspielerinnenmethoden austricksen lassen, dank derer es der pfiffigen Schülerin seit Bad Reichenhall erfolgreich gelang, den Termin regelmäßig hinauszuzögern. Haaaaaaaaaaaa, doch heute hatte sie unten an der Gelnhausener Kaiserpfalz am Parkplatz fix aufgepasst. Ausgerechnet beim Aussteigen brach Töchterchens linker High Heel Absatz. Waaaaaas für ein Zufall!
„Autsch, Mamiiiiiiiiiii, hab mir den Fuß weh getan, oooooohh, wie das weeeeeehtut, muss unbedingt hier zum nächsten Arzt! Dringender Notfall!“
„Zeig mal deinen Schuh!“
„Geht nicht, Mami, mein Fuß tut so weh!“
„Schuh her! Sofort!!!!! Aha, ich wusste es! Und woher stammen die Klebstoffspuren? Das zieht Papa dir alles vom Taschengeld ab!“
Dementsprechend lachte die Triumphierende auch innerlich von ganzem Herzen, als sie überlisteten Nachwuchs bald nach Passieren des Untermarktes ins Kircheninnere schubste: „Hinein mit dir!“ Von der Kanzel grüßte Oberkirchenrat…äh…irgendwie war ihr sein Name entfal- len…freundlich: „Sieh einer an! Die letzte Schlafmütze hätte sich dann also auch aus den Federn bequemt. Alessa Marie, nehme ich stark an! Du kannst gleich vor kommen! Und Ihnen da in der Mitte sage ich es wiederholt zum dritten Mal: Keine Blitzlichtaufnahmen, Sie stören das Procedere! Blitzlicht aus!“
Betreten vor dem etwas erhöht stehenden Herrn Prüfungsvorsitzenden angelangt, überreichte Alessa Marie diesem ihre mühevoll ausgearbeitete Predigt, eisige Mienen zwölf weiterer Gremiumsmitglieder, männliche, weibliche Geistliche, im Nacken spürend, zu denen ein geistig gänzlich abwesend wirkender junger Vikar gehörte. Keiner wagte zu atmen, als besagter Kirchenbeamte ihr Skript auf etwaige Regelverstöße hin durchforstete, welche vorzeitige Abfahrt bedeuteten.
„Nun, ehrlich gesagt erwarten Kirchengerichte anderes als in Sprechgesangsform verfasste Predigten zu Rapstücken. Denn sei gewiß: Straßenlieder der Gosse werden wir im Hause Gottes unter keinen Umständen dulden.“ Offenkundig stieß ihm bereits der gewählte Überschrif-tentitel Rapper Morlockk Dilemma und Hiob – Die Messiasse sind da! gewaltig auf. Im Nu jedoch nahmen missmutig Nase rümpfende, Heimreise ankündigende Gesichtszüge wider Erwarten deutlich zustimmendere Konturen an.
Der vorsitzende Richter zitierte unmerklich aus Hiobs Apokalypse jetzt!. „Hmmmmm…
Die Zeit ist reif.
Ihr alle werdet Zeuge sein.
Es kommt das Ende aller Heuchelei.
Hörst du die Engel lauter ‚Freude‘ schreien,
wenn all die Sterne aus den Wolken fallen?“
Er erhob angetan, richtig euphorisch seine Stimme: „Das ist gut!
Das ist der Zorn des Lebens,
ihr habt zu Götzen gebetet.
Hast du den Hals gewaschen?
Heute trittst du dem Schöpfer entgegen.
Das ist sogar sehr gut! Klare, präzise, treffende Aussagen! Ich sehe also: Die junge Dame ging nach ihrem entsetzlichen Fehltritt ernsthaft in sich und tat viel Buße. Deshalb wollen wir bei solch einem theologisch interessanten Opus Großzügigkeit walten lassen. Doch denk blooooß nicht, dass du damit dein Examen eventuell leichter schaffst. Unser Merkblatt hierzu hast du ja sicher vorher gut studiert. Dasselbe hoffe ich übrigens auch für die anderen Kandidaten. Denkt daran. Keine improvisierten Witze! Keine improvisierten Scherze! Keine improvisierten Andeutungen! Keine Improvisationen, aus denen der Papst in Rom Nutzen für seine Herrschaft ziehen könnte! Keine Improvisationen, die nur ansatzweise Missverständnisse erzeugen!“, erklärte der Leiter eindringlich, jeden Jugendlichen einzeln durch seine große schwarze Gelehrtenbrille musternd.
„Vor allem“, wandte sich der Belehrende neuerlich Alessa Marie zu, „gelten für dich spezielle Hinweise, deine ausgewählten Zeilen moderat zu rappen, damit ältere Menschen vom für sie ungewohnten Krach keinen Schock bekommen. Piano, bitte! Piano!“
„Und vor allem, Alessa Marie, hör“, flehte die auf Frau Kaisers inständiges Bitten mitgekommene Pfarrerin des Mädchens von der zweiten linken Kirchenbank (erstere hatte man dem gestrengen Konsistorium frei gehalten) händeringend ergänzend herüber, „sprich ja nicht gegen Calvins Reformierte mir!“
Postwendend nahm der Kanzelredner diesen gutgemeinten Hinweis dankbar auf, um auf Vorgänge hinzuweisen, die in ihrer erschütternden Tragweite den Prozess erheblich tangierten: „Kinder des Herrn! Uns erreichte die unfassbare Kunde, dass der von Interpol zur Fahndung ausgeschriebene ‚Täuscher‘ – ooooooooohhh, dieser Grässliche! – bereits sogar in unserer Landeskirche Sabotage betreibt. Vorgestern erst erschien er in Nordhessen mehreren, vor dem Gemeindehaus ihre Vikarin erwartetende Konfirmanden. Förmlich aus dem Nichts trat plötzlich eine historisch gekleidete Gestalt an die Arglosen heran, gab sich als Paul Gerhardt aus, behauptete, Gott hätte ihn gerade vom Himmel gesandt, um mit ihnen ‚Geh aus, mein Herz, und suche Freud‘ anzustimmen. Allerdings waren Pauls erbauende Liedstrophen, für Feiertagschristen kaum erkennbar, zuvor von dem unverfrorenen Lügenbold durch ausgeklügelte antireformierte Aussagen verfälscht worden. Nur ein schäbiges Beispiel:
Narzissus hüpft mit Tulipan voran,
denn Jean Cauvin, der geht uns echt nichts an,
nur lutherische Seide.
Blasphemie! Doch gelobt sei der Herr! Fünfzehn Heranwachsende standen dank vorbildlicher Leistung ihrer Vikarin fest verwurzelt im Glauben, entlarvten flink die ungeheuerlichen Stellen, verweigerten das Singen: ‚Hauen Sie ab! Nehmen Sie Ihre billigen Gesangsblätter, und ziehen Sie Leine! Im Text heißt es nämlich:
Narzissus und die Tulipan,
die ziehen sich viel schöner an,
als Salomonis Seide.
Wir sind schließlich nicht blöd!!!!! Sie sind gar nicht Paul Gerhardt, sondern bestimmt dieser ‚Täuscher‘!!!!!‘, boten sie furchtlos Paroli. Sich fassungslos am Kopf kratzend floh er im selben Augenblick mit den wutschäumenden Worten: ‚Grrrrrrr, und ich Idiot dachte, auf dem Land sei es ein leichtes Täuschspiel!!!!!‘ Ein wahrer Meister der Verkleidung, Imitation und Verstellung. Niemand kennt seine wahre Identität. Wir in der Kirchenaufsichtsbehörde mutmaßen: Es ist DER, dem Martin, unser wackerer Recke, auf Eisenachs Wartburg mutig das Tintenfass entge-genschleuderte.“
„Oder es ist ein vom Papst bezahlter Agent, um pünktlich zum fünfhundertjährigen Reformationsjubiläum unseren Protestantismus doch noch spalten zu können!!!!!“, schimpfte ein älteres Prüfungsmitglied und pochte wütend mit seinem Stock mehrmals auf den Steinboden, sodass es im Kirchenschiff laut davon wiederhallte.
„WIDER DAS PAPSTTUM ZU ROM!!!!!“, schrie hinten ein Aufgebrachter.
„VOM TEUFEL GESTIFTET!!!!!“, pflichtete ihm ein ebenso heftig Aufgesprunger bei.
Akut hochkochende konfessionelle Emotionen mit huldvoll hoch und runter gehenden, von ihrer Kernbotschaft doucement doucement bedeutenden, weit ausgestreckten Armbewegungen mühsam bändigend, setzte der Präses daraufhin seine Kanzelansprache fort. „Wie dem auch sei. Seit dem Vorfall von vor zwei Tagen liegen überall die Nerven blank. Ein kleiner Funke genügt, und das Pulverfass explodiert. Deshalb sind auch laut Reglement frei improvisierte Witze, Scherze oder Andeutungen strikt untersagt, damit keiner unbeabsichtigt der römischen Herrschaft zuspielt beziehungsweise – was wesentlich schlimmer wäre, und der Himmel verhüten möge! – den hochverehrten Meister Calvin und seine ‚Institutio Christianae Religionis‘ in unvorteilhaftem Licht erscheinen lässt. Daher muss nachher jeder vor Predigtbeginn feierlich unterschreiben, nicht ein einziges Wort gegen das Reformierte Bekenntnis sprechen – äh…in deinem Fall, Alessa Marie, rappen – zu wollen, um gläubige Schäflein nicht zu verwirren; und um unsere durch antireformierte Umtriebe des Täuschers attackierte, stets Konsens orientierte Kirchenordnung öffentlich mit unerschütterlicher Vehemenz zu verteidigen.“
Nach kurzem Räuspern fuhr der Oberkirchenrat fort: „Ich rufe jetzt die Apostaten Julian, Jonas, Lisa, Thimo, Vanessa, Hannah, Paula, Ann-Kathrin, Sebastian und Nadine zur Glaubensprüfung. Alle positionieren sich in einer Reihe nebeneinander vor dem Lettner. Jonas ganz links, dann Vanessa, Hannah – ja, das Verkündigungspult stellt einfach irgendwo hin beiseite – Julian, Paula, Ann-Kathrin, Alessa Marie, Sebastian – nein, die Orgel bleibt stehen! – Nadine, Lisa. Thimo bildet den Abschluss. Für bessere Konzentration Augen geradewegs zum Chor.“
Gesenkten Hauptes, beschämt wegen ihrer eigenen Naivität, traten daraufhin zehn junge Menschen zwischen 14 und 16 Jahren, einfältige Gemüter, die Satan spielend zum Narren gehalten hatte, zaghaft vor. An der Chorschranke bildeten sie unter den wachsamen Augen der Jury wie befohlen eine Linie, aufgeregt jener Dinge harrend, welche nun kommen sollten.
„Im Verfahren benotet die Kirchenzucht zunächst euer allgemeines Glaubenswissen, Grundlagen, welche im Konfirmationsunterricht vermittelt wurden. Folglich sind meine Kanzelfragen keineswegs neu, zeigen jedoch Anwesenden mehr als deutlich, wer einst selbstsüchtig nur für teure Geschenke lernte. Also, Sebastian“, dem Armen fingen die Knie an zu schlottern, „sage uns, was geschah am 10. Dezember 1520?“
„Da…da…da…da…da…“
„Ja, was, DA??? Wir sind hier nicht im Dadaismus!“, forderte ein Pastor zu mehr sprachlicher Präzision auf.
„Hä? Wo?“, rief Paula irritiert.
„Da…da…da…da…hat unser lieber Martin Luther vor dem Wittenberger ‚Elstertor‘ standhaft die Bulle des Antichristen verbrannt!“
„FORT MIT DEM PAPSTTUM!!!!!“
„Super, Sebastian!“, honorierte der abermalig um geistliche Glättung religiös aufgewühlter Wogen bemühte Gottesmann die Antwort. „Lisa, nun zu dir. Nenne bitte den ersten Grundpfeiler Martins herrlicher reformatorischer Lehre!“
„Allein durch die Gnade.“
„Das ist ja prima! Und der zweite Grundsatz, Ann-Kathrin?“
„Allein durch den Glauben, Herr Oberkirchenrat!“
„Und auf Latein?“
„Sola fide, Herr Oberkirchenrat, und der dritte lautet sola scriptura, Herr Oberkirchenrat!“
„Summa cum laude, Ann-Kathrin!“
„Deo gratias, Magister Theologiae!“
„Ein feste Burg ist unser Gott. Nadine ergänzt…“
„Ein gute Wehr und Waffen.“
„Thimo, jetzt du…
„Er hilft uns frei aus aller Not.“
„Julian…?“
„Die uns jetzt hat betroffen.“
„Mein lieber Herr Gesangsverein, das läuft ja bei euch wie am Schnürchen! Martin und Käthe sind im Himmel jetzt sehr stolz auf euch! Alessa Marie, sag uns rasch, wie das glaubensstärkende Lied weitergeht!“
Statt auf ihrem Stehplatz zu verweilen hüpfte die Gefragte mir nichts dir nichts los, positionierte sich in der Mitte vor dem Lettneraltar mit dem Rücken zum Kirchenvolk, sei es, dass das Mäderl, völlig durcheinander vom Prüfungsstress, irrigerweise verfrüht seine Predigt im Angesicht des Weltgerichts besonders gottesfürchtig halten wollte, sei es, dass auf diese Weise dem ganzen Ablauf soeben einfach nur provokativ die eiskalte Schulter gezeigt werden sollte, sei es, dass der altböse Feind mit Ernst es jetzt meinte.
„War das denn wirklich schon alles?
Ist dieses Leben nur Fügung und alle Würfel gefallen?
War das denn wirklich schon alles?
Ist diese Welt wie ein Käfig und nur die Vögel sind frei?
Und jede Nacht spielen die Filme von neuem
Am morgen reißen dich Schläge aus deinen wildesten Träumen
Die Kirche läutet den Sündern, du hast das Frühstück gedeckt:
Ein Kaffee, vier Zigaretten und dazu süßes Gebäck
Du siehst zum Himmel und denkst die Erde zieht ihre Bahn
Gestern die Grippe in Spanien und morgen Krieg im Iran
In China essen sie Hunde, im Handy summt der Alarm
Die Sonne lacht, doch im Schacht steht schon die Untergrundbahn.“
Beide Hände dichtmöglichst ans Gesicht gepresst, um das vor Scham glühend rot angelaufene Gesicht dahinter irgendwie zu verbergen, musste Frau Kaiser tatenlos mit anhören, wie die vor Motivation strotzende Hiob-Verehrerin frohgemut Part 1 weiterrappte.
„All diese müden Visagen irren umher
Du könntest jeden hier töten und keiner würde sich wehren
Der eine starrt in die Leere, der andere redet im Schlaf
Im Bahnhof gibt es Gerangel vor dem Kaffee-Automa…“
An dieser Textstelle endlich erbarmte sich eine Pastorin aus dem illustren Zwölferkreis mit ihrer gedemütigten Geschlechtsgenossin, vom Gesichtsausdruck her zu urteilen gleichfalls leiderfahrene Mutter, indem sie dezent der Rapperin rechte Schulter antippte.
Erzählrunde 4
„AAAAAAHHH!“ Zehn von Kesselstadts Friedenskirche herüberschwingende Uhrenschläge ris-sen Bernhardette Constanze Amalia ruckartig jäh aus tiefsten Gedanken heraus. Schreck lass nach! Beim Rückblick an jene Ereignisse in Gelnhausen musste des Landesherrn Ehefrau tat-sächlich irgendwann stehend eingenickt sein. Und die Folgen dieses Sekundenschlafes hätten fatal enden können. Doch aufmerksame Hofmamsells vereitelten die Tragödie. Geistesgegen-wärtig herbeigesprungen stemmten sie, Wilhelm Hauffs standhaftem Zinnsoldaten gleichend, mutig ausgestreckte Arme gegen das ansonsten vornüber krachende Turmbauwerk.
„Où…où…où..où…suis-je?“, stotterte la dame du château augenreibend. „Les…les…les bannières sont là?“
„Non, malheureusement, Constance!“
Daraufin hielt es sie nicht länger aus unter dem balkonüberdachten, schattenspendenden Ein-gangsfoyer. Auf Fingerschnipp folgten die Zinnsoldatinnen gehorsam zum Schlosstor, wo ihre gnädige Herrin das jeden Moment mit dem Union Jack eintreffende mobile Dienstpersonal in Empfang nehmen sowie Oliver, miserabel bezahlter Hof-Flaggenhisser, beim ordnungsgemä- ßen Ausüben obliegender Pflichten begutachten wollte. Hanau-Münzenbergs Fahnen beweg- ten sich schon graziös im Wind. Nur noch die Ihrer britischen Majestät, dann wäre alles per-fekt für diplomatisches Schachern.
Auf erneuten Fingerschnipp stoppte das Gefolge jedoch bereits auf halber Wegstrecke. Ange-widert blickte Frau Gräfin auf jenen Gebäudekomplex, in welchem die Kommandantur unter-gebracht war. Zechlärmen durchdrang mühelos geschlossene Fensterscheiben. Kommandant Heiner Jawlonskji und das berüchtigte Tabakkollegium, vom Grafen entgegen ihres ausdrück-lichen Willens in Anlehnung an „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. von Preußen wiederbe-lebt. Täglich beißender Pfeifenqualm. Täglich randgefüllte Bierhumpen. Täglich eklige Zoten. Allen munter voran: ER! Absolut unsympathisch. Ex-Söldner. Unehrenhafter Rausschmiss aus Frankreichs Fremdenlegion. Danach auf eigene Rechnung tätig. Skrupellos. Eiskalt. Zu allem entschlossen. Unberechenbar. Schwerstes Offenbacher Stadtgrenzentrauma. Schneeweißes Haar. Schneeweißer Bart. Durch begangene Schurkentaten um Jahre gealtert. Dabei keine 40. Ach, jaaaaaa, stimmt, aus Therapiegründen Lokführer, stand im vor Rechtschreibfehlern wim-melnden Bewerbungsgesuch.
„UNGEHOBELTER HAUFEN!!!!! RÜPELBANDE!!!!!“ Dadurch hoffte sie, es werde wenigstens für wenige Augenblicke Ruhe einkehren. Doch Haudegen Heiner Jawlonskji, Günstling des Grafen, schien drinnen nichts zu verstehen. Vielmer entlockte er mit einem derben Witz, wirklich obs-zön und selbst im Karneval zensurwürdig, sodass fünf anständige Frauenzimmer vor Scham erröteten, seinen vom Starkbier benebelten Offizieren gellendes Lachen.
Heiner Jawlonskji. Bisweilen genannt Der Hitzkopf oder Heiner der Hitzkopf. Am 12. Septem-ber 2018 hatte sich Bernhardette Constanze Amalia von Spuren seiner Rücksichtslosigkeit persönlich überzeugen können. Gemeinsam mit Dennis Kevin in den Spessart unterwegs, wo sich das blaublütige Paar die Ruine Beilstein völkerrechtsnonkonform unter Hanau-Münzen-bergs Nagel zu reißen gedachte, musste ihr dunkler, baldige gräfliche Durchfahrt hupend an-kündigender Rolls-Royce Phantom VIII, EWB Version, hinterm Ortseingangsschild von Bieber-gemünd in Höhe einer Gaststätte bremsen, weil dort ein Gestikulierender mitten auf dem As-phalt stand, unablässig beide Zeigefinger flehentlich auf das burgähnliche Gebäude richtend. Zunächst befahl le Comte, ausweichend weiterzufahren. Am Kleidungstil Louis Seize samt Pe-rücke erkannte er jedoch alsbald keinen Geringeren als den Amtmann von Bieber.
„Ca c’est Holger! Stop!“ Nachdem Chauffeurin Sabrina teures Gefährt auf anliegenden Parkflä- chen professionell zum Stehen gebracht hatte, stapften sie empört schnurstracks dem Beam-ten entgegen. Sogleich wollte der Souverän wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenver-kehr dienstlich abmahnen. Amtmann Holger kam ihm rhetorisch zuvor, sprach untertänig ver-beugt bedacht folgende Worte: „Oh, allergnädigster Herr! Meine geringste Absicht besteht da-rin, Euch hier im Ortsteil Wirtheim unnötig aufzuhalten. Mögt Ihr vielmehr mit Gottes Hilfe Eu-er angestrebtes Ziel rasch erreichen. Doch sah ich nach zwanzig unbeantworteten Schreiben leider keine andere Wahl, um Euer Gnadens Gehör zu finden. Oh, trefflichster Herr, die Situa-tion drängt! Wenn Ihr im Biebertal drohende Aufstände vermeiden wollt, welche, was Gott ver-hüten möge, sogar das Amt Lohrhaupten erfassen könnten, so hört mich unbedingt an!“
Auf huldvolle Handbwegungen hin führte Holger sie näher ans Gebäude heran. Sämtliche Rol-läden des im Parterre gelegenen Gastronomiebereichs heruntergelassen. Überhaupt wirkte das Anwesen ziemlich trist, heruntergekommen, wie dauerhaft geschlossen.
„Apropos. Auf eine gar ehrliche réponse, Kerl! Woher hat Er eigentlich l’information, dass Wir heute une petite passage durch Biebergemünd machen?“ Schlitzohrig grinsendes Schweigen. Irgendwann wurde es ihrem ungehalten seine Chopard L.U.C Perpetual T 43 taxierenden Zu-ckiputzi zu bunt. „Schelm, Er weiß sicher gut, dass Wir jetzt nicht die geringste Zeit für einen Frühschoppen haben. Peut-être une autre fois. Allez Madame, à Lettgenbrunn!“
Biebers mahnender Amtmann fuhr unbeeindruckt fort: „Oh, vorzüglichster Herr, Misjöh, silwu-plä, bleibt! Ihr ahnt nicht, was sich im Biebertal zusammenbraut.“
„Alors, so spreche Er ohne zu heucheln, frei und ungezwungen, doch präzise und dezidiert, da-mit Wir ihn auch verstehen!“
„Oh, gerechtester Graf! Große Wut gärt unter Wirtheims Bewohnern. Volkszorn kocht, seit Ihr unsere liebliche Gegend am 3. Juli altangestammter Hanauer Herrschaft zuführtet. An jenem glorreichen, gottgeschenkten Datum, als Ihr exakt hier, hoch zu Ross, bejubelt, beklatscht vom fröhlich herbeigströmten Volk, das Ancien Régime beendetet. Doch Freude darüber währte nur kurz. Euer Durchlaucht waren kaum weitergeritten, gab Obrist Jawlonskji den gemütli-chen Gasthof zur Plünderung frei. Oh, bestester Herr, gar Entsetzliches sah Wirtheim nun! Gröhlend randalierte Euer Landsknechtshaufen im Inneren, machte sich über sämtliche Vor-räte her, gab Bier, Wein, Schnaps, Whisky, Wodka, Likör, Schnitzel, Steaks, Pommes Frites und prallvolle Spielautomaten den Trossjungen als reiche Kriegsbeute zum Abtransport. Überall Kleinholz. Gewaltige Fahnen hissend, zog die Horde im Suff pöbelnd durchs schmucke Ört-chen. Euch hinterher. Seitdem rennt mir Wirtheim die Amtstür ein, unterstützt von den Neu-wirtheimern, Kasselern, Lanzingenern sowie, Gott stehe uns bei, neuerdings den Roßbachern, fordert bis spätestens 30. 09. Schadensersatz in zweistelliger Millionenhöhe für erlittene Un-bill.“
„Was will Er Uns damit sagen, Schuft?“
„Euer Gnaden unterschätzen gewisse lokale Breitenwirkungen. Wir leben in einer eher länd-lich geprägten Gegend. Die Leute halten noch fest zusammen. Vereinsleben blüht. Nachbar-schaft wird groß geschrieben. Biebergemünd ist gegen Euch aufgebracht. Denkt an jenen ge-selligen Bedeutungswert von Kneipen für Ortsgemeinschaften solcher Regionen. Mit unserer Schenke nahm Obrist Jawlonskij dem Landvolk nicht nur das leckere kühle Pilsner, den Skat-tisch, den Würfeltisch, die Stammtische, das Automatenspiel, den Versammlungsraum, son-dern stahl zugleich Herz, Seele und Heimat. Die hiesige Bevölkerung lastet das allein Phi-lippsruh an, droht damit, die Plünderung über soziale Medien als Kriegsverbrechen publik zu machen. Bitte, bedenkt auch hier, unumschränkt Waltender: Wirtheim hatte sich kampflos er-geben. Am Ortseingangsschild empfingen Euch Blaskapelle plus Kirchenchor. Verzeiht mir da-rum, oh, allergütigster Herr, ich will das Kind jetzt einfach mal frank und frei beim Namen nennen: Solltet Ihr nicht einlenken, planen die Wirtheimer 2019 nebenan auf den Kinzigwiesen eine zweiwöchige Jubiläumskirmes, dankbar darüber, dass ihre Ortschaft 1649 ans Kurfürs- tentum Mainz zurückfiel.“
Widerwillig kramte Zuckiputzi in seiner rechten Jackentasche. Pech! Ausgerechnet heute lag der Block Verrechnungsschecks im Schloss.
„Onlinebanking übers Smartphone?“
„Osteuropäische Hacker reich machen? Was bildet Er sich ein, Halunke!“
Doch fieses Schicksal ließ wenig Spielraum. Wenn man Tumult verhindern wollte, blieb nichts anderes übrig, als mit dem gerissenen Amtmann am Platz zu verweilen, wo dieser zur Kurz-weil einem plumpen Dorfwitz nach dem anderen zum besten gab, aber nur selbst darüber lachte. „Gottchen, neeee, wie peinlich!“ Narturellement ignorieren vornehme Herrschaften von Stand solche Darbietungen, wie sie auf dem Land gerne Brauch, gucken dafür in der Vormit-tagssonne voller Anteilnahme unentwegt den Tatort an. Bis endlich das heißersehnte schwar-ze Auto vom mobilen Dienstpersonal ums Eck bog; dem begonnenen Scherz vom Schweine-hirten Willi und der Schneidersfrau Margot in des alten Johanns Kinzigmühle, bäuerisch, Ad-ligen entwürdigend, vorzeitig ein Ende bereitend.
„Muss reichen! Und trete Er mir nie mehr mit solchen Anliegen unter die Augen, Kerl!“
Unwirsch drückte Dennis Kevin dem lächelnden Amtmann Holger von Bieber den Scheck in die Hand. Wieviel ihr Göttergatte jedoch bereit war, an Wirtheim zu zahlen, wird vermutlich bis zum Ende beider Tage strengstens gehütetes Staatsgeheimnis bleiben.
„Meine Güte, was für ein ungebildeter Paysan!“ Bernhardette Constanze Amalia schüttelte es bei der Vorstellung. „Ein Jawlonskji auf seine Weise. Dennoch gut, dass Wir auf ihn hörten, an-sonsten gäbe es vielleicht diese Woche an der Kinzig Halligalli.“
Und wem verdankten sie die ganze Misere? Alessa Marie! Wem sonst! „Unsere Tochter hatte ja auch im Leben wirklich keine anderen Sorgen als mit völlig bescheuerten Plakaten am Wil-helmsbader Bahnübergang Eremiten anzuwerben. Ich mag gar nicht mehr dran denken!“ Je-den Tag die gleiche Theateraufführung. Springen. Hüpfen. Winken. Trillern. Schwenken. Rufen. Schreien. Schimpfen. Tränen.
Wie in der Rückschau an jenem 10. August 2016. Hanaus legendäres Wildwestduo Die 2 Kai-serinnen im Bestform. Mamas traditioneller Part als Erziehungsberechtigte: Auf besorgte An-rufe/Kurznachrichten zufällig an den geschlossenen Schranken wartender Bekannter, Freun-de, Nachbarn oder Lehrer hin, welche analog zum Stummfilm The Great Train Robbery einen bevorstehenden großen Eisenbahnüberfall argwöhnten, per Familienkutsche schleunigst zur Stelle, schlich sich Indianerhäuptling Dennis Kevins tapfere Squaw von hinten heimlich heran. Welch freudiger Anblick für Karl May! Alsdann packten fünf Finger adlerflink die stümperhafte Jung-Gangsterin, untermalt mit schrillem Angriffsgeschrei: „SOFORT AB MIT DIR NACH HAU-SE, FRÄULEIN! SONST RAPPELT’S IM KARTON!!!!!“ Überrumpelung geglückt. Fehlte nur noch das Einbeziehen des Lokführer ins Westernspektakel. Häuptlingsfrau Kaiser drehte ihren stol-zen Kopf zum Zug, stieß siegreiches Indianderinnengeheul aus: „TSCHULDIGEN SIE, UNSERE TOCHTER IST HALT MANCHMAL SO!“ Und der freie Arm winkte dazu: Weiterhin gute Fahrt!
Am 22. September 2017 unterbrach die Junior-Banditin jedoch wider Erwarten ihre Sieges- strähne, wie auch immer Indianermädchen „Die, die den großen donnernden Zug sieht“ es an-gestellt haben mochte. Und als der mächtige Häuptling nach dem 30. Oktober 2017 tapfere Krieger zum Schutz der brandneu gegründeten Grafschaft Hanau-Münzenberg suchte, erin-nerten sich Berater sofort jenes Namens aus den Wilhelmsbader Segeberg Spielen: Ja, Heiner der Hitzkopf, Männer solchen Kalibers brauchte Hanau-Münzenberg!
In Offenbach aufgestöbert, bot Versailles‘ Imitator ohne Zögern sofortigen Wiedereinstieg ins gelernte Metier an. Der erkannte DIE Chance seines Lebens auf eine steile militärische Kar-riere, kündigte, trommelte via alte Seilschaften vierhundert verwegene, teils steckbrieflich ge-suchte Söldner zusammen, stellte mit ihnen ein Regiment auf, ruhmreiche Zeiten beschwö-rend von Zuckiputzi Hanauer Bataillon getauft. „Ach, mein fescher Graf! Dem eigenen Oberst verdankten wir unsere einstündige Verspätung am Beilstein.“
„Dabei ist Zuckiputzi doch eh schon immer so ungeduldig. Hihihihihihi, ein richtiger Heißsporn! Stets voller Tatendrang. Nie geht’s schnell genug.“
„Hach!“, träumte sie weiter. „Allzu gerne würde ich mich mit ihm einmal in dieser Schenke bei einem romantischen mittelalterlichen 5 Gänge Menü verwöhnen lassen. Ohne Kinder. Lukulli- sche Genüsse, krendenzt von züchtigen Burgfräuleins sowie Frau Minne huldigenden Rittern. Schalmeienklang im dunklen, nur vom dezenten Licht lieblichen Lavendelduft verströmender Kerzen erhellten holzmöblierten Schankraum. Südfrankreichs Star-Troubadoure beim Vortra-gen selbst verfasster provencalischer Liebeslieder. Haaaaaach, dabei blicken sich unsere Au-gen total verliebt an. Haaaaaaaaach, wie damals, als wir uns beim Rüdigheimer Kirmestanz kennenlernten. Gibt’s den eigentlich noch? Haaach, jaaaaa, das wäre sooooooo schöööööööön! Oh, Gott, mir ist’s schon als hörte ich Roland de Montpellier sich räuspern, seine unübertrof-fen schmachtende Reibeisenstimme anheben. Und dazu dieser freche Hüftschwung!“
Erzählrunde 5
„JETZT SCHLÄGT’S ABER 13!“ Marienkirchens dumpfer dreizehnter Glockenhall katapultierte unausstehlichen Morgenweckern gleichend Bernhardette Constanze Amalia aus süßen Mittel-alterträumen ins Hier und Jetzt zurück. Wahrlich, kein zur Frühschicht lärmendes Weckgerät könnte dermaßen herzlos sein. Ausgerechnet jetzt! Gerade hatte Oberkellnerin Eleonore von Aquitanien das als Beatrix von Burgund und Friedrich Barbarossa gewandete Grafenpaar per Glöckchen um geschätzte Aufmerksamkeit gebeten, den phänomenalen Großmeister, „le plus grand artiste lyrique mondial, le maître Roland de Montpellier lui-même“, angekündigt, ani-mierten südfranzösische Weisen Hanau-Münzenbergs Illusionistin auf dem mit Muschelseide bezogenen Sitzkissen, infolge des Genusses köstlichen Krimsekts leicht beschwipst, zum Mit-klatschen. Verflüchtigt!!! Zerstoben!!! Stattdessen wechselte das Trugbild, hoben unerkärliche, sämtliche physikalischen Schwerkraftgesetze aufhebende Mächte Dennis Kevins strampelnde Holde vom südlichen Kirchplatz empor, über die Westturmspitze hinaus in Gelnhausens Lüfte.
Nach Paris!!! Schmiss sie 1793 äußerst unsanft inmitten der Place de la Concorde auf den Bo-den der Tatsachen, verschwand, und überließ so die unfreiwillige Zuschauerin sich selbst dem Hier und Jetzt. Logenplatz!!!!! Direktsicht auf die jeden Moment spritzende Blutfontäne!!!!! Oh, Gott…die Arme…wenigstens ein letztes: „Au revoir, ma chère!“ Letzter irdischer Trost! Ehe sich Bernhardette Constanze Amalia jedoch schaurige Anblicke frisch vergossenen Blutes boten, kündigte plätschernder Trommelwirbel baldige Urteilsvollstreckung an. Nein, diesen Gefallen würde eine Gräfin von Hanau-Münzenberg dem Pöbel niemals tun!!!!! Sie musste das Antlitz abwenden, verhindern, Zeugin fürchterlicher, messerscharfer Abläufe zu werden. Es blieben vielleicht zwanzig Sekunden. Höchstens. „Das ist es“, flüsterte deus ex machina, „du wirst wie der Vikar damals mit dem Kopf weit nach oben schauen!“ Kaum zuende gedacht, wollten adli-ge Augen auch schon den herbstlichen Morgenhimmel absuchen.
Doch wiederum handelten vier standhafte Zinnsoldatinnen vorbildlich, stemmten vereint acht Hände der zu kippen drohenden Turmfrisur unerschrocken entgegen, drückten den Koloss si-cher ins richtige Lot zurück. „Ach, tugendhafte Jungfern“, jammerte Bernhardette Constanze Amalia, „ihr verkennt völlig den bitteren Ernst unserer Lage, wähnt euch in verspielter Unbe-darftheit noch in Hameau. Haltet Augen und Ohren geschlossen!!!!! Bevor’s zu spät ist!!!!! Tout suite!!!!! Da!!!!! Der Schatten des Todes berührt bereits die Schreckensrequisite!!!!! JETZT!!!!! JETZT!!!!! JETZT!!!!! JETZT!!!!! MAINTENANT!!!!!“
Beispielhaft vorangehend plante Philippsruhs Schlossherrin irreparable psychische Schäden verheerenden Ausmaßes von ihren empfindsamen dames de la cour abzuwenden, wollte mit fest verschlossenen Seh- sowie nicht minder fest zugehaltenen Hörorganen warnen: „YVET-TE!!! VERONIQUE!!! CHANTAL!!! SYLVIE!!! ATTENTION!!! VITE!!! VITE!!! FAITES COMME MOI, MES FILLES!!!“ Spontanes Infragestellen eigener Zurechnungsfähigkeit verhinderte das Vorhaben.
Sekundenbruchteile ehe Paris‘ grimmiger Scharfrichter seinen schicksalshaften Handgriff tun würde. In größter Not sah Bernhardette Constanze Amalia geistesgegenwärtig nur noch einen einzigen Ausweg. „Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Ich will nicht länger im revolutionären Frank-reich sein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Ich will nicht länger auf der Place de la Concorde sein! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ich wünsche mich hiermit wieder in Wirtheims Schenke zurück! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ich will sofort den sonnengebräunten Roland de Montpellier singen hören. Ich will sei-nen gewagten Hüftschwung sehen! Ihm außerdem während seiner Darbietungen unüberseh-bar frech zuzwinkern! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ich will dadurch in Dennis Kevin wildes südländisches Liebesfeuer entfachen, in ihm den temperamentvollen, ungestümen, eifersüchtigen Okzitanen wecken! Ich will! Ich will! Ich will! Ich will! Ich will! Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt!“
Die Fluchtwillige überraschte es am meisten: Unter waghalsiger gedanklicher Zuhilfenahme sich selbst erfüllender Einredungen gelang auf den buchstäblich letzten Drücker zunächst ein Entkommen aus der Seinestadt. Doch Revolutionsspürhund Varennes heftete sich kläffend an frische Kutschenspuren. Im Handumdrehen scheiterte spektakuläres träumerisches Fliehen in altvertrauter Kulisse – Gelnhausens Marienkirche. Die Kanzel. Dahinter jene Sitzgelegenhei-ten für mit ihren Prüfungskindern unpünktlich Eingetroffene.
Zuckungen des rechten Auges, hervorgerufen vom kräftezehrenden Stress, hatten die Adlige in Wirtheims Schenke verraten, wie tragisch, mitten im bereits sicher erreichten Ziel!
Und das geschah so. Ungeduldiges Flüstern machte sich dort allmählich am üppigen Bankett breit. Wo blieb Roland de Montpellier? Wo? Wo? Gerüchte kursierten. Eleonore von Aquitanien trat parlierend heran. Scherzte. Ermutigte. Nein, Roland wurde nicht kurz hinter Wächters-bach von lösegeldgierigen Raubrittern entführt. Nach heißem Intermezzo des Liebestollen in Langenselbold stürme Rappe Bertrand „en moment“ vielmehr „galopant“ durch Gelnhausen-Höchst Richtung hierher. Jubelgeschrei. „Oh my God, oh my god, oh my goooooooooooooood!“ Bernhardette Constanze Amalia durchfuhr heftigstes Gehirnpochen. „Gleich werde ich Roland de Montpellier vernehmen. Rasch die paar Minuten nutzen und meinem schon zu Schulzeiten berühtmen Wimpernschlag spezielle letzte Schliffe verpassen. Ihm wird mein Idol niemals wi-derstehen können. Hahaha, ebensowenig wie Herr Kaiser, von uns Mädels stets leicht um den Finger zu wickeln, beim mündlichen Chemieabitur; als es einzig und allein darum ging, DEN rettenden 1 Punkt zu schinden.“
Doch man schrieb nicht mehr das Jahr 2000. Am 16. Oktober 2019 versagte besagter Trick im schummrigen Kerzenlicht angesichts dramatischer Umstände „Mist! Es klappt nicht! Neeeee-iiiiinnnn! Biiiiiiiitteeee! Nicht deeeeeeer wieder!“ Erinnerungen an 2017 zerstörten schlagartig überbordende Vorfreude auf des Trobadors schmachtendes Lied Je cherche Aline, bei wel-chem begleitende Schalmeienspieler regelmäßig tränenüberströmt aus dem Takt geraten:
„Mon amour s’appelle Aline,
ma belle,
mais, malheureusement,
fortune cruelle,
je ne peux plus trouver leur château, le grand
-oh ciel!- detruit jusqu’aux fondations,
en Yvelines.“
Beatrix von Burgunds anmutiges Lid brachte trotz aller erdenklichen Gegenmaßnahmen an-stelle kessen Getues ausschließlich jene pathologischen Dauerzuckreaktionen des jungen Vi-kars am äußersten Ende der vordersten linken Bankreihe zustande, schräg gegenüber ihres exklusiv verspätet Eingetrudelten vorbehaltenen Platzes hinter der Kanzel. DER VIKAR!
BAUZ! Da flog die Türe auf, wütenden Gebells sprang Varennes herein, Verräter mussten sie einen Spalt offen gelassen haben, biss zähnefletschend ins Burgunderinnenkleid aus Vikunja- wolle, zerrte Friedrich Barbarossas verzeifelt zappelnde Angebetete die gesamte Wegstrecke von Wirtheim quer durch Höchst zum dreizehnmal die Sturmglocke läutenden Gotteshaus zu-rück.
Ihn hatte sie längst fest ins mütterliche Visier genommen. Alessa Marie! Deren Karten stan-den nach Zitaten aus Rapper Hiobs Oeuvre Alles denkbar ungünstig. Ungünstiger als wegen mangelnder Vorbereitung ohnehin schon. Also rechtzeitig charmante Kontakte zu männlichen Kommissionsmitgliedern zwecks positiver Beeinflussung späterer Benotungen knüpfen. Selt-samer Zeitgenosse! Sorte „hagerer Asket“. In sich versunken. Teilnahmslos. Weltabgewandt. Den anbaggern? Wie soll frau da unmissverständliche Hey, du! Ich mag dich total! Mitteilun- gen senden? Ganz zu schweigen von beiderseitig erheblich eingeschränkten Sichtverhältnis-sen zueinander infolge der denkbar ungünstig platzierten Kanzel. Gekrümmte optische Linie. Dennoch: Ein entsprechend angepasster, weit vorgebeugter Oberkörper, unter besonderer Be-rücksichtigung des üppigen Oberweitenbereiches, Blickkontakt, kokettierendes Zwinkern, zag-haftes scheues Winken, all jenes optimierte Erfolgsaussichten weiblicher Flirtbereitschaft bei Entsagenden beträchtlich.
Hurra! Endlich! DIE Gelegenheit! Ann-Kathrins glaubenseifrig „HÖRT! SIE LÄSTERT LUTHER!“ tosender Vater pustete ihm Lebensodem ein. Alles planmäßig. Sie schaute ihn an. Er schaute sie an. Zack! Lidaufschlag perfekt!!!! Perfekter sogar als im Millenniumsjahr. „Oh Gott…musste Herr Kaiser unbedingt so wie ich heißen?“ Halt! Stopp! Hm…etwas war anders. Kein eindeu-tiges Zurückzwinkern! Vielmehr permanentes hektisches Zusammenkneifen, mit ihren Avan-cen in keinster Verbindung stehend. „Egal, noch ein Versuch. Aller Anfang ist schwer. Gib al-les! Du schaffst das!“ Zack! Zu spät. Soeben begann der eingeflößte Vitalitätsgeist volle Wirk-kraft zu entfalten. Und sämtliche Teilnehmer, Ordinierte, Nichtordinierte, Prüfer, Prüflinge, An-gehörige, überlegten ernsthaft, ob sie sich fälschlicherweise im Lichtpielhaus befanden.
Umständlich stand der Mann auf, ergriff zittrig den mitgebrachten Koffer neben sich. „Blödes Ding!!!!!“ Bernhardette Constanze Amalias Erinnerungen echauffierten sich 2019 immer noch darüber. „Dieses riesige Teil blockierte den halben Gang!!!!!“ Heraus kramte er unter allgemei-nem Raunen einen schaurigen Totenschädel. Anschließend irgendeinen dicken Wälzer. Depo-nierte beides vor sich auf der Holzfläche. Dann verschlug es rund hundert Anwesenden end-gültig die Sprache. Zuletzt zog der komische Vogel eine schlichte, abgenutzte Mönchskutte hervor, schlüpfte vor äußerst irritiertem Publikum hinein, zwängte seinen Körper knieend in die Kirchenbank, verharrte dort in einer Haltung, welche gleichfalls an glorreiche Abiturzeiten erinnerte.
„Gibt’s doch gar nicht!“ Ungläubig rieb sich Frau Kaiser beide Augen. „Kann doch nicht sein!“ Misstrauisch wiederholte sie den Vorgang. „Ich glaub, ich spinne!“ Vergewisserung Nummer 3 brachte Klarheit: Der heilige Franz von Assisi von Francisco de Zurbarán, dargestellt in me-ditativer Betrachtung. Wie er leibt und lebt! Als hinge das 1639 entstandene Gemälde dort als lebende britische Leihgabe. Exakt 1:1 jene Körperhaltung wie damals auf dem Spickzettel für die Kunstklausur. Unverkennbar! Dieselbe Knieposition. Derselbe leicht rechts empor gerich-tete verklärte, ins Ekstatische gesteigerte Gesichtsausdruck. In seiner rechten Hand mahnte menschlicher Knochenüberrest. Mit dem anderen Ellenbogen am Buch aufgestützt. Die linken Finger wegen des Wundmales unvollständig gespreizt. Um das lebendige Szenario zu vervoll-ständigen, flüsterte Sankt Franziskus hauchzart, innige Zwiesprache mit Gott haltend.
Obwohl in einer evangelischen Kirche unterbrach dennoch niemand solch offen praktizierte, Luther stark widerstebende Heiligenverehrung. Franz von Assisis religiöse Inbrunst überwäl-tigte. Verströmte ringsum unwiderstehliche fromme Mystik. Bildete einen intensiven Sogef-fekt. Sogar sie als Ehefrau und dreifache Mutter konnte sich dem nicht entziehen. Schonungs-los realistische Stimmung. Gebannt, ergriffen wollte jeder schwärmerisch ins Charisma ein-tauchen. Vom Heiligen ins geheimnisvolle Ringen gleichsam mit hineingenommen werden. Verzückt Anteil an dessen seelischer Situation erhalten. Spiriuell aufgelöst im Auraglanz jener unergündlichen malerischen Atmossphäre Zurbaráns. Ok, ok, ok, oder ihre Mienen bezeugten einfach nur die lapidare Tatsache, dass keiner auf derart unerwartete Vorkommnisse vorbe-reitet war.
Wie dem auch sei. Anfänglich unternahm der Oberkirchenrat nichts. Fünfzehn Minuten Verklä- rung verstrichen. Hiernach stand Franziskus zeitaufwendig wie er sich vorhin hingekniet hatte wieder auf. Marschierte stracks zur Kanzel. Rumgemurmel. Unverständlich zwar, dessen un-geachtet inhaltlich nachvollziehbar. Kein Zweifel. Assisis populärer Heiliger erbat Predigter-laubnis, ein Herzenswunsch, von höherer Stelle abschlägig beschieden.
Doch Gottes Geist weht dort, wo’s beliebt, und wenn himmlischen Sprachrohren irdisches Ge-hör versagt bleibt, martern Engel auserwählte Werkzeuge länger, indem zuvor befestigte Dau-menschrauben fester angezogen werden.
GONG! Erster Zwölfuhrschlag. Ein unvermittelter kurzer, heftiger Stoß. Zurbaráns Protagonist schrie auf, als sei gerade etwas mit voller Wucht in ihn hineingefahren.
GONG! Zweiter Zwölfuhrschlag. Wie auf militärisches Kommando knallte er daraufhin seine Hacken zusammen, salutierte vor jemandem, anscheinend irgendwelche Befehle erhaltend.
GONG! Dritter Zwölfuhrschlag. Ruckartig griff seine rechte Hand in die Kuttentasche, über-prüfte, ob sich dringend Benötigtes auch tatsächlich darin befände.
GONG! Vierter Zwölfuhrschlag. Nun hob der Heilige den Kopf weitestmöglich in den Nacken, suchte mit flach vorgehaltener linker Hand blitzartig das gotische Gewölbe ab.
GONG! Fünfter Zwölfuhrschlag. Nadines kleine Schwester schluchzte: „Mami, ich hab solche Angst!“
GONG! Sechster Zwölfuhrschlag. Franzens Vollbart wüst zerzaust. Bernhardette Constanze Amalia überlegte: „Wie groß kann Verzweiflung sein?“
GONG! Siebter Zwölfuhrschlag. Aus der hintersten Kirchenbank dreifaches Niesen.
„Gesundheit!“
„Danke!“
GONG! Achter Zwölfuhrschlag. Verdächtig unheiliges Stampfen mit dem rechten Fuß zeugte von religiöser Selbstunzufriedenheit.
GONG! Neunter Zwölfuhrschlag. Ann-Kathrins glaubenseifriger Vater: „JETZT SCHMEISSEN SIE DEN KERL DOCH ENDLICH RAUS!“
GONG! Zehnter Zwölfuhrschlag. Nur nichts hören! Nur nichts hören! So konnte man das fol-gende Ohrenzupressen interpretieren. Um Himmels Willen, was war los mit Franziskus?
GONG! Elfter Zwölfuhrschlag. Abruptes zu Boden Senken des Kopfes sollte akute Taubheits- sehnsucht gestisch verstärken.
GONG! Zwölfter Zwölfuhrschlag. High Noon. Showdown. Gestammel. Aufbäumen. Vergeblich.
GONG! Er schrie: „J E T Z T S C H L Ä G T ‚ S A B E R 1 3 ! ! ! ! ! ! !“
Erzählrunde 6
„Die müsste wohl auch mal driiiiiingendst repariert werden!“, tuschelte Frau Kaisers Mitbüße-rin. Deutlich als drückten sie auf Kesselstadts herbstlichem Schlosshof wie im Sommer 2017 Seit an Seit jene Zuspätkommern exklusiv vorbehaltenen Sitzgelegenheiten. „Wissen Sie, von daher stammt sicher diese Redewendung. Da war irgendwo vor ewig langer Zeit die Kirchuhr kaputt. Ulkig, fin…“
„ENTWEDER BEFÖRDERT MAN DEN SPINNER JETZT AUF DER STELLE HINAUS“, machte ein alter Bekannter erneut auf sich aufmerksam, „ODER WIR TRETEN NOCH HEUTE ALLESAMT AUS DER KIRCHE…AAAAAAAAAAAAAAAAHHHH!!!!! VADE RETRO, SATANA!!!!!„
Wie lichtscheue Vampire wütend vor dem Kreuz unseres Erlösers weichen, fuhr Ann-Kathrins glaubenseifriger Vater beide Hände abwehrend vors Gesicht haltend zurück, so weit ihm die Kirchenbankreihe Spielraum bot. Beim Vernehmen des dreizehnten Schlages hatte nämlich Franz von Assisi seinen Rosenkranz aus der Kuttentasche gerissen, diesen sich zwölfmal im Kreis drehend den Versammelten wie einen letzten Rettungsanker entgegegehalten. Offenbar wollte er sicher gehen, dass wirklich jeder ihn zu Gesicht bekam.
„Maria ist unsere einzige Zuflucht!“, röchelte Zurbaráns Heiliger käsebleich wie in den letzten Atemzügen liegend. „Oh, ihr Mädchen! Werdet Nonnen! Entsagt dieser törichten Welt! Betrach-tet den Lettner! Glaubt ihr, unseren Heiland interessieren beim Jüngsten Gericht eure Erfolge als Marketingmanagerinnen, Fotomodelle, Influencerinnen, Expeditionsforscherinnen, Klimak-tivistinnen oder Popsängerinnen? Einzig und allein eure Seelen gilt es zu retten!!! Nur dafür seid ihr auf der Welt! Bedenkt: Eine gewaltige, unverhofft über unser hochmodern durchorga- nisiertes Deutschland schwappende Krise genügt, um alles bisherige komplett in Frage zu stellen! Der Tag naht, an dem sich keine mehr geschminkt nächtelang in sündigen Clubs rum-treiben kann, Kinos, Schwimmbäder, Thermen für euch und eure Flirts zum lüsternen Anban-deln geschlossen sind. Da könnt ihr auch zusehen, wo ihr shoppen geht, denn mehr als eure konsumgierigen, verwöhnten Näschen an Kaufhaus- und Ladenscheiben plattzudrücken wird nicht drin sein. Haaaaa! Sogar die Stunde wird man herbeibeten, wenn Frisöre endlich zum Beheben ungepflegter, verwahrloster Mähnen öffnen dürfen! Gott der Allmächtige wird’s noch zeigen, was er vermag! Oh, ihr Jungen, hört mich an! Im Namen der Jungfrau beschwöre ich euch: Heiße weibliche Reize, Ziel eurer elenden Begierden, vergehen schneller als Kirschblü-ten benötigen, um vom Baum zur Erde zu fallen, glaubt es mir. Werdet Priester! Ja! Heilig-mäßige Priester! Priester, die sich selbst geißelnd aufopfern für das Retten ansonsten auf ewig Verlorengehender. Eifert dem Pfarrer von Ars nach!“ Und so ging es weiter.
„Sagen Sie…“
„Kaiser mein Name.“
„Müller, angenehm. Schön, dass wir nebeneinander sitzen. Sagen Sie, Frau Kaiser, wissen Sie zufällig, was dieser Typ vorhat? Der ist doch nicht mehr ganz sauber! Macht einen völlig me-schugge mit seinem Geschwätz!“
„Vielleicht gehört das irgendwie mit dazu.“
„Sie meinen, eine Art Stresstest?“
„Schließlich sind die Kinder hier in der Glaubensprüfung!“
„Hmmm, durchaus denk…“
„EIN SKANDAL!“
„PFUI!“
„UND DAS IM HAUSE GOTTES!“
„ES IST UNGLAUBLICH!“
„JETZT TUN SIE GEFÄLLIGST WAS!“
„WER IST DIESER IDIOT ÜBERHAUPT?“
„BESTIMMT EIN VERKAPPTER JESUIT!“
„DIREKT AUS DEM VATIKANSTAAT. DER SOLL UNS ALLE KATHOLISCH MACHEN!“
„MIT EINEM DIESER JESUITENDRAMEN AUS DER BAROCKZEIT. ICH HABE LITERATURWISSEN-SCHAFT STU…“
„SEID DOCH MAL STILL HIER!“
„Jetzt geht er langsam in die Hocke.“
„Ja, das Gesicht nach oben.“
„Und die Linke zur Faust geballt am Mund.“
„Schauen Sie, der beißt mit den Zähnen drauf.“
„Und seine Rechte hält er wie irrsinnig vor sich.“
„Merkwürdig, als ob er mit letzter Kraft etwas abwehren möchte.“
„Was soll das eigentlich bitteschön geben, wenn’s fertig ist?“
„Gute Frage. Sehen sie sich mal seine Schreckensblicke an!“
„Als ob Graf Dracula höchtpersönlich vor ihm stände.“
„Hört, er krächzt wieder los.“
„Er…er…er…ist…überall. Er…er…er…weiß, wo wir sind. Er…er…er…ist über jeden unserer Gedan-ken vorab genauestens informiert. Er… er…er…ahnt unsere Schwächen. Er…er…er…“
„Jetzt reißen Sie sich endlich zusammen, Herr Vikar. Natürlich ist Gott überall. Als omnipoten-ter Creator von Himmel und Erde kennt er jeden unserer Schritte. Welch fantastische Vorstel- lung. Sich von des Schöpfers fürsorglich liebenden Armen wundersam getragen fühlen.“ Flink blätterte der Examensleiter in seiner Bibel. „Ich lese dazu Psalm 23:
Der Herr ist mein Hirte,
nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruhe…“
„BEI LUKAS 9 VERS 54 STEHT GESCHRIEBEN:
HERR, WILLST DU, DASS WIR SAGEN, ES SOLLE FEUER VOM HIMMEL FALLEN UND…“
Wiederum mit väterlich gütigen, doucement doucement andeutenden Armgesten verwies der Prüfungskommissär Ann-Kathrins glaubenseifrig emporgeschnellten Vater sanft aufs unbe-queme Sitzholz zurück.
„Neeeeiiiinn. Den meine ich nicht.“ Röcheln wich gequältem Wimmern. „Und wir Erstsemester waren damals im Proseminar einhellig davon überzeugt, Martin Luther hätte das in Von der Winkelmesse und der Pfaffenweihe frei erfunden. Neeeeeiiiiiinnn!!! Neeeeeeeeiiiiiinnn!!! Jedes verbum doctoris Lutheri ist gewisslich wahr.“
„Was sollte unser unbezwingbarer Martinus denn erdichtet haben? Wovon reden Sie? Ich kann Ihnen ehrlich gesagt nicht ganz folgen. Sie klingen äußerst verwirrt.“
„Oh, er geht raffiniert vor! Oh, er ist schlau! Oh, er ist listig! Oh, er ist gerissen! Oh, er ist tüc-kisch! Oh, er ist garstig!“
Den Schwerhörigen miemend führte der Oberkirchenrat beide Hände ans Ohr. „Ich kann Sie nur seeeeehr schlecht verstehen, mein Gutester, seeeeeeeehr schlecht. Jetzt erheben Sie sich erst einmal und lassen dezent Ihre Devotionalie verschwinden. Darüber werden wir uns übri-gens im Anschluss noch unterhalten. Sie haben eben erlebt, was papistischer Aberglaube bei Gläubigen anrichtet. Und wenn dieses Ding sicher außer Sichtweite ist, lauscht natürlich jeder Christgläubige sehr gerne Ihrem Bericht.“
Auf die deutliche Anweisung des Prüfungsvorsitzenden hin erhob sich Sankt Franziskus, zog den Ordenshabit ordentlich zurecht, verstaute widerstebend seinen Rosenkranz im Kuttenin- neren; und nachdem ihm kopfnickend Zufriedenheit mit der getroffenen Sicherheitsvorkeh-rung signalisiert wurde, begann Zurbaráns vitale Porträtfigur zu erzählen.
„Es geschah im Mai 2016 während eines Ausfluges mit meiner Jugendgruppe nach Seligen-stadt. Nachdem wir dort dank um diese Uhrzeit erstaunlicherweise staufreier Straßen über-pünktlich angelangt waren, hielt ich zuerst in der Gustav-Adolf-Kirche für uns einen Gottes- dienst. Wie es sich für freie Christenmenschen gehört. Anschließend führte unser Weg zu Fuß in Richtung Einhardsbasilika. Um abzukürzen folgten wir dabei jenem im Stadtführer ausge- wiesenen Fußgängerweg entlang der Klostermauer, um via abgebildetes Osttor in den Garten zu gelangen. Ärgerlich nur, und dieses Omen hätte mich aufhorchen lassen müssen, dass das Portal trotz mannigfacher Rütteleien hartnäckig verschlossen blieb, allenfalls Fotos mit durch die gusseisernen Gitterstäbe gehaltenen Kameras oder Smartphones erlaubte.
Enttäuscht folgten siebzehn Abgewiesene weiter dem Mauer gesäumten Weg und erreichten den Main. Hier bestürmen mich die Jugendlichen vor Beginn des geführten Klosterrundgangs: Kurzabstecher zum Eisladen – dürfen wir? Sie haben auch sooooooooo toll gegen das Papst-tum gepredigt! Bitte, bitte, bitte! Ok, bin ja nicht so. Einverstanden, Leute! Wir liegen gut in der Zeit. In zwanzig Minuten ist Treffpunkt am Fähranleger angesagt, von wo aus wir zusammen zur Museumskasse gehen. Und wenn ich zwanzig Minuten sage, Herrschaften, füge ich päda-gogisch hinzu, dann meine ich zwanzig! Die freundlichen Mitarbeiter warten nicht ewig auf uns! Nachdem sich meine Rasselbande mit fröhlichem Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Vi-kar! im Nu verdünniserte, beschloss ich, vorab schon mal im berühmten Klostergarten mich umzuschauen.“Äh, warum sind Sie denn eigentlich nicht mitgegangen? Mögen Sie kein Eis?“
„Alessa Marie, lässt du den Herrn bitte ausredenn!“, flogen Frau Kaisers genervte Worte ge-danklich über Kesselstadts Schlossplatz.
„Tschuldigung!“
„Natürlich mag ich Eis. Liebend gern sogar. Aber nur aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt. Im Eisladen weiß man nie, ob das immer alles wirklich einwandfrei ist.“
„Verstehe. Jetzt kapiere ich! Deswegen ließen Herr Leier-Kastenmann und Fräulein Treue-Ist-weg uns damals stehen. Das war hundertpro wegen der Fürsorgepflicht, damit nur sie Bauch-weh…“
„Fräulein da vorne, muss ich erst mit der Wäscheklammer für vorlaute Mädchen kommen? Ist das bei ihrer Tochter eigentlich genauso?“
„Schlimm, sag ich Ihnen, ganz schlimm. In der Prüfung spielt Ann-Kathrin die Unschuld vom Lande. Zuhause muss sie dagegen permanent das letzte Wort haben. Eine richtige Plapperlie- se. Und wehe, unserer grande dame passt irgendetwas nicht in den Kram.“
„Meine Rede. Ähm, mal was anderes: Weshalb sind Sie eigentlich zu spät dran gewesen, wenn ich fragen darf? Halt…nichts sagen…Verzögerungstaktik?“
„Vom Feinsten, sag ich Ihnen, Alter Schwede! Ooooh, meine Ann-Kathrin, dieses Früchtchen!“
„Der Absatztrick?“
„Täuschend echt, sag ich Ihnen. Hab’s natürlich gleich am Kleber erkannt, dass nachgeholfen wurde. Bei mir muss sie früher aufstehen!“
„Bleibt uns nur die Hoffnung, dass die Kinder möglichst rasch der Pubertät entwachsen.“
„Und mein Mann hat natürlich nichts besseres zu tun, als sie darin zu bestärken. Hihihihihihi, der da hinten wortstark einen auf Mister von und zu Wichtig macht, ist Bernd übrigens.“
„Hihihihihi, Ihrer also genauso.“
„Männer!“
„Männer!“
„Stehen Sie eigentlich auch am Obermarkt?“
„Nein, unten an der Kaiserpfalz. Kann man da parken?“
„Problemlos. Na, da mussten Sie aber das ganze Stück hochlaufen.“
„Und das in den guten Stöckelschuhen, ich sag ihnen. Wusste ich gar nicht. Sind Sie von hier?“
„Nein, aus…“
„Ääääh…wenn die beiden kommunikationsfreudigen Damen da hinten dann irgendwann fertig sind, können wir weitermachen.“
„Huch! Ich glaube, wir sind gmeint!“.
„Hallo, Mama?“
„Sehen Sie? Schrecklich, meine Alessa Marie!“
„Kaum den Garten endlich erfolgreich durchs uferseitige Nordtor betreten, umgab mich merk-würdige, unheimliche Leere; mutterseelenallein stand ich zwischen blühenden Gewächsen.“
„Öhm, ist doch voll logisch, Ihre Jugendgruppe war doch Eis holen, kein Wu…“
„Paula! Ich habe die Wäscheklammern schon griffbereit vor mir liegen!“ Eine beklagenswerte Leidensgenossin von Frau Kaiser und ihrer sympathischen neuen Bekannten. „Soll ich vor-kommen?“
„Tschuuuuuldigung!“
„Wie gesagt, ich schien Robinson Crusoe in the garden zu sein; offensichtlich leisteten mir le-diglich emsige Bienen Gesellschaft. Indes zwei Dinge waren hierbei recht seltsam. Trotz Be-mühungen konnte ich keine einzige Honigproduzentin ausmachen. Nichtsdestotrotz summten ihre Flügelchen so, als ob es von ganz nah überall gleichzeitig käme. Von links, rechts, oben, unten, kreuz und quer, wild durcheinander. Ohne Unterlass. Zunächst vermutete ich neue, in-vasive Arten, welche anders als heimische Völker klingen; man erfährt ja in Tierdokus einiges. Eventuell wurden sie ja von Rotterdamer Hafen über Seligenstadt passierende Fracht- oder Tankschiffe eingeschleppt.“
Sichtlich angetan vom spannenden Krimi begann der Oberkirchenrat zur Begleitung mit sei-nen Fingern entlang des Kanzelrandes zu trommeln.
„Alsbald kristallisierte sich aus dem Gesumme ein klarer, lieblicher Knabentenor heraus, wie einer von den Regensburger Domspatzen. Ooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, hörst du mich? Verwirrt observiere ich sämtliche Himmelsrichtungen. Ich vermag dich zu sehen, oh, Vikar, doch du nicht mich! Ich frage ängstlich: Sprich! Wer bist du? Doch die en-gelsgleiche Knabenstimme gibt nicht die geringste Auskunft. Nur ihr Oooooooohhh, Vikar un-seres geliebten Herrn Jesu Christi, hörst du mich? umringt mich unablässig von allen Seiten aus jenem unerklärlich summenden Hintergrund heraus.“
Erzählen Sie uns bitte mehr!, deutete der Oberkirchenrat mit seiner soeben heruntergenom-men dicken Gelehrtenbrille an, welche er sorgfältig nach lästigen Staubpartikeln zu begutach-ten anfing.
„Um endlich der ominösen Urprungsquelle auf die Schliche zu kommen – zweifellos ein harm-loser Kinderstreich – beschloss ich, die barocke Gartenanlage nach den dort irgendwo gut ver-steckten Lausbuben abzusuchen. Anfangs vermutete ich sie hinter der großen Steinvase und pirsche meine linke Hand gegen das intensive Sonnenlicht haltend dorthin.
Kaum da, klingt dieser Knirps schlagartig mehr vom Springbrunnen. Also weiter. Ich bin noch keine fünf Meter gegangen, hätte ich 1000000 Euro gewettet, ihn ex abrupto erneut vom stei-nernen Gefäß zu hören, diesmal abgetönter, so als stecke er darin. Ich drehe mich um in Rich-tung Nordtor. Dieser Strolch!!!!! Ich weiß, dass du drinnen hockst!, rufe ich überlegen. Kommst du freiwillig rausgeklettert oder darf ich nachhelfen?
Ooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi! Warum suchst du mich fortwährend dort, wo du mich nicht findest?, gibt mir vertraut säuselnder Engelsklang von den ehemaligen Abteigebäuden als Antwort. In ihrem blendenden Glanz, welcher zum Aufsetzen meiner tags zuvor käuflich erworbenen, coolen Markensonnenbrille anmahnt, gerät prompt jene goldene Kuppelfigur unter dringenden Tatverdacht.“
„Oh Gott! Sagen Siebloß dawarwiederdieser AstrophysikerderalsRaketenforscherin Cape Canaveral fürdie NASA gerabeitetha…“
„ALESSA MARIE!!!!! SCHLUSS JETZT!!!! ES REICHT!!!! SEI EIN BRAVES MÄDCHEN!!!!“
Bernhardette Constanze Amalia spürte Veroniques liebevollen Arm wohltuend schützend um ihre verkrampften Schultern liegend. „Ist auch wirklich alles in Ordnung bei dir, Constanze? Du siehst wirklich gar nicht gut aus. Meine Güte! Sollen wir dem Hofarzt Bescheid sagen?“
„Aaach, mein herzensgutes niedliches Entenkükchen!“, seufzte die Gräfin von Hanau-Münzen-berg gerührt. „Du bist stets voller Fürsorge. Hab keine Angst, mir fehlt nichts. Nur dieser Wirr-kopf bringt mich noch heute durcheinander.“
„Gelnhausen wieder?“
„Alles bloß wegen dieses unseligen Schulausfluges im September 2015. Damit fing die ganze Chose an. Erst das riesige Donnerwetter. Gefolgt vom gefloppten Herbsturlaub; genausogut hätten wir daheim bleiben können. Dann Alessa Maries geschickte Verzögerungstaktik, so er-müdend! Und als ich Bienchen 2017 unglaublicherweise durch die Kirchentür bekam, zur Krö-nung das! Popcorn! Ganz großes Kino!“
„Es lässt dich wirklich nicht los. Was ist eigenltich aus dem Irren geworden?“, wollte Chantal wissen.
„Null Ahnung, drolliges Waschbärchen. Von der verpatzten Glaubensprüfung hörte man kein Sterbenswörtchen mehr. Sie wurde weder in der Hessenschau, Zeitungen geschweige im In-ternet erwähnt NOCH terminlich neu angesetzt.“
„Hm, verständlich, zu groß die Befürchtung, dass der Fritze auftaucht“, konstatierte Yvette.
„Der Teufel obendrein“, ergänzte Hofdamenkollegin Sylvie.
„Ich hab’s auch nie weiterverfolgt. Ende August kaufte Dennis Kevin uns in den Adelsstand ein, womit ich zusätzlich zum Nach- auch meinen Vornamen wechselte. Hernach waren wir an-dersweitig beschäftigt.“
Und als säße Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg encore une fois als vierzehnjährige Austauschschülerin Jessica Kaiser in Japans elegantem Shinkansen von Osaka nach Tokio, sausten weitere Details aus Gelnhausens sakralem Kleinod gleichsam vor-beiflitzender Landschaften an ihr vorbei.
Wie er dummes Zeug schwallend neben der Kanzel stand. Wie er erneut anfing, sich langsam um die eigene Achse zu drehen, diesmal jedoch seine Perlenschnur wohlweislich gegen Un-schuldsblicke jener Ehegatten tauschend, welche frau soeben auf frischer Tat beim Verges-sen des Hochzeitstages ertappte. Rundes Nudelholz bereits dem Rücken nahe fühlend, brab-belte es trotz unübersehbarer Langeweile in der Zuhörerschaft schwer aus seinem Mund.
„Ich will bei mir anheben und vor euch nun eine kleine Beichte tun. Gebt mir eine gute Abso-lution, die euch selbst nicht schadet.
Völlig unvermittelt verliert dieser Steppke seinen unschuldigen, kindlichen Tonfall. 180°-Wen-de. Knall auf Fall. Frontal von vorne blasender urgewaltiger, scheusslicher, bedrohlicher Hall treibt mich hilflosen Spielball vor sich her, weiter und weiter rückwärts, vergleichbar toben-den Orkanen, gegen deren Wände man trotz größter Anstrengung niemals gewinnt. Resignier-te Blicke überqueren diagonal die Fläche. Trotz heiterstem Sonnenschein zerdrückt mich un-heimliche, leere Atmosphäre. Ihre quetschende Last fühlte sich an wie zu Mitternacht, wenn der Teufel mit mir im Herzen eine Disputation anfängt. Wie er mir denn gar manche Nacht bit-ter und sauer genug machen kann.
OOOOOOOOHHHH, VIKAR UNSERES GELIEBTEN HERRN JESU CHRISTI, HÖRST DU MICH?????,
droht es mir wiederum grausam fragend entgegen. Ich weiche vor dem brüllenden Wind wei-tere zwei, drei, vielleicht vier Schritte zurück. Dann! Etwas Schroffes berührt meinen Rücken. Willenlos, mechanisch dreht sich mein Körper herum.
Höret Ihr’s, Hochgelehrter!, sprach der Teufel.
Ich kreische meinen Todesschrei vorzeitig heraus.
Wisset Ihr auch, dass Ihr acht Monate lang habt fast jede Woche Gottesdienst gehalten. Wie wenn Ihr damit hättet eitel Abgötterei getrieben und nicht rechtmäßig das Evangelium gepre-digt, sondern eitel ein Buch angebetet und anderen zum Anbeten vorgehalten?
Ich antwortete: Bin ich doch ein rechtmäßig ordinierter Vikar, habe vor acht Monaten die Be-vollmächtigung zur Ausübung des Predigtamtes vom Probst empfangen, dazu solch alles sola fide und aus Verpflichtung auf die Reformation getan. Warum sollte ich nicht gepredigt haben, weil ich die Worte mit Ernst gesprochen und das Abendmahl mit aller möglicher Andacht ge-halten. Erst eben reichte ich den Jugendlichen Christi Leib und Blut, legte ihnen vorher auf der Kanzel dar, die Aufhebung der Seligentädter Benedikitinerabtei durch die Säkularisation 1803 sei klares Symbol dafür, dass die Herrschaft des Papsttums zu Rom bald endgültig ihr längst überfälliges Ende nimmt. Das weißt du fürwahr.
Ja, sprach er, es ist wahr. Aber die Türken und Heiden tun auch alles aus Glauben heraus und aus ernsthafter Verpflichtung, mancher Schamene in Patagonien sicherlich sogar aufrichtiger als einige auf der Kanzel. Wie, wenn deine Ordination, dein Predigen sowie Abendmahl feiern auch unchristlich und falsch wäre, weil das fürchterliche Papsttum zu Rom längst schon sein Ende gefunden, und damit Doktor Martin Luthers 95 Thesen folgerichtig ihrer Grundlage ent-behren?“
Brillentücher, wirklich eine lohnende Investition!, signalisierte Hauchen und Reiben des fündig gewordenen Prüfungsvorsitzernden.
„Hier brach mir wahrlich der Schweiß aus, und das Herz begann mir zu zittern und zu pochen. Diese Barockfigur wusste ihre Argumente wohl anzusetzen und mich wegzudrängen. Und sie hatte so eine schwere, starke Sprache. Und gehen solche Disputa…“
„Oh Gottfehltenderzufällig Fingerundhattesiesoein Schutzschildda bei und sprachsiesowieeinstengerundfieser Lehrerdertotalgerneine6gibt?“
„Ja, warum fragst du?“
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHH!!!!!!!“
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHH!!!!!!!“
„ALESSA MARIE!!!!! NOCH EINMAL, DANN KOMMT DIE WÄSCHEKLAMMER!!!!!“
„HERR VIKAR, ICH MUSS DOCH SEHR BITTEN!!!!!“
„Tschuldigung!“
„Tschuldigung!“
„Hast du damals auch seine Angestellten gesehen?“
„Nö! Welche meinen Sie?“
„Die an der Klostermauer medizinische Negativtests für Fährfahrten rüber nach Bayern aus-stellen.“
„Hä?“
„Es war folgendermaßen: Trotz unsagbarer Ängste behielt ich selbstverständlich einen kühlen theologischen Kopf. Als Ordinierter bin ich ja schließlich nicht doof, lasse mir ungern ein X für ein U vormachen. Jeder kann behaupten, er sei der Leibhaftige. Bist du wirklich Satan, bewei-se es mir!, verlange ich darum von dem Wesen. Ooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, also will ich denn zu Seligenstadt unter den Augen von Sankt Petrus und Marcel-linus ein großes Zeichen geben. Begib dich zur Mainfähre. An der Klostermauer erwarten dich zum Fluss hin bereits zwei meiner Mitarbeiter, um dir einen negativen Gesundheitsnachweis für die Überfahrt in den Freistaat auszuhändigen. Gratis, versteht sich. He, pass gefälligst auf! Sobald die Fähre kurz vor dem Anlegen ist, rufe Folgendes: Fährmann, hol über!!!!! Hier, sieh den Negativtest!!!!! Ich trage das Virus nicht in mir!!!!!! Daraufhin werden er sowie Umstehen-de dich verspotten. Lass dich davon jedoch unter keinerlei Umständen beeindrucken, sondern gib ihnen selbstbewusst zur Antwort: Hört, es brechen arge Zeiten übers Land herein, in de-nen man bei Ein- und Ausreisen aktuelle negativen Gesundheitstest vorweisen muss. Ihr wer-det’s schon noch erleben! Sollte ich irren, zieh frei weiter deiner Wege, wohin du magst. Sollte ich richtig liegen, kehre hierher zurück.
Mit solch ominösen Prophezeiungen entschwand die Skulptur. Meine erste einigermaßen ver-nünftige Gedankenreaktion: Bei dem piept’s ja mächtig im Oberstübchen!!! Indessen gehorche ich, mehr aus Neugierde, ziehe los. Unglaublich. Am Mauerwerk halten mich zwei altmodisch anmutende Männer an. Ooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, stopp! Wa-rum so auffällig überstürtzt nach Bayern ohne obligatorischen Stempel? Wir sind ehrbare Fi-scherzunftsleut, amtlich damit beauf…Schwätzt nicht viel um den heißen Brei rum, Gesellen, Butter bei die Fische, seh ich doch hin-ten im Sonnenschein die Fähre sich nähern!!! Mit Gottseidank vorgefertigtem amtlichen Doku-ment lege ich einen ziemlichen Zahn zu. FÄHRMANN, HOL ÜBER!!!!! HIER, SIEH DEN NEGATIV-TEST!!!!! ICH TRAGE DAS VIRUS NICHT IN MIR!!!!! Ungemütliches Lautsprechegetöse vibirert. MIR REICHT’S!!!!! DU SCHWIMMST RÜBER!!!!! KANNST DEINE FLOSSEN SCHON ANZIEHEN!!!!!
Logisches Fazit: Irgendetwas muss kommunikativ schiefgegangen sein. Ich hole für Versuch 2 abermals Luft, biegen sich weiter links Schaulustige vor Lachen. Seppel, geh her, lass mal die Penunzen rüberwachsen. Wusst’s, da kimmt gleich sicher noch aaner gelaafe. Hier muss ir-gendwo’n Nest sein. Jede Wett‘, gleich faselt er über die Zukunft, was uns da blühen tut.
Logisches Fazit: Scheinbar bin ich nicht der einzige. Und das mit dem „Hört!“ kann ich mir bei denen sparen.
Da sind Sie ja endlich, Herr Vikar!!!! Toll!!!!! Und wir beeilen uns extra!!!!!
Logisches Fazit: Vom Ursprungsplan her wolltest du eigentlich gar nicht nach Bayern.
Kommt, geht euch nochmal ein Eis holen, muss zum Teufel zurück!
Mit Isabells Ey, Leute, was ist denn mit deeeeem los? und Seppels Jupp, geh her, die Moneten kannste graad wieder rausrücken! im Hintergrund wiesele ich dem Mauertor zum Barockgar-ten entgegen. Kaum wieder drinnen, tönt die mir Furcht einflößende Stimme des Putten in ir-ritierender Weise hoch von rechts oben herab, eigentich ein Ding der Unmöglichkeit. Ooooooo-ooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, kommst du also von der Mainfähre hastig angekrochen, weil treffend ich zu dir spra…“
„Oh Gottdaskannnurdiesegoldene KuppelfigurgewesenseinundbestimmthattesieIhnendabeiauch Zetttelhinuntergeworfenstimmt’s?“
„Ja, warum fragst du?“
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!“
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!“
„ALESSA MARIE!!!!! ES REICHT!!!!! ENDGÜLTIG!!!! ALLERLETZTE WARNUNG!!!!! SIEHST DU, WIE ICH DIE WÄSCHEKLAMMER AUF UND ZU MACHE??????“
„HERR VIKAR!!!!! ZUM LETZTEN MAL, REISSEN SIE SICH HIER GEFÄLLIGST ZUSAMMEN!!!!!“
„Tschuldigung!“
„Tschuldigung! Aber die Kleine hat Recht! Ehe ich raufschauen konnte, flatterten mir unzähli-ge Textblätter wie gefärbtes Herbstlaub zu Füßen. Ich lese jedes einzelne Papier vom Weg und angrenzenden Beeten auf, beginne die abgedruckten Dokumente zu überfliegen, verfasst vom Papsttum zu Rom selbst beziehungsweise treuen Anhängern. Wichtige Passagen waren be-reits rot mit Leuchtmarker gekennzeichnet, zudem mit Pfeilen, Kringeln sowie handschrift-lichen Notizen versehen. Die Kirchturmuhr begleit dazu in länger werdenden Intervallen.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Viermal.
Fünfmal.
Immer unglaublichere, mir bis dato unbekannte Fakten.
Sechsmal.
Hahahahaha, ist aber noch nicht volle 10 Uhr!!!, spotte ich. Hat der Herr Papst kein Geld mehr für dringend benötigte Reparaturen?
Siebenmal.
Achtmal.
Neunmal.
Schonungsloser und schonungsloser treten die Ungeheuerlichen hervor ans Tageslicht.
Zehnmal.
Elfmal.
Zwölfmal.
Dreizehnmal.
Nanu, dreizehnmal? Na, die Mechanik ist wirklich total hinü…
HOHOHOHOHOHO! JETZT SCHLÄGT’S ABER 13!!!!!!!, johlen gefühlt sämtliche Teufel aus allen Ecken und Winkeln dazwischen.
Der damit verbundene, ohne Vorankündigung über mich Ahnungslosen hereinbrechende Höl-lenschreck durchzuckt mein Gehirn, reinigt es dabei wie ein Küchenbesen von Unwissenheit, öffnet den Weg zu vollkommener Erkenntnis. Mir geht unvermittelt ein Licht auf. So high müs-sen sich jene Hippies gefühlt haben, welche in Goa Erleuchtung fanden. Die heruntergefloge- nen Schriftstücke belegten ausnahmslos, bezeugten zweifelsfrei, dass sich das Papsttum auf dem letzten Konzil von seiner Jahrhunderte anwährenden Lehre hätt gravierend distanzieret, desweiteren der Nachfolger Petri mit Einführung des allgemeinverbindlichen Novus Ordo Mis-sae 1969 erbenlos abdankte, weil fortan Kardinäle, Bischöfe, Priester nimmermehr das heili-ge Sühnopfer konsekrieren, wie es unter den Papisten beim frommen lateinischen Messe Le-sen ja vorher tagtäglich Brauch gewesen.“
Luther. Teufel. Barockfigur. Kuppelfigur. Da darf natürlich der Papst nicht fehlen. Mal ganz frei und offen unter uns: Satteln Sie beruflich rechtzeitig zum Geschichtenerzähler um, statt sich sinnlos zur 2. Kirchlichen Prüfung anzumelden. Fabulieren liegt Ihnen eindeutig eher. Fantasie haben Sie zur Genüge!“, bemerkte der Oberkirchenrat, seine dicke schwarze Gelehrtenbrille sorgfältig auf den Erfolg des Polierens hin überprüfend.
Da warf sich der Gründer des Franziskanerordens vor der Kanzel demütig auf die Kniee, ver-goss händeringend heißeste Tränen, versuchte auf diese Weise bei seinem ihn von erhöhter Warte herab verächtlich musternden Gegenüber um Verständis zu werben. „Sie wissen doch, Luzifer versteht sich auf hinterhältigste Künste. Solche Disputationen mit ihm gehen nicht mit langen und vielen Bedenken zu, sondern ein Augenblick ist eine Antwort um die andere. Und ich habe da wohl erfahren wie es dadurch geschieht, dass man des Morgens die Leute tot in ihrem Bett findet. Er kann den Leib erwürgen. Das ist eines. Er kann aber auch den Seelen so bange machen mit Disputieren, dass sie ausfahren müssen in einem Augenblick; wie er es mir schon oft nahegebracht hat.“
Jene letzten vier Sätze jammerte und heulte Franz von Assisi jedoch nicht, er zischte sie, und zwar dermaßen heftig, dass Frau Kaiser und Frau Müller sich gegenseitig schützend in ihre Arme nahmen, annnehmend, ein Dämon grolle wütend aus ihm. Danach ging das Wehklagen weiter.
„Nun hatte mich die goldene Kuppelfigur in dieser Disputation ergriffen. Und ich wollte ja nicht gerne für Gott einen solchen Haufen Gräuel auf mir lassen, sondern meine Unschuld verteidi-gen und hörte ihr zu, was es für Ursachen hätte gegen meine Ordination, mein Predigen und Abendmahl halten.
Erstens, sprach sie, du als erleuchteter Vikar weißt jetzt, dass du nicht richtig an Christus ge-glaubt hast, und daher vom Glauben her so gut wie ein Türke, Schamene, buddhistischer Bet-telmönch, Brahmane oder Kommunist bist.
Denn der Türke, der Schamane, der buddhistische Bettelmönch, der Brahmane, der Kommu- nist, ja, ich selber mit allen Teufeln wissen, dass das Papsttum zu Rom mit diesen Schriften seine alte Lehre hätt negiert. Und auch die andächtige Missa Tridentina fortgetan, womit der Nachfolger Christi seine ersatzlose Abdankung hätt freiwillig unterzeichnet, weil seither Kar-dinäle, Bischöfe, Priester nimmer das heilige Sühnopfer konsekrieren; und, jetzt pass auf, da-mit zugleich die Reformation überflüssig gemacht, überholt, antiquert, von anno dazumal, 95 gut gemeinte, nunmehr nutzlose Thesen, gebietet Christus doch seit jener papistischen Voll-versammlung längst nicht mehr zu Rom von seines Apostelnachfolgers Thron, die Cathedra Petri vielmehr gähnend leer und verwaist. Doch gegenteiligen Glauben hattest du und keinen anderen, als du ordiniert wurdest, Predigt hieltest und Abendmahl feiertest. Und alle anderen Ordinatoren und Ordinanten glauben auch also. Darum ihr euch auch vom Papst weg an Lut-her, Zwingli oder Calvin haltet, die müssen euer Trost und eure Nothelfer sein wider dessen römisches Amt. Das kannst du nicht leugnen, noch einige Papisten selbst. Darum bist du or-diniert, predigst, reichst das Abendmahl beiderlei Gestalt, jedoch als Heide, nicht als Christ. Wie kannst du denn reformatorisch predigen und’s Abendmahl reichen, wenn du durch’s Con-cilium nicht die Person bist, ja, gar nicht mehr sein kannst, die in Christo reformatorisch pre-digen und Abendmahl reichen soll?
Denn der Türke, der Schamane, der buddhistische Bettelmönch, der Brahmane, der Kommu- nist, ja, ich selber mit allen Teufeln wissen, dass das Papsttum zu Rom mit diesen Schriften seine alte Lehre hätt negiert. Und auch die andächtige Missa Tridentina fortgetan, womit der Nachfolger Christi seine ersatzlose Abdankung hätt freiwillig unterzeichnet, weil seither Kar-dinäle, Bischöfe, Priester nimmer das heilige Sühnopfer konsekrieren; und, jetzt pass auf, da-mit zugleich die Reformation überflüssig gemacht, überholt, antiquert, von anno dazumal, 95 gut gemeinte, nunmehr nutzlose Thesen, gebietet Christus doch seit jener papistischen Voll-versammlung längst nicht mehr zu Rom von seines Apostelnachfolgers Thron, die Cathedra Petri vielmehr gähnend leer und verwaist. Doch gegenteiligen Glauben hattest du und keinen anderen, als du ordiniert wurdest, Predigt hieltest und Abendmahl feiertest. Und alle anderen Ordinatoren und Ordinanten glauben auch also. Darum ihr euch auch vom Papst weg an Lut-her, Zwingli oder Calvin haltet, die müssen euer Trost und eure Nothelfer sein wider dessen römisches Amt. Das kannst du nicht leugnen, noch einige Papisten selbst. Darum bist du or-diniert, predigst, reichst das Abendmahl beiderlei Gestalt, jedoch als Heide, nicht als Christ. Wie kannst du denn reformatorisch predigen und’s Abendmahl reichen, wenn du durch’s Con-cilium nicht die Person bist, ja, gar nicht mehr sein kannst, die in Christo reformatorisch pre-digen und Abendmahl reichen soll?
Zum anderen. So bist du ordinierter Vikar und hast gepredigt und Abendmahl gehalten wider die Ordnung Christi. Denn Christi Meinung ist, man soll predigen und Gottesdienste also ab-halten, dass es für seine Christen zum Nutzen – und nicht überflüssig ist.
Denn ein Geistlicher soll sein ein nützlicher Diener der Kirchen, dass er nicht nach überflüssig gewordener Lehre die Sakramente austeile und predige, wie das alles die Worte Christi beim Abendmahl und in 1 Korinther 11 fordern. Nun hast du wider solche Meinung Christi die 8 Mo-nate lang gepredigt und die Sakramente ausgeteilt. Ja, es wäre dir in der Pfarrerausbildung auch verboten gewesen, etwas anderes zu behaupten. Was ist das nun für eine Ordination und Abendmahl? Was bist du für ein Vikar gewesen, der du Überflüssiges getan und nicht der Kir-che zum nützlichen Diener ordiniert bist? Von solcher Ordination weiß Christus nichts. Das ist gewiss.“
Und wie für Frau Kaiser, Frau Müller sowie alle Anwesenden naheliegend damals im Mai 2016 der Teufel am Seligenstädter Mainufer per warnendem Zudrücken die Macht seiner Lehre de-monstriert haben musste, fasste sich der Vikar beidhändig an den Hals, schluckte totenblass ums Leben – bis er angesichts ihn umgebender Körpersprachen gewahrte, durch veranschau- lichende theatralische Darbietungen hier mit Sicherheit kein geneigteres Auditorium zu be-kommen.
„Dann jener grundlegende darwinistische Motivationsantrieb im menschlichen Tier: Überlebe! Wie beim Survival-Training. Irgendwie reflexartig gelingt die rettende Befreiung aus dem teuf-lischen Würgegriff.“
Höchstleistung! Gratulation! Nur so konnte man die nonverbale Kommunikation des Prüfungs-vorsitzenden deuten: auf die Kanzel gestützt, anerkennungsvoll, möglicherweise gar ein biss-chen neidisch das Gesicht nach unten gesenkt.
„Hallo, Herr Vikar, ruft Tim amüsiert, während ich am Eisladen vorbeihetze, ist der Teufel hin-ter Ihnen her? Ich rufe: Erklär ich euch später, könnt ruhig noch ein Drittes holen!
Endlich. Seligenstadts Altstadt. Ihr Fachwerkensemble schützt eindeutig effektiver vor dämo-nischen Schallangriffen, hier können Belial und seine Unterteufel nichts großartig ausrichten. Außerdem findet zu meinem Glück Wochenmarkt statt. Überall Leute. Ils n’oseront pas!
Zum Dritten!, fährt mir synchrones, ohrenbetäubendes Aufkreischen sämtlicher Insassen ei-ner endlosen, vollbesetzten Super-Achterbahn in Mark und Bein, deren Wagen am Marktplatz unaufhörlich oben zwischen zwei Dachgiebeln nach 200 Metern freien Falles ungebremst her-vorschießen, fast mein Trommelfell platzen lassend in einer brutalen Abwärtsrechtskurve um mich herumrasen und zur Wiederholung des Höllentripps sofort wieder hinaufsausen.
Christi Meinug ist, dass man beim Sakrament solle von ihm und seinem Tod nützlich predigen und öffentlich bekennen wie er spricht. Dies tut zu meinem Gedächtnis. Das ist verkündigt, wie Sankt Paulus spricht, meinen Tod bis ich komme. Aber du, Gottesdiensthalter, hast weder sein Wort nützlich gepredigt noch Christum bekannt in allen deinen Gottesdiensten. Längst völlig überholt hast du die Sakramente ausgeteilt. Längst völlig überholt hast du gepredigt. Heisst das, die Meinung Christi gehalten? Heisst das, ein rechter Vikar sein? Ist das die Ordi-nation? Hast du so dein Predigtamt und Ordination empfangen und ausgeübt?
Ich weiß wirklich nicht wie, doch es gelingt mir halbtaub die Flucht, taumele von Marktstand zu Marktstand. Verstehe: Der braucht einen Arzt! Entgegne: Oh, ihr Narren, ihr wisst nicht! Ich schaue auf. Vernehme gellende Warnpfiffe eines von vorne zwischen zwei Hauswänden direkt über mich hinwegkrachenden Güterzuges. 130 Km/h. Mindestens. Wenn nicht mehr. Er hört und hört nicht auf. Unerträgliches Lärmen tonnenschwer beladener Kohlenwagen zerfetzt mir disputierend das übrig gebliebene Hörvermögen.
Zum Vierten. Christi Meinung ist, das solle ein gemeinsames nützliches Sakrament sein, das längst Überholte den anderen Christen mitzuteilen. Aber du bist ordiniert, dass du es sollst weiterhin mit Luther, Zwingli oder Calvin halten – und nicht das längst verschwundene Papst-tum erkennen. Wie die Worte bei deiner Ordination ja zumindest sinngemäß lauteten, als man dir die Hände auflegte und dich zum Vikar ordinierte.
Das mag mir eine verkehrte Ordination heißen, dass du als Ordinierter gegen Christi Meinung predigst und Abendmahl hältst. Die erfreulicherweise vom Erdboden verschlungene Papstty- rannei soll doch gemeinsames Wissen aller sein, von Gott durchs Predigtamt den Christen zu erklären verordnet. Oh, Gräuel über Gräuel!
Tatüütataa!, geht das Martinshorn. Der Notarzt ist schon da!, ruft einer. Thomas, jetzt Beine in die Hand nehmen! Er will abhauen, haltet ihn fest! Stante pede türme ich durch Seitengassen versus Main, erreiche das Ufer, wo stromaufwärts ein Schiff ebenfalls schnauft. Ohne Fliehen-den wenigstens fünf Minuten Pause zu gönnen, zwingt mich infernalisch stampfender Schiffs-motor, welcher sich sekündlich mit brüllenden Fauchen einer Tsunami gleichen Bugwelle ab-wechselt, in Disputationsrunde 5.
Zum fünften ist Christi Meinung, wie gesagt, dass man nützlich und nicht überflüssig das Sak-rament solle der Gemeinde Christi austeilen, ihren Glauben zu stärken und Christum zu loben, offensichtlich. Du aber hast längst Überholtes weitergeführt, es dir auf deine eigene Fahne ge-schrieben, im Gottesdienst und in Jugendgruppen dein eigenes Werk daraus gemacht, dass dein sei und zu dem du stehst. Und solchen Humbug, es gäbe das Papsttum zu Rom noch, an-deren für monatliches Salär mitgeteilt. Was kannst du hier leugnen?
Wozu bist du nun ordiniert, der du keinen rechten Glauben gehabt hast, dazu wider alle Ord-nung und Meinung Christi ordiniert bist? Zum Überflüssiges tuenden Vikar, nicht zum richtig handelnden Kirchen-Ordinierten. Du, der du längst überholt das Sakrament gereicht, gepre-digt und überhaupt gar nichts getan hast, warum es Christus eingesetzt hat, sondern das ge-naue Gegenteil davon. Du bist schlecht gegen Christus ordiniert, zu tun alles, was gegen ihn ist. Bist du aber gegen Christus ordiniert, ist deine Ordination gewisslich falsch, widerchrist- lich und lauter Nichts. Darum hast du auch gewisslich nicht nach Christi Meinung gehandelt, sondern überflüssige Worte über deine Lippen kommen lassen und diese anderen zu glauben vorgetragen.
An dieser Stelle stockte Luzifers hämmerndes Brausen kurzzeitig. Dann fuhr seine liebliche Domspatzenstimme fort: Oooooooooooohhhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, wie gerne würde ich dir wie damals Luther noch mehr erzählen! Mein untrügerischer Sinn emp-fiehlt jedoch, dass du langsam aber sicher das Weite suchen solltest. Nimm den Weg entlang der Klostermauer zurück zum Bus, wo deine Jugendgruppe bereits sauer wartet. Tust du wie geraten, wird man dich nicht finden.
Da brach wieder die Höllenangst vor dem Verlassenwerden wie stockfinstere Nacht über mich herein. Weil sich aber das Schiff mehr und mehr entfernte, wusste ich keinen anderen Rat, als meine seelische Verzweiflung in den Himmel über mir hinaufzuschreien: DU KANNST MICH DOCH NICHT HIER HALBINFORMIERT ZURÜCKLASSEN!!!!! WAS IST DENN JETZT GENAU MIT DEM PAPSTUM????? JEDER KONDIRMAND, JEDE KONFIRMANDIN WEISS, DASS DU EIN LÜG-NER BIST!!!!! Da…da…da…da…da…da…da…“
„Wir sind hier nicht im Dadaismus!“, schaltete sich hinlänglich bekannter Pastor ein.
„Da…da…sah ich Satans wolkenartige Totenkopffratze gemächlich zum Himmel auffahren.“
Den tief vorgebeugten Kopf auf dem Kanzelrand interessiert in seine Arme vergraben, lausch-te der Prüfungsleiter sensationsgierig weiter.
„Ooooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, höre gut zu, was ich dir nun sa-ge!, tönt Luzifer wie im schlimmsten Albtraum zu mir ans Mainufer. Du wirst Zeuge einer glo-balen Pandemie ungeahnten Ausmaßes sein. Eine fürchterliche Krise, Dimensionen wie sie Deutschland seit Ende des 2. Weltkrieges nicht mehr erlebt hat. Über Nacht kollabiert der in-ternationale Flugverkehr, sogar EU-Innengrenzen werden geschlossen, Reisende weltweit ir-gendwo stranden, Gottesdienste anfänglich verboten, Teilnahmen später nur gegen Voranmel- dung gestattet. Bis auf systemrelevante Bereiche wird alles dicht sein, menschlicher Alltag fortan von Maßnahmen und Regeln bestimmt, die sich an aktuellen Inzidenzzahlen orientie- ren. Wenn das geschieht, Vikar, wenn der erste Lockdown startet, verzweifle nicht, ich habe es dir vorausgesagt. An diesem Wunderzeichen wirst du erkennen, dass ich einst zu Seligenstadt am Main zu Recht als Sieger aus unserer Disputation heraugegangen bin. Auf den Blättern, welche ich herunterregnen ließ, findest du Kontaktadressen. Leb wohl! Und merke dir jenes Wort Lockdown gut! Das Wolkenengebilde verflog. Damit endete unsere Disputation vorzeitig, und ich gewann eilig Land.“
„So wie an dieser Stelle Ihr lausiges Schauspiel endet. Lassen Sie es sich klipp und klar ge-sagt sein: Sie sind eine erbärmliche Schande für die Reformation! Martin dermaßen zu verra- ten, schämen Sie Judas Ischariot sich eigentlich gar nicht? In Gegenwart dringend im Glauben gestärkt werden müssender Teenager solch hahnebüchenen Unsinn zu verzapfen, Sie sind ja nicht mehr klar bei Trost!!!!!“
Ach, ehe Bernhardette Constanze Amalia es vergaß. Der Gemaßregelte begann daraufin allen Ernstes, statt demütig Einsicht zu zeigen, reumütig um Vergebung zu bitten, den Inhalt seiner Beichte coram publicum zu rechtfertigen.
„Ich weiß. Da werden die anständigen Pietisten meiner spotten und sagen: Bist du der große ordinierte Vikar und kannst dem Teufel nicht antworten? Weißt du nicht, dass er ein Lügner ist? Dank habt, liebe Damen und Herren für eure tröstliche Absolution und Antwort. Denn das hätte nicht gewusst, dass der Teufel ein Lüg…“
„Kraft meiner Befugnis als Prüfungsvorsitzender schließe ich Sie hiermit unehrenhaft aus der Kommission aus. Ohnehin war mir schleierhaft, warum man uns jemanden ohne Pfarrerexa-men unterjubeln wollte. Ausgerechnet einen Azubi! Da müssen irgendwo Fehler unterlaufen sein. RAUS!!!!! ABER SCHNELL!!!!! EHE ICH MICH VERGESSE!!!!! SIE UND IHR PAPISTISCHER KRAM, SIE!!!!! SO ETWAS WIE HEUTE IST MIR IN MEINER GESAMTEN KIRCHLICHEN LAUFBAHN NOCH NICHT UNTERGEKOMMEN!!!!!“
Mit einem Mal tat er ihr so unendlich leid. Wortlos, gedemütigt, niedergeschlagen nahm Zur-baráns Kopie den Koffer, schlurfte wie ein armer Tropf zum südlichen Seitenausgang.
Manchen offensichtlich nicht flott genug. Sich durch des Oberkirchenrates Äußerungen dahin-gehend befleißigt fühlend, dem Bärtigen bei dessen Landgewinnung behilflich zu sein sowie ihm draußen fein Gesellschaft zu leisten, stürmte Ann-Kathrins glaubeneifriger Vater mit weit hochgekrempelten Hemdsärmeln heran. „Naaaaa waaaarte, Freundchen!“ Herr Müller, krebs-rot angelaufen, bebte vor Zorn. „Das klären wir gleich unter Männern!“
Dann begab sich etwas, was Bernhardette Constanze Aamlia bis ans Lebensende nie, nie, nie, nie, nie, nie vergessen würde. Gerade wollte er ihn am Schlafittchen packen, posaunte Prin-zessin Altklug von Neuem los. „Öhm…sagen Sie…ist unsere Prüfung überhaupt gültig?“
„Wie meinst du das?“, reagierte der Angesprochene irritiert, ehe Frau Kaiser mit ALESSA MA-RIE! WIRKLICH ALLERLETZTE WARNUNG! DENK AN DIE WÄSCHEKLAMMER! dazwischenge- hen konnte. „Na ja, ich sehe halt gerade, dass Sie unerlaubt auf der Kanzel stehen. Steht doch unten hinter Ihnen geschrieben!“ Perplex wandte sich der Vorsitzende bückend um, langte hin. Anmoniert. Wohl oder übel stieg er drüber hinweg, wiederholte seine Bückdrehung. Las durch etliche Dioptrien hindurch:
Ebenso bis an ihr Lebensende würde Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Mün-zenberg folgenden Bibeleid ablegen: „Ich schwöre, dass jener Hinweis bis vor wenigen Sekun-den nicht da angebracht war. So wahr mir Gott helfe!“ Hatte sie von erniedrigender Sitzgele- genheit aus die Kanzel rückseitig ja von Anbeginn ideal im Fadenkreuz gehabt. Da war wirk-lich nichts gewesen. Nichts! Abolut nichts!
Prompt kam der Zelot angesprungen. Dann überboten sich diverse Akteure an lautstarken Ar-tikulationen, riefen derart wild über die Köpfe hinweg durcheinander, sodass von ihren Sätzen überwiegend Wortfetzen vernehmbar waren, von Alttestamentlern zweifelsohne als Art neu-babylonische Sprachverwirrung ausgelegt. Deren – sofern akustisch vollständig aufschapp- bar – einprägsamste Satzgebilde vermochte Hanau-Münzenbergs absolutistisch schalten und waltende Regentin nahe Marie Antoinettes Schafott originalgetreu zu rekonstruieren.
„ICH SAG’S IHNEN NOCH EINMAL: SIE HABEN GEGEN EINEN KIRCHENVORSTANDSBESCHLUSS VERSTOSSEN! ERKÄREN SIE SICH!“
„SEI DOCH ENDLICH STILL, BERND! SPIEL DICH NICHT IMMER SO AUF!“
„HANS! RUF AM BESTEN MAL DEN PETER AN!“
„ZUM LETZTEN MAL: BEIM BESTEIGEN DER KANZEL STAND DAS VORHIN NOCH NICHT DA! ICH BIN DOCH NICHT BLÖD!!!!!!!“
„HOHOHOHOHOHOHOOOO! DOKTOR MARTIN LUTHER HAT MICH AUF DER WARTBURG MIT DEM TINTENFALSS VERFEHLT!“
„DAS WERDE ICH DER KIRCHENLEITUNG MELDEN, DARAUF KÖNNEN SIE SICH VERLASSEN!“
„GEHT KEINER RAN! HAST DU DIE NUMMER VOM HELMUT?“
„IIIIIIIIIIHHHH, GEORG, DIESE STIMME LÄSST EINEM JA DAS BLUT IN DEN ADERN GERIEREN!“
„ICH…ICH…ICH…WUSSTE, DU BIST HIER! ZEIGE DICH, SATAN!“
„RUUUUUUUHHHEEEEEE!!!!!!!!!“
„MIT WEM REDET ER?“
„HOHOHOHOHOHO! LASST EUCH NUR NICHT ERZÄHLEN, ER HÄTTE GETROFFEN! ANSONSTEN VERLANGT EUER EINTRITTSGELD ZURÜCK!“
„RUUUUUUUUUUUUUUUHHHHHHHHEEEEEEEEEEEE!!!!!!!!!!!“
„WER IST DAS?“
„ACHTUNG, ALLE ZUHÖREN! DER ALTBÖSE FEIND SCHEINT GERADE UNTER UNS ZU WEILEN. ER WILL UNS IN EIN GESPRÄCH VERWICKLEN, DAS IST SEINE TAKTIK! NICHT DARAUF EINGE- HEN!!!!!!! NOCHMAL: NICHT DARAUF EINGEHEN!!!!!!! ES IST DER AFFE GOTTES, DER ZU EUCH SPRICHT!!!!!!!!!!“
„BERND!!!!!!!!!!!!“
„SEI STILL, CAROLA!!!!!!!!“
„VERENA! MARA! SANDRA! IHR LEGT DRAUSSEN IM BUS MEINE MESSGEWÄNDER ZURECHT! LITURGISCHE FARBE WEISS! ANJA! RONJA! IHR GEBT DEN JUNGS IHRE MINISTRANTENKLEI- DUNG! MARKUS, DU NIMMST AUS MEINEM KOFFER KELCH, PATENE UND HOSTIENGEFÄSS, BRINGST ALLES ZUM HOCHLALTER, DANN KOMMST DU NACH! AUF, AUF, LEUTE, FÜNF MINU-TEN, ZEIGT, WAS IHR GELERNT HABT!“
„KEINE DISKUSSION MIT DIESER STIMME ANFANGEN!!!!! DAS IST SATANS LIST!!!!!“
„FEHLANZEIGE, DER HELMUT HAT URLAUB!“
„PROBIER’S HALT BEIM BERNHARD!“
„SEHT, DER PAPST HAT IHM AUS ROM JUNGE HELFERSHELFER MITGESCHICKT!“
„UND WENN SCHON, IHREN EINTRITT KRIEGEN SIE EH NICHT WIEDER!“
„PAPIIIIIII!!!!!!! ICH WILL DAS JETZT ABER WISSEN, OB DER TEUFEL HIER IST!!!!! ICH WILL DAS JETZT WISSEN!!!!!!!“
„ALLES NAIVE JUGENDLICHE, UNFASSBAR! DAS PAPSTTUM SCHRECKT WIRKLICH VOR GAR NICHTS ZURÜCK!“
„IHR JUNGS UND MÄDCHEN SETZT EUCH AUF DER STELLE WIEDER HIN! HINSETZEN!!!!!“
„MEINE GÜTE, DANN GEBE ICH IHNEN EBEN IHRE 12,50 EURO!“
„DIE HÖREN ÜBERHAUPT NICHT, WENN MAN IHNEN WAS SAGT!!!!!“
„ICH HATT’S DOCH VORHIN GLEICH GEAHNT, DER PAPST WILL 2017 UNSERE REFORMATION SPALTEN!!!!“
„ICH WILL ABER!!! ICH WILL ABER!!! ICH WILL, ICH WILL, ICH WILL!!!!!“
„NEIN, DER PAPST KANN ES NICHT GEWESEN SEIN, DER TEUFEL HAT IHM DOCH ERKLÄRT, ES GIBT KEINEN PAPST MEHR!“
„SÖREN, HIER NIMM DIE SCHELLEN FÜR DIE WANDLUNG UND DIE MÄCHTIGEN TEUFELVER-TREIBENDEN RELIQUIEN DER HEILIGEN MARIA, UND TOBIAS, DU DAS MESSBUCH!“
„NIE WIEDER WARTBURG! NIE WIEDER!!!!!“
„NEIN, KEIN RAUCHFASS HEUTE!“
„IMMER MEHR STEHEN AUF! WIE VIELE SOLDATEN GAB IHM DER VATIKAN DENN NOCH?“
„TAUSEND DANK, HERR VIKAR, DASS SIE UNS IM GLAUBENSKURS DIE AUGEN ÖFFNETEN!“
„ER…ER…ER…ER…HAT UNBESCHOLTENE ZU PAPISTEN GEMACHT!“
„DUUUUUUU RATTENFÄNGER! ICH HAUUUUUU DIR JETZT SOOOOOOO WAS…“
„BERND! SOFORT ZU MIR IN DIE KIRCHENBANK! WAS SOLL ANN-KATHRIN VON DIR DENKEN?“
„ABER WER SOLL FRANZIKSUS DENN DANN SONST SEIN IN ROM?“
„AAAAAAAAAAAAAHHHH!“
„BERUHIGE DICH ENDLICH, BERND! DU WEISST, WAS DER DOKTOR DAUERND SAGT. DENK AN DEIN HERZ!“
„ES IST ZUM HAARERAUFEN, KRIEGST KEINEN ANS TELEFON. FERIENZEIT!“
„UND WAS, WENN DER DÄMON IN SELIGENSTADT RICHTIG LAG?“
„SCHON, NUR DIE ANGEBLICHE KRISE FEHLT!“
„ABER ER KANN DOCH JETZT IM CHOR NICHT EINFACH SO GÖTZENDIENST BETREIBEN!“
„HANS, KOMM, LASS IHN MACHEN. WENN ICH SEINEN STUSS RICHTIG VERSTEHE, IST ER JA TROTZ ALLEDEM WEITERHIN GEGEN DEN PAPST! DAS IST DIE HAUPTSACHE UND GUTE RE-FORMATORISCHE LEHRE!“
„HAAALLOOOOOOO! MÜSSEN WIR HIER EIGENTICH VERSAUERN? ES NERVT!“
„ALESSA MARIE! JETZT KOMME ICH ABER WIRKLICH MIT DER WÄSCHEKLAMMER!“
„SEHT, SIE ZIEHEN ALS PAPISTEN VERKLEIDET IN DIE KIRCHE EIN!“
„MAMI, WARUM HÄLTST DU MIR DIE AUGEN ZU?“
„UNSER WACKERER HEROE MARTIN LUTHER, ER LEBE HOCH!“
„HOCH! HOCH!“
„WIDER DAS PAPSTTUM ZU ROM!“
„VOM TEUFEL GESTIFTET!“
„EIN SKANDAL OHNEGLEICHEN!!! IHR TATENLOSES ZUSEHEN WIRD SIE DEN JOB KOSTEN, DA-FÜR SORGE ICH!“
„DA! JETZT DURCHSCHREITEN ER UND SEINE KUMPANEN DEN LETTNER!“
Allzu gerne hätten Frau Kaiser und Frau Müller, andere sicherlich ebenfalls, jetzt im Chorraum leise Mäuschen gespielt. Herr Müller hingegen torpedierte solche Absichten durch rechtzeiti- ges Andienen beim Kirchenzuchtskollegium bravourös. Wie Vorfeldpersonal auf Position rol-lende Flugzeuge korrekt einweist, wies Winker Bernd den Besuchern als frisch ernannter Se-curitymitarbeiter das Südportal, für tumbe Laien unmöglich alleine zu finden. „Bewahren Sie Ruhe! Das Gräuel beginnt! Alle geordnet die Kirche verlassen! Frauen und Kinder zuerst! Nicht stehenbleiben, zügig weitergehen!!! Zügig weitergehen!!! Jeweils zwei und zwei, wie vom Auf-stellplatz ins Schulgebäude!“
Auch der Sängerknabe verabschiedete sich mit einer kleinen Zugabe: „Ooooooohhh, Vikar un-seres geliebten Herrn Jesu Christi, ich sehe zu meiner Freude, aus dir einen waschechten Lut-heraner gemacht zu haben! So lebt denn alle wohl!“
Elf Kommissionsmitglieder hingegen folgten umgehend hintendrein. Bestimmt würden sie mit wachsamenen Argusaugen der Zeremonie argwöhnisch beiwohnen, penibel notieren, fotogra-fieren, um Beweismittel zu sammeln.
Frau Kaiser, Alessa Marie, Frau Müller und Ann-Kathrin veließen die Marienkirche als letzte. Stimmt, ja, sie selbst drehte ich nochmal für kurz um. Wuchtigen Schlages hatte Bernd, Profi von der Security, das Kirchenportal fachmännisch geschlossen.
Somit blieben ihnen dank security man Bernds pelikanartigem Vorpreschen abschließend le-diglich inhaltsleere Vorstellungen darüber, was sich parallel am mittelelalterlichen Marienal-tar liturgisch zutragen könnte.
„Na, das hat sich für uns ja wirklich gelohnt“, meinte Frau Müller im Weitergehen hörbar ver-ärgert, „und dafür sind wir extra aus Bebra angereist. Mit zwei Übernachtungen! Alles für die Katz! Gerade jetzt zur Reisezeit, wo Benzin typischerweise exorbitante Preise erreicht!“
„Oh, Bebra, das ist aber wirklich weit weg“ , antwortete Frau Kaiser, „wir kommen aus Hanau.“
„Ach, Hanau, hübsch, dann wohnen Sie ja praktisch um’s Eck!“
„Siehste, Mami, hab ich dir doch gleich gesagt. Kann jedem mal passieren, vom Teufel gelinkt zu werden. Da brauchst du doch nicht gleich eine Glaubensprüfung! Und das miiiiiiitten in den Sommerferien. Echt super! Nur weil Papi wollte!“
„Ann-Kathrin, bitte!“
„Ist doch wahr, Mami!“
„Siehste, Mami, sie denkt genau dasselbe! Voll der Griff ins Klo!“
„Alessa Marie, bitte!“
„Ist doch wahr, Mami! Voll der Reinfall!“
„Für das Auftreten meines Mannes möchte ich mich übrigens noch entschuldigen. Bernd neigt leider bisweilen zum Hitzkopf. Kenne ihn nicht anders!“
„Kein Problem, er hat nur seine Pflicht getan. Was macht Ihr Mann eigentlich beruflich?“
„Geschäftsführer im Pharmabereich. Verdient ausgesprochen gut. Und Ihrer?“
„Ursprünglich gelernter Krankenpfleger, agiert auf Youtube erfolgreich als Graf. Bespricht der-zeit im Mannheimer Schloss drei neue Videos.“
„Ach, auch sehr schön! Halt…warten Sie…Ihr Gesicht…doch nicht etwa DER Graf mit seiner Fa-milie? Ich schaue mir jede Folge an. Und Ihre wunderschönen Kostüme, da gerät man immer sooooo ins Schwärmen. Dazu vornehmes Französisch. Als ob es den Versailler Hof tatsächlich noch gäbe. Verblüffend authentisch. Und Sie sind richtige Influencer?“
„Dooooch, genau DER Graf. In Mannheim drehen wir. Übrigens Europas größte Schlossanlage, wussten Sie das?“
„Verrückt, und ich dachte stets, Versailles.“
„Denkt jeder. Ich heiße übrigens Jessica. Wollen wir nicht lieber „du“ zueinander sagen?“
„Danke, sehr gerne. Bin die Carola.“
Daraufhin schlenderten zwei Mutter-Tochter-Gespanne, für nichts und wieder nichts in Geln-hausen gelandet, schwatzend nördlich um dessen imposante Sehenswürdigkeit herum, vorbei am Chor. „Guckst du auch dauernd ängstlich nach oben?“, wollte Jessica wissen.
„Nicht für verrückt halten, aber ich musste mich vergewissern, ob da oben vielleicht Gestalten lauern. Ich musste einfach. Zeitgleich überfiel mich beklemmende Angst, die Turmuhr schlüge jeden Augenblick 13. Was ist bloß mit mir los?“
„Überhaupt nicht verrückt“, entgegnete Bernds Ehefrau solidarisch, „mir geht’s genauso. Die-ser Vikar war richtig gruselig. Eine Krise! Eine Krise! Merk dir jetzt schon eins, Ann-Kathrin, wenn du uns einen Verschwörungsheini anschleppst, ist sofort Schluss!“ Beiden Frauen hak-ten sich Mut machend ein. „Ich finde, wir sollten nach diesem Schrecken erstmal in einem ge-mütlichen Restaurant einkehren, einverstanden?“, schlug Carola vor. Keine widersprach.
Also begab sich das Damenquartett auf die Suche nach sonnigen Außentischen. Dabei sahen vom Untermarkt alle nochmal zur beeindruckend thronenden Marienkirche. „Weißt du, Caro, mich macht äußerst stutzig“, bemerkte Jessica kritisch, „dass man uns keinerlei Stillschwei-geerklärung unterschreiben ließ. Läge in deren Interesse doch nahe.“
„Ich tippe mal, Jessi, Hans spekuliert ganz einfach, dass uns diese Story sowieso niemand ab-nimmt. Ohnehin war der Gottesdienst als Rahmen des Glaubensexamens für die Öffentlichkeit unzugänglich. Allein Prüflinge nebst engsten Familienangehörigen durften daran teilnehmen. Und die vom Vikar eingeschleusten Teenies. Eine zentrale Veranstaltung auf Landeskirchen-ebene. Ausnahmslos Auswärtige.“
„Okeeee…sprich, ohne hiesige Zeugen.“
„Was denkst du, wie morgen Verwandte, Freunde und Bekannte in Bebra reagieren, wenn wir ihnen DAS berichten. Die fühlen sich doch glatt veräppelt.“
„Stimme dir voll und ganz zu. Verständlich. Dürfte mir in Hanau kaum anders ergehen.
„Hans setzt alles auf eine Karte, bevor die Lehrbeanstandung unangenehme Fragen stellt.“
„Wir Frauen besitzen leider oft zu viel Fantasie. Selbst wirklich ganz normale Prüfungsgottes- dienste muss unsereins in wirre Geschichten umwandeln.“
„Ach, wir Frauen halt. Sonst wäre es auch furchtbar langweilig.“
„Ja, wir Frauen immer.“
Nach ausgiebigem Genuss diverser kulinarischer Leckereien trennten sich vor dem Lokal vor-erst die Wege der neuen besten Freundinnen.
„Na dann, Caro, macht’s mal gut. Euch noch einen wunderschönen Aufenthalt in Gelnhausen.“
„Ich sag dir, Jessi, das ist sooooooo eine schnuckelige Stadt. Mal sehen, ob ich Bernd zu einer dritten oder vierten Nacht überreden kann. Dann macht’s auch gut. Wir telefonieren.“
„Auf jeden Fall. Und fahr vorsichtig. Tschüssi!“
„Sei unbesorgt. Nie mehr als 120. Tschüssi!“
„Ebenso. Sicherheit geht vor. Tschüssi!“
Und als kurz darauf Ex-Fremdsprachenkorrespondentin Jessica, welche dank des aus Fortu-nas goldenem Füllhorn auf den Herrn Gemahl, Ex-Krankenpfleger Dennis Kevin, niederge-prasselten Eutojackpot-Geldregens arbeiten ebenfalls für ihrer beider zutiefst unwürdig er-achtete, samt Anhang im August 2017 die recht abschüssige Schmidtgasse hinunter lief, ge-sellte sich zu jener Carola gegenüber geäußerten Verwunderung eine zweite hinzu; jene näm-lich, welche Bernhardette Constanze Amalia soeben beim Rückweg von der Place de la Con-corde durchs adlige Köpfchen huschte. Comtesse hielt inne, spähte zur Residenz, deren Fas-sade teils im Schatten lag, teils im Morgenlicht leuchtete.
„Hm, am meisten erstaunt jedoch an diesem merkwürdigen Augusttag meine noch wesentlich merkwürdigere, spontan eingetretene, unerklärliche Fähigkeit, als Hellseherin exakt zu erken-nen, wie ich am 16. Oktober 2019, morgens, entlang Schloss Philippsruhs vorderem Spring-brunnen, gefolgt von vier Hofdamen, gewisse, seit 2015 unser Familienleben prägende Bege-benheiten, von kleineren Abweichungen wie etwa ein nunmehr leeres Kircheninnere abgese-hen, fotografisch präzise, in großen Bereichen sogar wortwörtlich ins Gedächtnis rufe“, grü-belte Jessica Kaiser zum vom Pflasterstein hallenden Staccato schmucker Absätze. „Aber wie soll das bloß geschehen bei einer, die mit dem Auswendiglernen schon als Schülerin unend- lich viel Mühe gehabt hatte?“
„Bei mir ist eben kein Ding unmöglich – weil ich das Licht bringe!“
Acht entsetzt aufgerissene, extremst beunruhigte Augen fixierten die Gräfin von Hanau-Mün-zenberg.
„Wir sollten wirklich dringend den Arzt rufen, Bernhardette!“ Chantal rang um Fassung. „Dein Gekreische hörte man garantiert bis rauf zur Hohen Tanne! Was um Gottes Willen ist los mit dir? Bitte, bitte, sag’s uns, wir hatten eben wirklich Angst um dich!!!!!“
„Meine Güte! Irrational! Ich muss total abgedriftet sein!“ Bernhardette Constanze Amalia wirk-te innerlich völlig fertig. „Nur einer meiner regelmäßigen schlechten Tagträume seit dem vor-zeitig abgebrochenen Diziplinarverfahren“, beschwichtigte sie. „Haltet euch fest. Ich spaziere wie damals als frühere Frau Kaiser mit Alessa Marie die Gelnhausener Schmidtgasse zurück Richtung Parkplatz. Plötzlich prophezeien höchst unglaubwürdige Visionen, dass ich mich ge-nau heute darüber wundern werde, einschlägige Ereignisverläufe visuell überwiegend punkt-genau, darüber hinaus weithingehend sogar wortwörtlich memorieren zu können. Was histo-risch allerdings unzutreffend ist, in der Schmidtgasse plagten uns angesichts derart massiver Zeitverplemperung wichtigere Sorgen. Bilderwirrwarr entsteht. Dabei rutsche ich tief ins un-ergründliche, dumpfe Reich des Unbewusstsen, stehe gleichsam Zurbaráns Franz von Assisi 2016 an Seligenstadts Mainufer. Grell im Sonnenschein strahlend setzt von drüben die Fähre über, darauf ein mir abgewandter Passagier in weinroter Jacke. Das exzellente Erinnerungs-vermögen, schallt der zur vom Kraftwerk aufsteigenden Wolkensäule schauende unheimliche Unbekannte, rühre davon, weil er das Licht bringt.“
„Ach, deswegen dein WER BIST DU??? ZEIG DEIN GESICHT!!!“, resümierte Hofdame Veronique.
„Worauf jene Gestalt erwidert: Oooooohhh, Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau- Münzenberg, fordere dies nicht von mir! Denn wenn ich das tue, wird Marie Antoinettes bluti- ger Todestag heute auch der deinige sein! Diese Stimme!!!!! Nicht mal übelsten Erzfeindinnen wünschte man sie zum Anhören. Erbarmungslos. Schwer wie Blei. Ohne Empathie. Ohne Lie-be. Erdrückend. Eisern. Eiskalt. Dann verwschwand das Bild.“
„Oh, Gott!!!!! Deswegen also hast du kreidebleich wie am Spieß gebrüllt: GEH WEG, GEH WEG, GEH WEG, BITTE, GEH WEH, GEH WEG, GEH WEG, ICH WILL NICHT STERBEN!!!!! Aber wie! Das war ja nicht mehr normal“, resümierte Hofdame Chantal.
„Bei der heiligen Modwena!!!!! Deeeeeeswegen also hast du dir mit beiden Händen verzweifelt den Hals umfasst, um dich anschließend zu übergeben. Aber wie! Das war ja echt nicht mehr normal!“, resümierte Hofdame Sylvie.
„Als ob du Blutfontänen speien würdest. Aber waaaas für welche! Vollkommen unnormal!“, re-sümierte Hofdame Yvette.
„Und ich dachte beim Anblick der tollen Bescherung auf dem Boden zuerst fröhlich, einer von euch gratulieren zu können“, resümierte Gräfin Bernhardette Constanze Amalia, dabei das be-kanntlich erst halbfertige Frisurengebilde betastend. „Neeeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnn…meine Haaaa- aaaaaaaaaare…biiiiiiiiiiitte…nnnnniiiiiiiiiicht auch daaaaaaaaaaaaaaaas nooooooch…“
„Während des Erbrechens gab Modell ‚Big Ben‘ bedauerlicherweise noch vor Inbetriebnahme seinen Geist auf“, erklärte Sylvie den Sachverhalt.
„Wir bringen wir dich jetzt gleich in dein Gemach, rufen den Onkel Doktor und danach Carola. Du fühlst dich heute wirklich nicht wohl. Freundinnennähe wird dir daher sehr gut tun“, ent-schied Chantal energisch. „Jaaaaaaaaaaaaaaa, Caro soll kommen“, schluchzte der vier jungen Mademoiselles Arbeitgeberin sehnsuchtsvoll, „ich muss sie unbedingt gaaaaaaaaaaannnnnnz doll drücken!!!!! Ich braaaaaauuuucheee meine Süße jetzt so!!!!! Oh, Gooooooooooott…die bri-tischen Flaggen…auf, mes chères, allez, zurück, die müssen doch noch gehisst wer…“
„Alles gut! Alles gut! Als das Dienstauto anrollte und Fahnenhisser Oliver pflichtbewusst zur Tat schritt bist du wie ein Zombie aus Horrorfilmen am Eingangstor vorbeigewankt. Nein, nein, nicht umdrehen! Ins Schloss mit dir! Dieser Tag ist einfach zu belastend für dich.“ Verständ-nisvoll umarmte Veronique ihre bemitleidenswerte Chefin. „Erst der peeeeiiinliche Auftritt dei-nes Mannes in Frankreich. Dazu Unzufriedenheit über Angestellte. Vor allem jedoch immense Nervosität wegen des bevorstehenden, politisch außerordentlich bedeutsamen Empfangs, wo nicht die geringste Kleinigkeit schieflaufen darf. Tjaaaa, und damit nicht genug, alles an solch einem makaberen Datum. So etwas zehrt wahnsinnig an der Substanz.“
„Danke dir, Sternenfee.“ Sie schluchzte wieder. „Weißt du, kurz bevor ich das blanke Fallbeil meinen Hals durchtrennen spürte, da war jener Sekundenbruchteil, an dem ich zu spät er-kannte, wie finstere, im Geheimen agierende internationale Mächte sich gegen unsere Graf-schaft verschworen hatten – und nun Dennis Kevin und mir an den Kragen gingen.“
Nach diesem letzten Satz Ihrer Durchlaucht geleiteten Sylvie, Chantal, Yvette sowie Veronique eine von Weinkrämpfen geschüttelte, völlig aufgelöste, wimmernde Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg behutsam, sanft, umsichtig und liebevoll tröstend am Morgen des 16. Oktober 2019 auf ihr Zimmer.
Erzählrunde 7
Epilog 1
„Seht nur, Freundinnen, wie friedlich der Springbrunnen plätschert!“, rief Kammerzofe Yvette aufgedreht schwärmend ihren Arbeitskameradinnen zu, während Veronique, Sylvie und Chan-tal die vor wenigen Sekunden noch in einer emotionalen Anwandlung purster Glücksgefühle akut Taumelnde behutsam stützten. Vom Eingangportal der gräflichen Residenz blickten alle vier quer über den Schlosshof zur Philippstuher Allee. „Oh, mein Gott, oh, mein Gott, dazu jetzt die hellen Glockenschläge von der Friedenskirche! Neun Uhr. Haaach, obwohl uns diese Dinge seit über zwölf Monaten vertaut sind, geht mir dennoch jedes Mal das Herz dabei auf. Über-wältigend, findet ihr nicht?“
„Stimmt, wahnsinnig erholsam. Besonders werktags“, bestätigte Sylvie.
„Ja!“, bekräftigte Veronique. „Hanaus Berufsverkehr rollt fleißig. Wir dagegen sind exklusiv pri-viligiert, Amalia auf ihrem Morgenspaziergang innige Gesellschaft leisten zu dürfen. Paradie-sische Arbeitsbedingungen!“
„Vollkommen richtig, Mädels“, nickte Chantal zustimmend, „Panorama und Geräusche sind in-zwischen so bekannt, als ob jede einzelne von uns bereits ewig bei Hofe angestellt wäre.“
„Weil du gerade ‚Hof‘ sagst, wo steckt Constanze eigentlich?“, fragte Sylvie sichtlich verwun-dert. „Die Kirchturmuhr hat soeben Neun geschlagen. Bereits fünfzehn Minuten überfällig! Da-bei tickt Madame Ponctualité präziser als Schweizer Uhrwerke.“
Yvette beobachtete das Ampelsignal hinten an der Straßenecke genauer. „Hm, wie ich sie ken-ne eilte Amalia vor dem Aufbrechen garantiert zu Dennis Kevin hoch ins Büro, bettelt ihn fle-hentlich an, Lockdown 2.0. mitzumachen.“
„Häää?“ Veronique wirkte irritiert. „Bislang wurde doch gar nichts beschlossen! Guuuut, man diskutiert darüber. Überhaupt, Deutschland ist vom März/April eh genug bedient, denkst du echt, die Bevölkerung spielt da nochmal mit?“
„Jaaaa, schoooon! Aber wenn ich sehe, wie die Ampel JETZT auf Rot schaltet, passt diese Far-be eigentlch perfekt zur aktuellen Infektionslage. Korrigiert mich bitte, wenn ich falsch liege!“
„Ach, Yvette, mein pfifiges kleines Füchslein, an dir bewundere ich stets deine hellsichtige Ga-be, ganz normale Alltagssituationen spontan als Symbole tieferer Geschehensabläufe deuten zu können.“ Unbemerkt, auf hauchleisen Sohlen von hinten herangetreten, jagte Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg mit unerwartet ertönender Lobeshymne ah-nungslos Plaudernden gewaltigen Schrecken ein. „MEINE GÜTE, BERNHARDETTE!!!!!“ Chan-tal fasste sich aufschreiend beidhändig an den zitternden Busen, japste nach Luft. „Mensch, Constanze!“ Sylvies Stimme klang tadelnd. „Ständig schleichst du wie eine Katze herum, und wir erschrecken uns fast zu Tode. Das tut uns nicht gut! Könntest du dich nicht wenigstens ir-gendwie vorher ankündigen? Beim Aufsuchen der Toilette räuspern wir uns bekanntlich vor dem Beiseiteschieben des schützenden Samtvorhangs zunächst auch dezent, ersparen damit der möglicherweise dahinter Sitzenden peinliches Erröten. Danke!“
Geistesgegenwärtig erkannte Kammerzofe Yvette drohende Gefahr. Ehe also die hochsensible Chantal, emotional aufgewühlt vom unerwarteten Schock, in eruptionsartig hervorschießende Tränen ausbrach, dramatisch fließende Ströme, versuchte sie deren bebende Anspannung rechtzeitig mittels taktisch geschickter Gesprächsfortführung zu entschärfen. „Heyyyy, Chanti, sieh mal, der Bus fährt vorbei! Finde das stets von neuem soooooo entspannend, wenn er ge-mächlich um die Kurve biegt. So unendlich vertraut! So beruhigend! Da schaltet selbst die Co-ronaampel freiwillig auf Grün. Stimmt’s oder hab ich Recht? Hab ich Recht oder stimmt’s?“
Geschafft. Chantal lächelte. Freilich gewährleisten singuläre Etappensiege längst keinen Ge-samtsieg, weshalb folgende Sportlerweisheit für Hanau-Münzenberger Zofen ebenso unein-geschränkte Gültigkeit besaß: Zwischenerfolge ausbauen statt verspielen. Bevor der brodeln-de Vulkan es sich am Ende anders überlegte.
„Hihihihi, sag mal, Amalia, wo hast du denn nur gesteckt?“, kicherte Veronique neugierig. „Wir wollten soeben eine Vermisstenanzeige aufgeben. Normalerweise bist du doch die Pünktlich-keit in Person, welche selbst Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds spielend übertrumpft.“
„Oh, bitte verzeiht, meine geduldigen Lämmlein, dass ich euch unhöflich warten ließ. Doch ich musste vorher noch wegen einer dringende, unaufschiebaren Angelegenheit zu Dennis Kevin rauf ins Büro.“
Hellseherin Yvette orakelte: „Lockdown 2.0.?“
„Exakt. Wie du vorhin mit deinem Ampelvergleich treffend darlegtest, steht das gegenwärtige Pandemiegeschehen auf Dunkelrot. Deutschlands Ministerpäsidentenkonferenz kommt ange-sichts einer bald durchaus realistischen Marke von rund 15.000 vom Robert Koch-Institut ge-meldeten Neuinfektionen kaum drum herum.“
Sylvie reagierte auf solche Hiobsbotschaften bestürzt. „Oooooh, neeeeeiiiiin!!! Wenn dein Mann tatsächlich mitzieht, schließt praktisch wieder alles. Dabei herrschte im Sommer nach Über-stehen furchtbarer Wochen endlich bundesweit einigermaßen Normalität. Und viele Familien hatten die eindringlichen Appelle befolgt, Urlaub im eigenen Land verbracht. Lüneburger Hei-de anstatt Adria.“
„Bedauerlicherweise, Sylviechen, empfinden Pandemien gegenüber Jahreszeiten traditionell keinerlei Verpflichtungen.“
„Amalia hat Recht“, pflichtete Chantal ihrer Dienstherrin bei, „eine zweite Welle war doch lo-gisch. Kaum begann das neue Schuljahr, peng, mutierte Hanau zum Hotspot. 7-Tage-Inzidenz von 70 am 26. August. Rekord.“
„Aber dann sanken die Zahlen erfreulicherweise, und das gräfliche Edikt vom 24. August über verschärfte Auflagen für Hanau, Maintal, Brucköbel Erlensee, Nidderau sowie Neuberg konnte bereits am 07. September aufgehoben werden. Immerhin! Ursprünglich sollte es bis zum 23. gelten. Ist doch alles halb so wild.“
„Ach, Sylvie, Gänsemädchen, du verstehst nicht!“, erklang der Gräfin sanft erklärende Stimme. „Schau, in diesen außergewöhnlichen Zeiten scheint nichts sicherer zu sein als permanente Unsicherheit. Heute topaktuell – in 24 Stunden Schnee von gestern. September adieu, prompt leisten herbstliche Witterungsverhältnisse CoVid-19 Bärendienste. Deswegen: Welle 2 unbe-dingt brechen! Unbedingt! Bitte, bleiben Sie gesund!, lautet derzeit die Parole.“
Trotz einleuchtender Argumente setzte Anwältin Sylvie das Plädoyer fort, weiblich mitfühlend an ihre von neuerlichen Schließungen wiederum betroffenen Mandanten denkend. Gerwerbe-treibende, Selbständige, vom harten Schicksal Gebeutelte, welche nach Lockdown 1.0. opti-mistisch annahmen, es gehe allmählich bergauf. „Rein theoretisch gefragt, Constanze, was wäre, wenn Dennis Kevin bewusst entschieden anders handelt?“
Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg sah „ihre“ Mädchen liebevoll an. „Kommt mal näher zu mir her, ihr munteren Springmäuschen. Wir beginnen jetzt erstmal wie gewohnt unsere allmorgentliche Runde. Unterwegs erkläre ich euch die Zusammenhänge genauer. Einverstanden?“
„Oh, jaaaaaa!“, jubelten vier quirlige Stimmen durcheinander. Entsprechend brach das Quintett auf, um in trauter Gemeinsamkeit frische Luft zu tanken.
Sie waren kaum losgeschlendert, unterbrach Hanaus mächtigste Einwohnerin just begonnene Frühbewegung zwecks erster anschaulicher Demonstration kausaler Ursachen. „Wenn ihr zur Kommandatur rüberseht, offenbart sich euch exactement DER Grund, weshalb Hanau-Mün-zenbergische Sonderwege kategorisch ausgeschlossen bleiben.“
„Verstehen wir nicht“, erwiderte Veronique stellvertretend, „deinen Worten zufolge hatte Jaw-lonskji doch Anfang Februar 2018 das historische Hanauer Bataillon über alte Verbindungen ins Söldnermilieu neu aufgestellt. Wüste Raubauken, die nicht lange rumfackeln. War doch so, oder?“
„Psssst, tretet bitte nochmal ganz nahe an mich heran!“, flüsterte Hanau-Münzenbergs Gräfin äußerst vorsichtig. „Nein, noch näher. Perfekt. Auf dem Schlossgelände lauscht nämlich selbst das Brunnenwasser. Okay, jetzt mal ganz unter uns fünf Schwatzliesen im Vertrauen. Glaubt hier wirklich eine, dieses Bataillon sei ernsthaft fähig, unser Territorium ausreichend zu ver-teidigen? Läppische 400 Männeken langen im Augenblick kaum zur Innensicherung. Vorges-tern Jawlonskjis Großrazzia zwischen Rüdigheim und Ravolzhausen gegen illegal gepanschte Desinfektionsmittel. Maskendiebstähle en masse. Dutzende Strafanzeigen wegen Körperver-letzung durch Anhusten. Ferner neue, Besorgnis erregende Enkeltrick-Maschen. Alles negati- ve Krisen-Begleiterscheinungen. Ergo: Gut gesicherte Außengrenzen sind das A und O jegli-cher Staatskunst. Was geschieht wohl, wenn Geschäfte, Kneipen, Discos et cetera lustig offen bleiben? Chantal?“
„Äh…keine Ahnung…ehrlich gesagt…“
„Yvette?“
„Äääääh…jaaaa…also…“
„Ich sag’s euch. Dann rennen die Deutschen uns die Grenzen ein, weil jeder hier das Paradies auf Erden erblickt. Internationale Fernsehstationen übertragen 2015 drastisch ins Gedächt-nis zurückrufende Szenen. Live von den Übergängen. Verzweifelte Menschenkarawanen, er-picht darauf, wie vor Corona ungestört einzukaufen oder ohne Kontaktbeschränkungen sorg-los zu feiern. Legionen partywütiger Oberstufenschüler kampieren entlang des Mains und der Kinzig. Haufenweise liegengebliebener Müll! Wer darf brav entsorgen? Igitt, von Hinterlassen- schaften anderer Art ganz zu schweigen! Denen extra Dixiklos hinstellen? Tse, ich denk gar nicht dran! Schlimmer noch: Das Flüchtlingsdrama würde weit übers Lockdownende hinaus andauern, bis drüben einigermaßen Ruhe einkehrt. AUSSER, Dennis Kevin besäße schlagkräf-tige Grenzregimenter. Gnadenlos abweisen. Bundesbürger. Nicht-Deutsche. Keinen reinlassen ins Schlaraffenland. DAFÜR wiederum braucht’s Soldaten, Soldaten und nochmal Soldaten! Sonst lotsen Schleuserbanden konsumgierige Flüchtlinge nachts scharenweise über die un-bewachte Grüne Grenze. DAFÜR wiederum braucht’s Geld, Geld und nochmal Geld! FRAGE: Wie Armeen bezahlen angesichts massiv weggebrochener Einnahmen?“
Bei Sylvie klingelte der Groschen zuerst. „Ach, deeeeeshalb!“, tuschelte die Hofangstellte leise. „Aber mal was anderes. Hört ihr eigentlich gerade auch das nicht, was ich nicht höre?“
Bei Philippsruhs première dame klingelte der Groschen zuerst. „Jetzt, wo du es sagst. Es ist so verdächtig still. Auf, ihr wuscheligen Alpakas, wir forschen nach!“
„In Königs Wusterhausen scheint zeitig Schicht im Schacht zu sein“, tippte Gräfin Bernhardet- te Constanze Amalia hämisch, als fünf neugierige Näschen das Wasserspiel passierten. Syl-vie, bei jedem Vorbeibummeln fasziniert vom auf ihr Gemüt magischen Einfluss ausübenden Gerausche, blieb von unsichtbarer Zauberhand gebannt, stehen, starrte hypnotisiert das zum Greifen nahe beeindruckende Schauspiel an.
„Rehkitzchen Guck-in-die-Luft, kommst du bitte!“, ermunterte Madame Ponctualité im Weiter-gehen begriffen mit zweimaligem Händeklatschen. „Träumen kannst du nachher genug!“
Alsbald ward Königs Wusterhausen erreicht. „Bingooo! Lotto-Jackpot geknackt!“, konstatierte Yvette. „Alles mucksmäuschenstill.“
Fassungslos über Fortunas spendablen Geldsegen überwältigte Lästerlaune die stolze Gewin-nerin:“Unfassbar, Hanau, wir haben en moment 09.10 Uhr, und Graf Dennis Kevins wackeres Tabakskollegium liegt beim Frühschoppen bereits schnarchend unter den Tischen. Hahahaha, was für Weicheier! Bouteilles! Männer!“
Spielverderberin 1, Veronique, funkte dazwischen: „Öhm…ich gönne dir ja den Gewinn wirklich von ganzem Herzen…Bernhardette…das Zelt!!!!!“
Spielverderberin 2, Yvette, funkte dazwischen: „Oh, neeeeiiin…das Zelt…Constanze hat das Zelt vergessen!!!!!“
Von bitterer Erkenntnis niedergeschlagen, dass die Lottogesellschaft schlauer als die Spieler-in gewesen war, bibberte Hanau-Münzenbergs gräfliche Hoheit daraufhin von Ängsten gepei-nigt der im Herbstwind wehenden Staatsfahne heulend und zähneknirschend entgegen: „We-he allen unterm Schlossdach, wehe!!!!! Um uns ist’s geschehen! Ihr unschuldigen Kinderlein, seht nur, seht nur, wie sich Coronas Himmel düster über Philippsruh zusammenbraute! Wehe allen unterm Schlossdach, wehe!!!!! Der Vampirfürst fliegt aus Bergamo durchs dichte Wol-kengetümmel lautlos heran! Holt Kreuze!!!!! Holt Knoblauch!!!!! Schnell, abends schon geht’s nimmermehr!!!!!!!“
Bergamo. März 2020. Coronainfizierte. Röchelnd. Krankenschwestern. Physisch, psychisch am Limit. Völlig fertig. Militärtransporter. Särge. Bergamo. Stadt des Todes. Nosferatu – Phantom der Nacht ging um. Regisseure hätten keinen schlimmeren Horrorfilm drehen können. Yvette, Veronique, Chantal und Sylvie führten die einer Hysterie nahen Edelfrau hinwärts zum Haupt-gebäude. Sylvies Hypnotiseur zur Linken hielt die Damenrunde auf inständiges adliges Flehen hin an. Panisch für nächste Nacht des Blutsaugers Ankunft erwartend wimmerte Bernhar-dette Constanze Amalia das strömende Rauschen an.
Nun aber avancierte Chantal zur schleunigen Antreiberin: „Jetzt komm, Amalia, wir bringen dich hinauf in dein chambre privée. Dort ruhst du dich gründlich aus. Warum befolgst du auch nicht das, was der Doktor sagte? Laut ärztlichem Rat darfst du es am 16. Oktober keinesfalls für längere Zeit verlassen. Nicht ohne Grund verschreibt er dir für diesen Tag vielmehr aus-giebige räumliche Privatsphäre: Bettruhe. Patiencen legen. Nähen. Sticken. Musizieren. Träu-men. Frischluftzufuhr gibt’s morgen zur Genüge! Erinnere dich ans letzte Jahr. Kaum drau-ßen? Nervenzusammenbruch! Heute dasselbe Theater. Kaum draußen? Erste Wahnvorstellun-gen!“
Der hohen Dame von Stand Tränen rollten ohne Unterlass. „Aber…aber…ich lag doch mit mei-ner finsteren Vorahnung richtig! Ich kann’s sogar beweisen!“ Sie zückte schluchzend ihr Nor-malsterblichen preislich verwehrtes Smartphone. „Das war am 03. Juli 2019 bei Unserem Be-such des Langenselbolder Flugplatzes.
Strahlendes Kaiserwetter. Zugegeben: Mitten im heißen Sommer wie Ludwig XVI. und Marie Antoinette gekleidet draußen zu sein, ist gewöhnungsbedürftig. Für die uns hinterhergehende Entourage in ihrer authentischen Garderobe sicherlich nicht weniger. Doch uns alle vereint ein Gedanke: Versailles‘ Hofetikette verpflichtet! Dafür schwitzt man gerne unter gepuderten Pe-rücken. Ja, Versailles. Damals schien die Sonne noch fröhlich auf Unsere kleine aber feine Herrschaft herab. Sämtliche Ampeln zeigten Grün. Aufbruchstimmung. Volle feudale Fahrt vo-raus! Endlich tat sich was in der langweiligen Region! Mit Landesherr Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg voran an der Spitze gemeinsam einer verheißungsvollen, strahlenden Zu-kunft entgegen. Sich drum gerissen, gebettelt hatte Langenselbold 2018, Hanau-Münzenber-gisch zu werden, obwohl unter historischem Aspekt das Gericht Langenselbold 1426 bis 1476 lediglich vom Mainzer Erzbischof an Hanau verpfändeter Besitz war. Den die Isenburger Gra-fen dann einlösten. Ihr wisst nicht, was im Juli 2018 überall abging, weil eure Anstellung zum 01. September 2019 begann. Als Gymnasiastinnen bis zum Abitur von frommen irischen Non-nen in Internatsklausur hermetisch vom Bösen abgeschirmt, erfuhrt ihr Wohlbehüteten allen-falls beiläufig oder während Schulferien davon. Überdies lagen eure Heimatstädte Potsdam, Leipzig, Dresden und Meißen fernab jener gewaltigen Umwälzungen. Wie dem auch sei. Den-nis Kevin tüftelte geniale Geschäftsideen aus. Über einschlägige Golfclubs, wo manch gekrön-tes Haupt eventuell als Caddie Einlass fände, wurde geschickt lanciert, bei Langenselbold ver-muteten Prospektoren im Flüsschen Kinzig Goldvorkommen. Sein Konzept: milliardenschwe- ren Jetset anlocken. Von hitzigem Goldfieber gepackte Dagobert Ducks sollten per Privatflug-zeug oder Privathelikopter andüsen. Ein neuer Goldrausch. Ein neues Alaska. Ein neuer Klon-dyke. In einer absolutistisch regierten Grafschaft. Gelbglitzerndes Abenteuer plus irres 1780-Erlebnis. Ultimativer Kick für Superreiche.“
Genervte Kammerzofen rollten die Augen.
„Als Dennis Kevin im August Unsere ambitionierten touristischen Ziele für das Jahr 2020 vor-stellte, lachte in Berlin niemand mehr. Längst verloren 2017 intern abgeschlossene Wetten, spätestens Ende 2018 wäre die Grafschaft Hanau-Münzenberg weg vom Fenster, das Staats-gebiet wieder Bundesbesitz. Ähnlich wie Paris bis heute insgeheim hofft, dass Monaco irgend-wann an Frankreich fällt.“
An dieser Stelle angelangt wollten acht unermüdliche Hände die leicht verwirrt Redende ur-sprünglich weiter dem diskreten Privatgemach entgegenziehen. Doch Bernhardette Constan-ze Amalia befreite sich wie eine bockige, unfolgsame Vierzehnjährige, sprang zwei Meter vor-wärts, wies in Diensten stehenden jungen Damen demonstrativ den Spazierweg zum Main.
„Hahaha, bis man in Berlin, Brüssel, hahahahaha, Washington auch, zum Schrecken des poli-tischen Establishments registrierte: WIR meinen es ernst. Die Sache nimmt zunehmend Fahrt auf. Von wegen weg vom Fenster! Jetzt Obacht, der springende Punkt! Im März 2020 sollte die lediglich für Segel- und Ultraleichtflugzeuge geeignete Grasbahn asphaltiert, gleichzeitig für Privatjets anflugfähig verlängert werden. Wozu es bekanntlich nicht kam. Da wollten gewisse Kreise Uns mit CoVid-19 einen dicken Strich durch die Rechnung machen.“
„Aber, Amalia, das klingt alles ziemlich stark nach Verschwörungstheorie“, merkte Veronique skeptisch an.
„Könnte man tatsächlích annehmen, süßes Hoppelhäschen. Wenn nicht sämtliche Fakten da-für sprächen“, dozierte Frau Professorin unbeirrt weiter. „Glaubt ihr wirklich, alles war bloß Zufall? Ausgerechnet eine Woche vor dem ersten Spatenstich bricht der internationale Flug-verkehr, daran gekoppelt die weltweite Reisebranche de facto über Nacht zusammen! Ihr habt sie ja noch im Ohr, jene inständigen Aufrufe später drüben in Deutschland, die Leute mögen doch bitte bitte bitte daheim bleiben beziehungsweise heimische Gefilde wählen. Bayerischer Wald statt Rotes Meer. Singapur handelte genauso. Kein Wunder, dass die Grasbahn seither vergammelt. Welcher Onkel Dagobert bucht derzeit Goldschürfen? Geldspeicherbesitzer pla-gen wichtigere Sorgen! Folglich steht der bereits für Hubschrauber ausgelegte Gelnhausener Flugplatz gleichermaßen dumm rum.“
„Du redest echt fast so wie die Querdenker, Bernhardette“, kicherte Yvette ironisch.
„Überlegt, ihr zwitschernden Rotkehlchen, überlegt! Diese echten Global Player, diese richti-gen globalen Strippenzieher, die schert es nicht, ob Präsident Trump pandemiebedingte Ein-reiseverbote für die USA verhängt. Juckt deren Kontostand null. Für eine Miniatur-Grafschaft hingegen, welche Einkünfte fürs Überleben benötigt, bedeutet kollabierter Tourismus Kollate-ralschaden.“
„Wartet mal“, störte Sylvie Bernhardette Constanze Amalias Politikvorlesung, „im Zelt hör ich was! Hört ihr das auch?“
„In Königs Wusterhausen scheint bereits Schicht im Schacht zu sein“, wiederholte des Grafen Ehefrau ihre fiese Häme. „Unfassbar, Hanau, wir haben en moment 09.20 Uhr, und Dennis Ke-vins Tabakskollegium liegt beim Frühschoppen bereits schnarchend unter den Tischen. Haha-haha, was für Weicheier! Bouteilles! Männer!“
Yvette ulkte amüsiert: „In München wurde die Wies’n abgesagt, am Hanau-Münzenbergischen Hof lässt sich demgegenüber keiner das wohlverdiente Münchener Oktoberfest nehmen.“
„Bis 03.00 Uhr dröhnte das Rumtata“, ächzte Bernhardette Constanze Amalia. „Logisch, dass Europas Klatschpresse Gerüchte über einen Corona-Hotspot Philippsruh streut. Trotz klarer Hygienevorschriften, wie auf dem Hinweisplakat unschwer erkennnbar. Das ist alles Bestand-teil der Strategie. Sie haben der Grafschaft Hanau-Münzenberg mit einer ausgeklügelten, von langer Hand geplanten Pandemie den Fehdehandschuh hingeworfen. Bei CoVid-19 handelt es sich in Wahrheit um einen knallharten Showdown. High Noon. Wie im Western. Vergesst, was regierungstreuer Mainstream euch tagtäglich vorgaukelt. Erwacht!“
Sie liefen die Rampe zum Park hinauf und näherten sich rückseitig dem Residenzschloss. Die lehrende Aakademikerin und ihr augenrollendes Gefolge im Schlepptau. Philippsruhs Terras-se lag vor den morgentlichen Spaziergängerinnen.
„Mächtige Eliten hatten 2017 sowohl Zuckiputzi als auch Zuckerhasi leichtfertig unterschätzt. Nun helfen die verunsicherten obersten Kasten hastig mit Hilfe gestohlener Viren nach, dass Wir baldigst vom politischen Parkett verschwinden. Der Markt in Wuhan, da lachen ja die Hüh-ner!!! Aus dem Labor kam’s!!! Sie hassen unsere absolutistische Herrschaftsform. Sie hassen unser schnuckeliges Versailles am Main. Sie hassen die vornehme höfische Kultur. Sie hassen unsere prachtvolle Hofentfaltung. Sie hassen unsere stilechte Kleidermode aus den Zeiten um 1780. Sie hassen elegante weiß gepuderte Zopfperücken und raffiniert ausgefallene Turmfri-suren. SIIIIIIIEEEEE-HAAAAAAAAA-SSSSSSEEEEEEENNNNN-UUUUUUUUNS!!!!!“
„Lass mich grade deine Stirn fühlen“, bat Sylvie besorgt.
„Lass mich loooooos, duuuuuu!!!!! Laaaaaaassss-miiiiiiiiich-loooooooos, sag ich!!!!!“
„Bedenklich warm. Typisches Anzeichen. Über das Marie Antointette Syndrom klagen zahlrei-che Adelsfrauen. Kollektives blaublütiges Trauma, sagt der Arzt. Deshalb, husch, ab ins Bett mit dir, Fieber messen! Am Siebzehnten ist’s Gottseidank überstanden.“
„Neeeeeiiiiinnnnnnn!!!!! Ich bin nicht krank!!!!!! Ich bin vollkommen gesund!!!!! Ich will weiter spazierengehen!!!!!“
„Morgen früh nach unserem gemeinsamen Frühstück flanieren wir wieder. Ganz fest verspro-chen“, redete Yvette der Fiebernden gut zu. „Für heute brauchst du oben ausgiebig Ruhe, um Energie zu schöpfen. Ähm…du…Constanze…außerdem möchte ich ohnehin nur höchst ungern weiter durchs Parkgelände laufen, weil mir der Gang aufs stille Örtchen zweifellos lieber wä-re. Und eines versprech ich euch jetzt schon, Mädels: Sollte uns Lockdown 2.0. – wenn er denn kommt – neuerliche Anweisungen bescheren, aufgrund akuter Lieferengpässe mit dem Klopa-pier sparsam umzugehen, krieg ICH die Krise.“
„Und ICH erst, wenn sämtliche Nudelregale leergekauft sind!“, betonte Chantal. „Wisst ihr noch die Supermarktdurchsagen? Motto: Bleibt ruhig, Leute, ist genug da! Erinnert ihr euch?“
„Echt voll daneben diese Hamsterkäufe damals, als hätten im März Kriegszeiten gedroht!“, la-mentierte Sylvie.
Abermals öffnete Frau Querdenkerin verblendete Augen einfältiger Wesen. „Vergesst nicht, ihr gurrenden Täubchen, Toilettenpapier- und Nudelknappheit stellten ebenfalls Bausteine jener perfiden Gesamtabsicht dar. Dahinter steckte Kalkül. Besonders durch Fehlen intimer Hygie-neprodukte wollte man Philippsruh demütigen. Schamlos unters Joch schicken. Auf dem WC bloßstellen. Doch die finsteren Zirkel werden kapieren, wer im Duell den Colt schneller zieht.“ Solidarisch hinzufügend: „Aber jetzt auf, hurtig rein mit uns! Yvette drängt es.“
Alsdann kehrten sie am Morgen des 16. Oktober 2020 gemeinsam über die Terrassentreppe ins Schlossinnere zurück.
Erzählrunde 8
Epilog 2
OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOOOOOTT! SCHAUT MAL, DIE SÜSSEN GÄNSCHEN SIND WIEDER DA!!!!! Hofdame Chantal geriet beim Anblick einer entlang des Mainuferweges grasenden altbekannten Schar sympathischer Wasservögel in höchste Ekstase. UND DAAAA- AAAAAA, SEEEEEEHT NUR, DAAAAAAAAAAAA, DIE VORNE RECHTS WATSCHELT GERADE ZUR PFÜTZE, HAT WOHL VOLL DURST!!!!!!!!!!
Mütterlich legte Gräfin Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg behut-sam beide Hände auf die bebenden Schultern der innerlich Aufgewallten. „Das sind übrigens Kanada-Gänse, Spätzelchen. Und so wie wir gerade frisch gestärkt vom pétit dejeuner kom-men, nutzen sie jetzt ebenfalls den Morgen zum ausgiebigen Frühstück. Was uns wiederum beweist: Mensch und Tier verbinden teilweise identische Angewohnheiten.“
„Mensch, Constanze, ja, natürlich!“ Kollegin Yvette klatschte sich leicht ans eigene Stirnchen. „Jetzt wo du’s sagst! Von dem Standpunkt aus habe ich das ehrlich gesagt nie betrachtet!“
„Weshalb auch“, fuhr ihre Dienstherrin fort, „Paul Scheerbart an irgendeiner Stelle vom Men-schentier spricht. Deutsch, Jahrgangsstufe 11, doch soooooooo weit seid ihr Purzelhäschen in der Quarta noch nicht. Bloß fragt mich bitte nicht wo. Heinrich Heine lag mir mir als Oberstu-fenschülerin mehr.“
Sylvies Wissendurst war geweckt. „Du, sag mal, Bernhardette…warum heißen Kanada-Gänse eigntlich Kanada-Gänse? Sind das Zugvögel, die im Winter von Kanada hierher flattern, weil wärmere Temperaturen herrschen?“ Bei aufkommenden Fragen jeweils passende Auskünfte parat habend blickte Hanau-Münzebergs wandelndes Lexikon mitteilungsbegierig in vor Neu-gier glänzende Augen. „In der Tat, kleines Amselinchen, ist ihre ursprüngliche Heimat Kanada. Nur würden Gänse wohl kaum Transatlantikflüge von Nordamerika nach Europa überstehen. Vielmehr gelangten sie im 17. Jahrhundert als Ziervögel auf unseren Kontinent. Einige Kluge büchsten dann vermutlich aus, das Resultat futtert gerade genüsslich.“ Philippsruhs Hofzofen staunten Bauklötzchen. „Nur meine ältester Einfaltspinsel, Alessa Marie, wähnt sich bis heute ernsthaft irgendwo in Kanada, sobald sie solchen Exemplaren begegnet. Doch reden wir lie-ber von Angenehmerem.“
Die eingewanderten Kanadier zurücklassend setzte das Damengrüppchen seinen soeben be-gonnen traditionellen Morgenspaziergang fort und erreichte nach wenigen Schritten die eiser- ne Anlegestelle. Den turmfirsurenbeschwerten Schädel zum Takt Asphalt tretender Fußbewe- gungen abwehrend aufs Ufer gegenüber gerichtet, adlige Ärmchen demonstrativ verschränkt, verharrte Graf Dennis Kevins Jugendliebe zunächst längere Zeit in aussagekräftiger Körper-haltung. Dann rief sie, zehn Finger am Mund zum Lautsprecher geformt, dem anderen Staat unüberhörber herüber:
„Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.“
„Nachtgedanken. Strophe 1. Der Mann war ein Seher. Ein Visionär.“
„Heine?“, fragte Yvette.
„Heine. Nichts passt derzeit besser ins düstere Zeitgeschehen. Düster wie dieser November- morgen.“
„Du meinst, Lockdown 2?“
Erfasst. Und genau zu DEM brandheißen Thema führen wir jetzt wieder eine Pro&Contra-De-batte durch, in welcher ihr eure über jene Unterrichtsmethode bislang erworbenen argumen-tativen Kompetenzen verbessern sollt. Achtung, Arbeitsauftrag! Diskutiert folgende Frage: Ist Lockdown 2 mit Lockdown 1 vergleichbar? Veronique, du fängst an!
„Ich wehre mich allein schon gegen den Begriff. Wir haben einen sogenannten Lockdown light. Außerdem dauert er eh nur vier Wochen. Die Bundeskanzlerin erklärte dazu: Wenn wir im No-vember alle sehr vernünftig sind, dann werden wir uns mehr Freiheiten zu Weihnachten er-lauben können. Darum geht’s.
„Eyyy, Süße, wovon träumst du eigentlich nachts?“, hielt Sylvie dagegen. Glaubst du doch wohl selbst nicht! Wird hundertpro verlängert, ich schwör!!!!! Was in ihrem Satz Es wird ein Weih-nachten unter Corona-Bedingungen sein, aber es soll kein Weihnachten in Einsamkeit sein. anklingt Vergiss die Feiertage wie wie letztes Jahr. Das wird richtig hart.“
Desinteressiert daran, sich an jener soeben wieder zur spontanen Unterrichtsstunde umfunk- tionierten Spazierrunde argumentativ einzubringen, gab Träumerin Chantal lieber allzu gerne quakenden Ablenkungen nach, um angesichts abermalig anbrandender Gefühlswallungen wie vorhin verklärten Körperschwankungen zu unterliegen; verstärkt durch den unterhalb schau-kelnden Schiffsanleger, welchen die Klasse inzwischen nacheinander vorsichtig betreten hat-te. „OH, MEIN GOTT, OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOOOOOOOOOOOTT!!!!! SCHAUT MAL, DIE SÜS-SEN ENTCHEN SCHWIMMEN WIEDER AUF DEM MAIN!!!!!“
Während rettendes Geländer wahrlich rechtzeitig Schlimmeres verhinderte, hob Mitschülerin Yvette ungestüm den Meldefinger, wollte unbedingt aufgerufen werden. „Ja, Yvette?“, nahm sie die Lehrerin umgehend dran. „Die sind bestimmt mit dem leckeren Frühstück fertig und dre-hen jetzt ihre gemütliche Runde. So wie wir gerade. Was uns eindeutig beweist, dass Mensch und Tier viele Angewohnheiten verbinden. Weshalb Paul Scheerbart an einer Stelle auch vom Menschentier spricht.“ Überwältigt vom pädagogischen Erfolg rief Frau von Hanau-Münzen-berg: „Das ist ja priiiiiiiiiima, Schneewittchen! Du hast echt super aufgepasst! Dafür bekommst du von mir eine 1+! Deiner Versetzung in die Untertertia nächsten Sommer steht breits heute nichts im Wege! Um übergangslos mit ungeduldiger Miene jene orangene Fahrrinnemarkie-rung zu taxieren; als ob mainaufwärts Wichtigeres anstände.
Hierbei offenkundig erfolglos drehte sich Schloss Philippsruhs wahre Chefin bald darauf wie-der um, wollte daher allem Anschein nach ihr Glück wiederholt mainabwärts probieren.
„Da stecken bestimmt die Deutschen dahinter!“, blaffte Bernhardette Constanze Amalia zum durch die Flussgrenze von ihnen getrennten Nachbarstaat rüber. „So wie sie uns Lockdown 2 eingebrockt haben!“
„Lockdown light!!!“, verbesserte Quartanerin Veronique, ihre aufgebrachte Pädagogin von der Pontonvorrichtung fortziehend. „Außerdem sind wir vom Thema abgekommen!“
Kaum auf dem Uferweg, machte diese sich jedoch bockig wie Kinder im Trotzalter los, den wi-derspenstigen Körper zurück zum Anleger drehend. „Nur damit man drüben Bescheid weiß“, krakehlte es, „wenn’s mir zu dumm wird, montieren wir den aufs Neue ab und machen sämt-liche Grenzen dicht. Kennt ihr ja vom März. Ende der Durchsage!“
Alsdann kassierte die Siebtklässlerin vor dem Klassenverband eine saftige Ermahnung. „Nun zu dir, Rosenrot!!! Was fällt dir überhaupt ein, mich mitten im Gespräch mit den Deutschen zu unterbrechen? Von dir hätte ich ehrlich gesagt mehr erwartet. Gut, dass meine Alessa Marie fest an Lockdown light glaubt, ist aufgrund chronischer Einfältigkeit nichts Außergewöhnli-ches. Macht mit Kursfreundinnen einen auf mega cool, verbringt die Zeit im Jagdschloss Wolf-gang. Als wär’s Urlaub inclusive Onlineunterricht. Die Madames werden sich umgucken, wenn Deutschlands Bund-Länder-Konferenz verlängert. Und die arme Grafschaft Hanau-Münzen-berg zieht notgedrungen mit. Ob’s Herrn Dennis Kevin passt oder nicht. Und damit wir uns beide ganz klar verstehen, beim näch…“
„Öhm…Amalia“, versuchte Schülerin Sylvie per mutigem Zwischenruf aufgebrauste Wogen ei-nes aus dem Ruder laufenden Streitgesprächs zu glätten, „ich schaue grade zufällig hoch, und dabei fällt mir erneut auf, dass dort weiterhin ‚Philippsruhe‘ steht. Obwohl dein Mann und du immer ‚Philippsruh‘ sagt. Gibt’s da eine Erklärung für?“
„Zuckiputzi und ich übernehmen ausschließlich Erzählungen meiner Mutter. Sie ist der An-sicht, ‚Philippsruh‘ sei korrekt. Als auswärtige Grundschullehrerin in Steinheim hat sie natür-lich Recht. Drum heißt es in hiesiger Amtssprache ‚Philippsruh‘. Und nicht ‚Philippsruhe‘. Der Architekt war zu hundert Prozent Baden-Württemberger, dachte daher automatisch an Karls-ruhe. Tja, kommt davon, wenn Hessen fremdes Personal anheuern. Nachher hat man den Sa-lat. Scheint damals gar keinem aufgefallen zu sein. Seit 2018 will Dennis Kevin das E wegmei- ßeln lassen, doch dauernd was anderes. Dazu jetzt pandemische Verhältnisse.“
OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, SCHAUT, DIE SÜSSEN GÄNSCHEN SIND IMMER NOCH DA!!!!!!!!!, kulminierten Chantals gefühlsmäßige Anwandlungen im dritten Schub über-bordender Überschwänglichkeit.
Derart geballte Schärmerei steckte an. „JAAAAAA, DU HAST RECHT!!!!!“, tutete Sylvie ins selbe Rohr. „OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT!!!!! RUND UM PHILLIPPSRUH IST ALLES STÄNDIG SO AUFREGEND, SO, SO, SO SENSATIONELL!!!!! ERST DER BLICK ÜBER DIE FONTÄNE ZUR ALLEE!!!!! DIE GLOCKEN!!!!! UND DANN BEGRÜSSEN UNS GEFIEDERTE ZEITGENOSSEN!!!!! WIR HABEN’S HIER BEI HOFE SOOOOOOOO GUT GETROFFEN!!!!! OH, WIE WARD UNS FORTUNA HOLD!!!!! OH, HELFT MIR, FREUNDINNEN…ICH…ICH…ICH…ICH…STERBE VOR PUREM GLÜCK!!!!!“ Dann landete die torkelnd rückwärts zu kippen Drohende in intervenierenden weiblichen gräf-lichen Armen, deren Kräfte gottlob größeres Unglück verhinderten.
„Mal eine andere Sache.“ Die Gerettete, flugs wieder wohlauf, kicherte im Weitergehen. „Echt kein Witz, dass Alessa Marie beim Anblick von Kanada-Gänsen glaubt, sich in Kanada zu be-finden?“
Ihre vorneweg wandernde Klassenlehrerin ächzte unter privaten Sorgen. „Gott, Schneeweiß-chen, erinnere mich bloß nicht dran! Bienchen ist dermaßen einfältig. Lud sogar auf ihrer heiß geliebten Mädchenseite Beweisfotos hoch. Prahlte in der Bildergalerie mit unerschöpflicher Dummheit. Dumm wie Bohnenstroh. Und halt dich fest, dafür gab’s Likes und tolle Kommen-tare – während Papa und Mama fürs tägliche Brot hart malochten. Zum Glück verbannten die Seitenbetreiber diese Galerie bei irgend’nem Relaunch Ende 2016!“
Drauf und dran sich parallel zur schlendernden Gangart die aufwendige coiffure tour manuell zu zerraufen, wetterte Hanau-Münzenbergs tonangebende Modegräfin sowie nebenberufliche Initiatorin von Lernprozessen: „Und so was will 2021 Abitur machen! Wobei sie wegen Corona jedem die Zeugnisse mit Handkuss nachwerfen werden. Egal: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht aufs Maul. Jedenfalls müssen wir Bienchen nach bestandenem Abi unbedingt sinn-voll mit dem erstbesten einträglichen Posten versorgen. Damit sie nicht noch dümmere Ideen ereilen! Und deswegen trägt die Grafschaft Hanau-Münzenberg den am 28. Oktober 2020 von der Berliner Bund-Länder-Konferenz beschlossenen zweiten Lockdown mit. Gewollt oder un-gewollt.“
„Kurze Zwischenfrage. Was hat denn die Marquise mit dieser Entscheidung zu tun???“, rätsel-te Quasi-Untertertianerin Yvette fieberhaft.
„Nun, ihr wisst es doch selbst, ihr wieselnden Wieselchen. Abiturszeit gleich Abipartyzeit. Me-moriert ihr jene brisante Problematik, die ich euch neulich näherbrachte?“
„Das mit den Oberstufenschülern?“
„Genau das, Chantal, Haselmäuschen. Was denkst du, machen Abiturienten gerade?“
„Ähm, schon fürs Abi lernen?“
„Auch. Doch überleg weiter. Natürlich erarbeiten Planungsgruppen derzeit Vorschläge, wie Co-ronafrustrierte in partyfeindlichen Zeiten trotzdem abfeiern können. Die umklammern jeden sich bietenden Strohhalm. Jeden. Und jetzt zähl bis zwei.“
„Ach sooo, falls nächstes Frühjahr weiterhin bundesweiter Lockdown herrscht, dann einfach rüber über die Grenze, weil dein Mann es verlockend locker sieht.“
„Oui! Exactement, ma chère! Hatte ich euch vom drohenden Super GAU erzählt?“
„Nein. Das wäre?“
„Unser herrschaftliches Residenzschloss geriete in größte Gefahr. Die sind doch alle betrun-ken. Im Suff versuchen bald erste Wagemutige die Stützmauer zu erklimmen, anstatt zwei si-chere Aufwege zu nutzen. Schnappen Gitter, welche während der weltweiten Grenzschließun- gen den abmontierten Schiffsanleger umzäunten. Lehnen sie an. Klettern hoch oder machen Räuberleiter, purzeln hackevoll reihenweise zu Boden. Erfolgreichere johlen am Geländer, ani-mieren unten Zögernde zur Nachahmung, spornen Runtergeknallte zum Wiederholungsver- such an. Szenen wie 1989 am Brandenburger Tor. Besoffene Geschichtsprüflinge gröhlen: Die Mauer muss weg!!!!! Inszenieren gar den Sturm auf den Winterpalast aus Sergeji Eisensteins Film Oktober, versuchen als Bolschewiki unter Lenin! Lenin! Rufen einzudringen. Damit nicht genug. Alles latscht mit Bier, Sekt, Wein und Wodka bewaffnet durchs gepflegte Areal. Tags-drauf bewundert ihr Müllhaldengebirge. Bääääääääääähhhhhhh, und überall an Büschen und Bäumen widerliche Ersatztoiletten!!!!! Iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiihhhhhhhhhh!!!!!“
„Vollkommen einleuchtend! Oh, wie gescheit du bist, Constanze! Dir macht keiner was vor! Du bist echt die beste Lehrerin auf der ganzen Welt!“, fasste Yvette die Ausführungen der Schul-exkursionsleiterin zusammen. „Jenseits des Mains könnten sich das Abgänger niemals erlau- ben. Aber hier – wenn Dennis Kevin alles normal laufen ließe. Jawlonskjis Hanauer Bataillon wäre absolut hilflos überfordert. Weiter entlang des Mains bis Dörnigheim, auf dem verödeten Langenselbolder Flugplatzrasen oder sonstwo würde es genauso heftig abgehen. Darf ich dei-nen Regenschirm tragen, Stanze?“
Zuvor von Erwachsenenohren ungehört untereinander Schleimerin! und Selber Schleimerin! zickend allesamt an den Spielplätzen angelangt, unternahm Pennälerin Veronique dort Anläu- fe, ein im Eifer des Gefechts versandetes Streitgespäch neu anzukurbeln. „Also, ich sehe das mit dem jetzigen Lockdown weiterhin unproblematisch. Lest dieses Hinweisschild: Im Vergleich: Bernhardettes Foto vom März.“
Circa zwanzig Meter weiter baute das Schulmädchen im Angesicht zum kindlichen Zeitver-treib einladender Abenteuergeräte seine Position aus. „Immerhin dürfen Kinder heute an der frischen Luft ausgelassen spielen und nach Herzenslust toben. Keine fürchterlichen Verbots-schilder, keine deprimierenden Absperrbänder.“
„Lasst uns zum Main zurückgehen und dann die Rampe rauf, oder über die Treppe, den Weg an der Orangerie vorbei haben wir erst gestern genommen“, schlug Bernhardette Constanze Amalias untertänige Regenschirmträgerin alternative Routenverläufe vor. Allgemeine Zustim-mung. Vorher jedoch setzte Veronique, dem Holzpielplatz unverändert zugewandt, begonne-nes Pro-Plädoyer fort.
„Klar dass Berlin drastische Maßnahmen relativ kurzfristig bereits für den 02. November, gül-tig bis zum 30. November, beschloss. 19059 Neinfektionen am 31. Oktober, die 7-Tage-Inzi-denz auf 110,9 gestiegen. Wahnsinn! Ihr erinnert euch? Frau Merkels düstere Prognosen la-gen bei 20000 für Ende Dezember! Angesichts solch dramatischer Entwicklungen drohte die gesamte Lage zu esklalieren. Um mit der Bundeskanzlerin zu sprechen: Wir müssen handeln. Und zwar jetzt! Das hatte wohl selbst Thüringen eingesehen. Denn alle wissen: Die Pandemie-eindämmung besitzt derzeit oberste Priorität.
Ich gebe zu, es gelten sehr strenge vierwöchige Kontaktbeschränkungen. Gastronomie, Kinos, Theater, Opern-, Konzerthäuser sowie andere Freizeiteinrichtungen machten zu. Schulen und Kitas hingegen bleiben verlässlich geöffnet. Ebenso bedienen Friseure, Groß- und Einzelhan-delsgeschäft. All das erfolgt selbstverständlich unter entsprechenden Hygiene- und anderen erforderlichen Schutzmaßnahmen. Und GENAU DARIN liegen meiner Meinung nach gewaltige Unterschiede zum Frühjahr. Deshalb nennt man ihn ja auch Lockdown light. Eine gemeinsa- me, zeitlich überschaubare, befristete Kraftanstrengung zur Vermeidung eines Kollaps des Gesundheitssystems. Das Ziel, unter 50 Neuinfektionen pro 100000 Einwohner in einer Wo-che, schaffen wir locker! Vier Wochen lang Kontakte zu anderen Personen auf ein absolut nö-tiges Minimum reduziert. Maximal zehn Personen des eigenen plus eines weiteren Hausstan- des draußen in der Öffentlichkeit. Allgemeiner Appell zum Verzicht auf Privatreisen, Privatbe- suche und überregionale Tagesauslüge. Das ist wirklich nicht zuviel verlangt. Dabei fällt dir kein Stein aus der Krone. Schließlich haben wir nur noch elf Tagen zu überstehen. So lange geht’s genauso gut mit Essenslieferan…“
„HA!!!!! ENDLICH!!!!! DA KOMMT EINS!!!!!“, unterbrachen der Paukerin wilde Freudensschreie die Rednerin. Obgleich SIE es war, welche ihre Schutzbefohlenen unermüdlich dazu anhielt, Gesprächsteilnehmer im Unterricht fein aussprechen zu lassen. Ausblicke auf fette Beute wo-gen anscheinend mehr als pädagogisch wertvolle Worte.
„Hey, cool!“, lachte Yvette. „Amalias App kommt zum Einsatz!“
„So ein Mist!!!“. Die Stimme der Smartphonebesitzerin zeugte von Pessimismus. „An dem ver-dienen wir heute nichts. Fährt m i l l i m e t e r g e n a u auf der Grenzlinie. TOLL! Wofür teure Funktionen zur Schiffsüberwachung anschaffen, wenn kaum jemand falsch navigiert?“
Chantal überlegte: „Hm, vielleicht hatte er uns ja bemerkt, ahnte anhand der historischen Klei-dung gleich Böses und lenkte rechtzeitg gegen. So wie wachsame Autofahrer von weitem Ra-darfallen erkennen. Mode um 1780 wirkt halt im 21. Jahrhundert ziemlich auffällig.“
„Ooooder“, fügte Sylvie hinzu, „es hat sich bei den Kapitänen herumgesprochen, dass wir un-sere morgentlichen Spaziergänge unter anderem am Main entlang machen. Sind daher vor-sichtig, damit’s nachher kein teurer Spaß wird. So wie sich Autofahrer per Lichtsignal recht-zeitig vor Radarfallen warnen.“
„Egal!!!!!“, erklärte die gescheiterte Piratin pampig, nachdem das Schiff außer Sichtweite war. „Wird schon noch, nur die Ruhe. Wir warten hier ganz einfach, bis der nächste Kahn anschip-pert. Derweil ordere ich Maler, damit sie den Grenzstein da frisch überstreichen. Der hat’s ja wirklich bitter nötig. Steht schließlich bei Wind und Wetter rum.“
Quartanermädchen Veronique hob daraufhin eifrig den rechten Arm gaaaaaannnnz weit nach oben, so weit es ging. Stützte ihn sogar mit dem linken, verdeutlichte über begleitende Mimik zusätzlich, dass sie von ihrer Lehrerin JETZT unbedingt drangenommen werden wollte. „Ja, Veronique?“, erklang umgehend erlösendes Aufrufen. „Äääähm…du…Constanze…ich kann aber nicht mehr lange warten. Ich hab’s nämlich allmählich genauso dringend nötig. Können wir bitte zum Schloss zurückgehen? Ich muss unbedingt auf die Toilette!“
„Aber selbstverständlich!“, antwortete Frau Studienrätin verständnisvoll. „Morgen ist schließ-lich auch noch ein Tag. Da kassieren wir richtig ab!“ Sprach’s und klatschte zum Aufbruch.
Während sie die Müssende solidarisch begleiteten, nutzte Yvette, gleichermaßen Contra-An-hängerin durch und durch, sich bietende Redechancen zur Zementierung des vorhin seitens Fraktionskollegin Sylvie vertetenen Standpunkts. Dabei wie alle anderen drei, angeleitet von einer sachte vorneweg trippelnden, mal nach unten, mal geradeaus lugenden, dabei unab-lässig Passt bitte auf, ihr schnurrenden Kätzchen, heute früh hat’s arg geregnet! mahnenden Fährtenleserin, durch Hochziehen des Kleides und Mantels erfolgreich darum bemüht, wenn zwar sämtliche Sohlen und Absätze längst erbärmliche Anblicke boten, elegantes Stoffequip- ment auf durchnässten Parkwegen mit möglichst geringen Mengen Matsch und Pfützenwas- ser in Kontakt zu bringen.
„Um nochmal auf den sogenannten Lockdown light zurückzukommen“, begann die Abgeord-nete selbstbewusst, „wundere ich mich doch sehr über derart viele mit ihm verbundenen Ein-schränkungen. Du liegst natürlich richtig, Süße, einiges ist nicht mehr so streng wie im ersten. Friseure etwa dürfen weitehin bedienen.“
„‚Coiffeur‘, mein pechschwarz gelocktes allerlieblichstes Schneewittchen!!!!!“, funkte die Wis-sensvermittlerin gewählten Ausdrucksstil verbessernd dazwischen. „À la cour sagt man doch ‚Coiffeur‘! Auch wenn wir in intimer Runde babbeln wie uns der Schnabel gewachsen ist. Den-noch. Sich dabei ganz dem gemeinen Volk auf den Gassen anbiedern möchten wir uns beim Parlieren selbstverständlich nicht. ‚Coiffeur‘, heißt das! ‚Coiffeur‘! Fürs nächste Mal!“
„Oh, bitte, verzeih Bernhardette!!!!!“, erwiderte Yvette einsichtig. „Ist mir einfach rausgerutscht. Kommt NIE wieder vor. Verspochen! Ich wollte damit ja auch nur andeuten, dass mich dieses Getue äußerst skeptisch macht. Insgesamt betrachtet gelange ich nämlich beim Betrachten des Maßnahmenkataloges zum Fazit, dass Deutschland letztlich einen totalen Stillstand na-mens light aufgebrummt bekam. Klingt vornehmer. Bedenkt, es sind nicht bloß Theater oder Opernhäuser, nein, Kinos, Fitnesssudios, Bars, Clubs, Discos Kneipen, Kosmetikstudios sowie andere Dienstleistungsbetriebe im Körperpflegebereich, alles dicht! Ferner der Sport. Bis auf individuelle Betägigung allein läuft nix mehr. Freizeit- und Amateursport? Eingestellt! Fußball-fans können Gott danken, Bundesliga läuft ohne Zuschauer im Stadion weiter. Jetzt frage ich dich ernsthaft, Süße: Wo ist bitteschön DA noch ein großer Unterschied zu Lockdown 1? Viel-mehr beschleicht mich schwer der Verdacht, jene Begriffswahl soll den Deutschen drüben ei-nen baldigen richtigen Lockdown 2 schmackhaft machen. So als eine Art versüßendes Billet. Halt damit die Mensch…“
„Meine Güte…Schneewittchen!!!!!“ Frau Lehrmeisterin brach vor lauter Rührung in Tränen aus. „Mon dieu, wie standesgemäß adäquat du dich ausdrückst!!!!! Oui!!!!! ‚Billet‘!!!!! Nicht wie unge-bildete Paysans ‚Eintrittskarte‘. Oder schlimmer: ‚Ticket‘. Das ist ja suuuuuuuuper!!!!! Das nen-ne ich authentisches höfisches Gebabbel!!!!! Dafür gibt’s gleich eine 1+ ins Notenbuch!!!!!! Mit vier Sternchen!!!!! Und du überspringst die nächste Klasse, besuchst direkt die Obertertia!!!!! Weiter so, weiter so!!!!!“
„Sorry, Rosenrot, jetzt mal ganz sachlich unter Mädels. Selbst meine böse Stiefmutter glaubt dir kein Wort. Eher beißt sie freiwillig in die giftige Apfelseite, ich schwör!!!!! Sag, Schätzchen, wusstest du, dass der interne Name besagter Einschränkungen Wellenbrecher-Shutdown lau-tet? Nein, wusstest du nicht! Ansonsten würdest du dich nämlich unter Garantie Sylvies und meiner Meinung anschließen. Wellenbrecher-Shutdown!!!!! Hier geht’s um keine moderaten Töne. Man will vielmehr der zweiten Welle verzweifelt Widerstand leisten. Dämmert dir was? Genau dazu passt jene von Sylvie treffend erkannte auffällige Vielzahl angeordneter Restrik-tionen. Ich ergänze. Messeveranstaltungen, Spielhallen, Casinos, Wettbüros. Inländische Über-nachtungsangebote verboten, ausgenommen für notwendige Zwecke. Und weil es nicht reicht: Schwimm- und Spaßbäder, Saunen, Thermen. Daaaaas soll ein Lockdown light sein? Deshalb: Schließ dich unserer Überzeugung. Wirst ja sehen Ende November! Und die Grafschaft Hanau-Münzenberg ist genötigt, mitzuspielen!“
Schloss Philippsruhs rückwärts gelegene Fassade erschien. Chantal, bei Pro&Contra stets auf Ausgleich bedacht, stoppte kurz, versuchte auch dieses Mal, zwei unversöhnlich aufeinander- prallende Ansichten gemeinsamen Lösungen zuzuführen. Einigungen, welche Ansichten bei-der Parteien paritätisch verbanden, sodass Kontrahentinnen weder als Gewinnerinnen noch als Verliererinnen daraus hervorgingen. „Hört mal, wie wär’s, wenn wir ganz einfach das Wet-ter als übergeordnete Instanz entscheiden lassen?“, schlug die neutrale Schiedsrichterin, vor-witzig an Bernhardette Constanze Amalia von Hanau-Münzenberg vorbeigehuscht, zum nahen Zentrum neo-absolutistischer Grafenmacht schauend vor.
„Hä? Das Wetter?“, spendete Quasi-Obertertianerin Yvette verhaltenden Applaus.
„Warum denn nicht? Wir machen’s wie Wetterfrösche. Verzieht sich das Wolkengrau, bleibt’s beim Lockdown light. Bleibt’s hingegen trist, blüht den Deutschen und Hanau-Münzenbergern Lockdown 2. Einverstanden?“
„Wettervorhersage wie Wetterfrösche? Quaak, Quaak! Quaak! Quaak! Alles klar, Süße!“, unkte Sylvie.
„Ähm, könnten wir vielleicht bitte weitergehen?“, bat Veronique. Liebevoll hakten Chantal und Yvette sich bei ihrer Schulkameradin ein, Chantal links, Yvette rechts, wollten auf den letzten Metern zum Gebäude gehörig Mut machen.“Ganz im Ernst, Mädels. Ob Lockdown light, Lock-down 2, tse, meinetwegen auch gar keiner, ist mir ehrlich gesagt eigentlich piepegal! Ich muss voll aufs Klo! Und das einzige, was in diesen außergewöhnlichen Zeiten zählt, ist beim Aufsu-chen des WC-Raums die beruhigende Gewissheit, wirklich bedenkenlos zum Toilettenpapier greifen zu können. Bin ja immer noch geschockt von der Klopapierkrise, die im März herein-brach.“
Endlich lag das herbeigesehnte Seitenportal vor ihr.
„Ey, gibt’s ja gar nicht!“, staunte die Klassenbeste ungläubig, prompt nachdem Diener die Tür hinter Rosenrot geschlossen hatten. „Der Himmel klart auf!“
Chantal, eben noch als Naivchen belächelt, grinste triumphierend. „Siehste, Süße, der Wetter-frosch ist gerade voll aktiv. Gleich verkündet Quaki das Ergebnis. Entweder wird’s schön oder es zieht sich wieder zu. Aaaaalso, momentan stehen alle Möglichkeiten offen.“
„Ok, Veronique, liegt richtig. Lockdown light, ganz eindeutig“, kommentierte Sylvie das aktuelle Geschehen am Firmament.
Flott fegte Yvette zum diskretionshalber mit undurchsichtigem Milchglas eingefassten Fens-ter, erpicht darauf, neuesten metereologischen Klatsch und Tratsch brühwarm aufzutischen. „Biste da, Süße?“
„Yooooooo!!!!!“, hallte es dumpf zurück.
„Wette gewonnen! Lockdown light! Glückwunsch! Keine Krise, kannst Klopapier abreißen, wie-viel du willst!“
„Suuuuuuuupiiiii!!!!!“
„Oh, mein Gott, sag ihr, bloß nicht!“, kommandierte Sylvie retour. „Sie muss unbedingt haus-halten! Oh, mein Gott! Das schöne Blau! Als wär’s nie gewesen!“
Flott fegte Yvette zum diskretionshalber mit undurchsichtigem Milchglas eingefassten Fens-ter, erpicht darauf, neuesten metereologischen Tratsch und Klatsch brühwarm aufzutischen. „Biste noch da, Süße?“
„Yooooooooo, brauche ewig!!!!“, hallte es dumpf zurück.
„Ok, supi! Hör gut zu, Süße, musst dir’s dann unbedingt sparsam einteilen! Dieser bescheuerte Frosch hat sich’s gerade anders überlegt! Lockdown 2! Denk dran. Nur das nötigste. Ökono-misch abreißen!“
„Boaah…neeeeeeee, ey!!!!!“
„Kiiiiiiiinnnnndeeer! Kommt bitte alle mal heeeeer zu mir!“ Chantal, Sylvie und Yvette wetzten. „Hört jetzt guuuuuut zu, ihr flinken Gazellen! Was das ausgiebige Verweilen auf dem gewissen Örtchen anbelangt…seid wirklich unbesorgt! Sie konnten uns nur deshalb treffen, weil Schloss Philippsruh wehrlos war. Unvorbereitet. Da zahlte die Grafschaft Hanau-Münzenberg bitteres Lehrgeld. Nach Lockdownende orderte Zuckiputzi umgehend Vorräte en masse. Das Karussell ist bis oben hin vollgestopft. Womit wir diesen dämlichen Gäulen mächtig eins ausgewischten. Hahahaha, sind die wütend, vagabundieren notgedrungen kreuz und quer herum, klingeln um Quartier. Geschieht denen recht!!!!! Nur, weil die Hanauer sie lieben und verehren, ja, Leute sich sogar teils vor Haustüren prügeln, weil jeder beherbergen möchte, unfassbar, glaubt das Pack, sich Dennis Kevin und mir gegenüber alles rausnehmen zu können! Spielen sich als Ha-naus Staranwälte für Recht und Freiheit auf. Pah! Schnüffler sind das! Wollen uns was anhän-gen, damit wir hurtig Leine ziehen. Unverschämtheit! Zurück zum Thema. Glaubt mir. Es ist so wie ich euch schon im Oktober beruhigte. Für den Fall der Fälle wird immer ausreichend Ma-terial zur Verfügung stehen. Selbst der linientreue Radiosender musste ihre Niederlage ein-räumen, vermeldete kleinlaut, dass diesmal keine Klopapierkrise existiert – weder hier noch im Bundesgebiet. Berlin schäumt vor Wut. Ihr dagegen könnt seelenruhig schlafen, ohne euch eure hübschen Köpfchen darüber zerbrechen zu müssen.“
Drei Quartanerinnen hielten freudestrahlend Händchen. Welche Besorgnis nahm Lieblingsleh-rein Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg von ihnen. Der Märzalb-traum! Niemals würde er wiederkehren! Niemals! Flott fegte Yvette los.
Sichtlich erleichtert stieß Veronique wieder zum Klassenverband hinzu. Angesichts des Um-stands, dass es noch relativ früh war, Joseph Haydns Streichquartett in d-Moll Opus 42, kom-poniert 1785, erst um 11 Uhr auf dem Programm stand, vorgetragen von maskierten Musi-kern, setzten sie den Weg noch ein paar Minütchen fort.
Vor sieben Monaten hätten sie es fast geschafft, Berlin, Brüssel, Washington – und wer sonst noch zur Zeit alles mitmischt!“, tönte Frau Lehrerins Zornesstimme hinüber zu gegenüber lie-genden Parkbäumen. „Zuckipzutzi dachte kurzzeitig daran, auf Schloss Philippsruh die weiße Fahne zu hissen…politische Gespräche anzubieten…Konzessionen zu machen. Ihr wisst, kaum ein LKW passierte unsere Staatsgrenze mit kostbarem Ladegut. Unverrichteter Dinge, Achsel zuckend, betreten erstatten Brummifahrer Bericht. Lieferketten gekappt. Die Deutschen hat-ten das Wenige rechtzeitig für eigene Supermärkte beiseite geschafft. So zumindest offiziell. HAAAA!!!!! Ihr in Deutschland wollt mich wohl für dumm verkaufen!!!!! Gesteht: Anweisungen von ganz oben!!!! Unsere Rettung war, dass deren Strategen Taktikänderungen vornahmen, primär auf finanzielle Schläge abzielten. Klopapierrollen gab’s irgendwann wieder genug. Der weltweite Tourismus lag allerdings auf unabsehbare Zeit in tausend Scherben. Über Agenten hatte man gewiss Wind davon bekommen, was wir in Langenselbold Großes vorhaben.“
„Du meinst, das mit dem gefloppten Flugafenausbau?“, mutmaßte Chantal. „Ich weiß nicht, mir erscheint das zu konstruiert. Spionage? Und du bist dir sicher, nicht der Querdenkerbewegung anzugehören? Sei ehrlich, insgeheim bist du Querdenkerin! Überführt! Gib’s zu, Constanze!“
„Wenn’s bloß so wäre, Dornröschen!“, keuchte diese, zückte, wie gerne unterwegs, jenes uner-hört kostspielige Smartphone, stürmisch umringt von aufmerksamen Mittelstufenschülerin-nen. „Ach, flauschige Angorakaninchen, anscheinend bringen irische Nonnen im Klosterinter- nat mehr Beten als Betriebswirtschaft bei. Ihr dürft das Bauprojekt keinesfalls isoliert anse-hen. Nach feierlichem Startschuss fuhr wir in unserer achtspännigen Karosse nach Langen-selbold hinein, um dort den zum prachtvollen Luxushotel umgebauten rechten Schlossteil ein-zuweihen. Der linke Trakt sollte 2021 fertiggestellt sein Hier, das war auf dem Weg zur an-schließenden Champagnerparty. Kaiserwetter. Besser ging’s nicht. Hanau-Münzebergs Roi du Soleil. Vier in verschwenderischem Rokokostil eingerichtete Präsidentsuiten. Klangvolle Na-men: ‚Louis XV.‘, ‚Casanova‘, ‚Pompadour‘, ‚Tiepolo‘. Preis pro Nacht diskretes Schweigen. Hät-ten unsere Superreichen nicht gewusst, in Langenselbild zu logieren, wäre ihnen Versailles in den Sinn gekommen. Tja, seit März steht’s leer. Warum, wissen wir ja.“
„Oh mein Gott, Amalia, jetzt verstehe ich. Was ihr da für Geld reingesteckt habt!!!!!“, reagierte Sylvie bestürzt. „Investition nennt man so etwas, Schneeweißchen, Investitiooooooooon“, weh-kagte es.“Allein das Gold für Geländer, Duschen und Wasserhähne verschlang Unsummen. Trifft aber auch drüben Nobelabsteigen. Hessischer Hof in Frankfurt, DIE ADRESSE. Ist erst der Anfang. Gebe der Villa Kennedy bis maximal März 2022, dafür braucht’s keine besonderen hellseherischen Fähigkeiten. Gütiger Himmel, und wie viel wir in Luxussegelboote reinbutter-ten!!!!! Erschöpft vom anstrengenden Goldsuchen sollten die Krösusse abends gemächlich auf dem Kinzigsee beim Sundowner entpannen. Ganz da hinten links, erkennt ihr sie? Warten fest vertäut auf bessere Zeiten.“
Da gingen vier unbescholtenen Maiden die Augen auf, und sie erkannten bestürzt die wahren Ausmaße des globalen Katastrophenfalls. „Die haben dem eigenen Volk im Supermarkt Klopa- pier vorenthalten, opfern Frankfurter Topphotels. Nur damit’s offiziell danach aussieht, dass beide Länder gleichermaßen Leidtragende sind. Selbstredend lässt man Deutschland über die eigentlichen Hintergrürnde im Unklaren“, enthüllte Hanau-Münzenbergs Aufklärerin auf dem Schlussspurt.
Harter Tobak für frühere Nonnenschülerinnen.“Letztlich jedoch war jenes WC-Druckmittel le-diglich zweite, eher amüsante Wahl zum Zeitvertreib. Damit’s nebenbei ordentlich was zu la-chen gibt. Aktion Nummer 2 hingegen, weitaus gefährlicher, DIE entscheidet. Obwohl sie uns mit der ersten mürbe geklopft hatten. Ausschließlich besagtem Strategiewechsel verdanken wir unser politisches Überleben. Und alles bloß wegen dieses Gestörten, der einen auf Zu-baráns Franz von Assisi machte. KNALLTÜTE!!!!! Wehe dir, wenn ich dich zwischen die Finger kriege, landest ohne lang zu fackeln im Karussellgewölbe bei Wasser und Brot!!!!! Ein Lettre de Cachet zur Fahndung ging raus.“
„Hier Bernhardette, dein Regenschirm. Ich habe ihn dir tootaaaaaaal gerne getragen!“, machte sich die Prima inter pares bemerkbar. „Darf ich morgen wieder? Biiiiiiiiitteeee!!!!!“ Und mit von Erwachsenenohren ungehört untereinander „Schleimerin!“ und „Selber Schleimerin!“ zickend betrat die 7. Klasse am Morgen des 19. November 2020 das ehrbare Schlossgymnasium.