Bebilderte Enthüllungen aus der wiederbelebten Grafschaft Hanau-Münzenberg, Teil 1

Werfen Sie einen oder mehrere ungeschminkte Blicke hinter die Kulissen des neuen Versailles am Main

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 1 – Die Karussellpsychose

Erzählrunde 1

Erzählrunde 2

Erzählrunde 3

Erzählrunde 4

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 2 Das Blutgold von El Lago

Erzählrunde 1

Geschichtsbücher berichten uns folgende Ereignisse: Als am 13. August 1521 das einst präch-tige Tenochtitlán, Hauptstadt des Aztekenreiches, nach schweren Kämpfen fiel, geriet dessen letzter König Cuauhtémoc auf der Flucht in spanische Gefangenschaft. Anfänglich von Hernan Cortés ehrenvoll behandelt sowie auch weiterhin aztekischer Herrscher genannt, revidierte dieser allerdings bald seine Meinung. Er ließ ihn foltern, um auf diese Weise an Informationen über den Verbleib jener Reichtümer zu gelangen, welche in der Noche Triste, als die Spanier nur knapp entkamen und dabei viele Männer verloren, abhanden gekommen waren.

Erzählrunde 2

Verständlicherweise sann Herr Tuki Tukan nun, kaum dass er sein neues Urwalddomizil un-freiwillig bezogen hatte, nach Mitteln und Wegen, wie man Hanaus grüner Hölle schleunigst entkommen könnte, um die im Ursprungland unzähliger, in hiesigen Obstabteilungen wohl-sortierter Supermärkte feilgebotener Bananen aufgrund überstürzt eingetretener Ereignisse jäh vereitelten Absichten modifiziert wiederaufleben zu lassen. Bis ihm dazu schließlich im Frühjahr 2015, zwölf Monate nach am Frankfurter Flughafen erfolgter Zwangseinreise ins un-bekannte, fremde Hessenland, zur Zeit der herrlich duftenden Fliederblüte, wenige Wochen nachdem El Desperado den ersten hessischen tropischen Regenwaldwinter bibbernd vor Käl-te miterleben durfte, folgende, nicht anders als von den Musen inspiriert zu nennende Idee kam. Hell blitzenden Streicholzfunken nicht unähnlich.

Erzählrunde 3

Zwei Jahre unerträglich harter Wissenschaftsarbeit strichen ins Land. Zwei Jahre knallhartes Feilschen auf Englisch in wildromantisch geführten Chatgesprächen, als ob sich beide beim Candlelight Dinner verliebt anschmachtend direkt gegenübersäßen, um Lieschen als feuriger Latin Lover berechend davon zu überzeugen, seine gedanklich ausgemalten 500$ seien unter jetzt zwar noch schüchtern Anbandelnden, später jedoch Waikikis palmengesäumten weißen Strand eng umschlungen entlanglaufenden frisch Getrauten preislich angemessen. Obwohl aber die nicht minder abgebrühte, im früheren Job wohl Vollblutauktionarin gewesene Verlob-te zu seinem Verdruss ihn sowie aus allen Herren Ländern Mitbietende per zeitgleich eben-falls von Amor bewegten digitalen Sprechblasen geschäftstüchtig gegeneinander ausspielend den Internetauktionspreis immer höher trieb, erschien El Desperado der für letztlich 250.000$ erhaltene Zuschlag, mit welchem er den nun sicherlich vor Wut bebenden Herrscher des Öl-emirates Fata Morgana endgültig in die Wüste schickte, wie Nichts im Vergleich zur verloc-kenden Aussicht, die achtzehnjährige Blume, Cathy, Tracy, Jamie und Stacie anführend, als erste zu ihm kichernd ins Entspannungsvergnügen pur spendende Nass steigen zu sehen. Die nach erfolgreich getätigter Banküberweisung postwendend im Chat erscheinende, mit zwölf roten Herzchen verzierte Nachricht I love you, Touci Pooh, because you are my 007 Tututututu Touci Pooh!, bewies: Er hatte bei der Damenwelt erwartungsgemäß alles richtig gemacht.

Erzählrunde 4

Nachdem Frankfurts Vorfeldbus den ersten großen Schwung Fluggäste ohne unterwegs er-folgte Blechschäden wohlbehalten zur Position gefahren hatte (was beim vielen Verkehr auf der Rollbahn für Menschen ohne Vorfeldführerschein oft wie wahre Wunder anmutet), flatter-te El Deperado missmutig in Richtung der gerade in vollem Gange abgefertigten Maschine, um sich schnellstmöglich auf seinem urgemütlichen Business Class Fensterplatz niederzulassen. El Diablo beschlich nämlich seit Betreten des Gatebereichs jenes ungute Gefühl, das sonnen-hungrige Urlaubsvolk lehne Lateinamerikas fürchterlichsten Gangster als vollwertigen Mitrei-senden ab. Schon vor Boardingbeginn konnte sich Herr Tuki Tukan des üblen Verdachts nicht erwehren, stattdessen vielmehr für einen vom Veranstalter angeheuerten Bordunterhalter ge-halten zu werden.

Erzählrunde 5

Santo Domingo. Aeropuerto Internacional de las Américas. Crew- sowie Maschinenwechsel. Während die meisten Passagiere hier ihr Ziel endlich erreicht hatten, voller Urlaubsfreude den Hinweisen Salida/Exit folgend der Pass- und Zollkontrolle entgegeneilten, orientierten sich circa dreißig verbliebene Weiterflieger an der Bezeichnung Transit, um nach erneutem obliga- torischem Sicherheitscheck Boardingate A2 zu erreichen. Wie bereits in Frankfurt allen weit voraus, durchflog El Desperado die nachts kurz vor halb vier völlig verwaisten Gänge, immer noch mit diesem dumpfen, unerträglichen Gefühl im Bauch, man denke insgeheim von ihm, er sei im Auftrag des Reiseveranstalters als tropisch-exotischer, stets zum heiteren Scherzen aufgelegter Bordbespaßer mit unterwegs.

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 3 - Der
Projektausflug (Aus den gedanklichen Memoiren der Fürstäbtissin von Ilbenstadt)

Erzählrunde 1

Erzählrunde 2

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 4 - Das große Nachspiel zum Projektausflug (Aus den gedanklichen Memoiren der Gräfin von Hanau-Münzenberg)

Erzählrunde 1

Als Bernardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg am 16. Oktober 2019 gegen 09.30 Uhr, ihr brillantbesetztes Smartphone dicht am Ohr, unwirsch vorbei an zwei sich tief verbeugenden Dienern durch die soeben für Ihre Durchlaucht untertänig geöffnete Haupteingangstür von Schloss Philippsruhe hinausmarschierte, ahnte sie, dass dieser Tag, kaum richtig begonnen, bereits unwiderruflich gelaufen war.

Erzählrunde 2

Alessa Marie!“, hörte sich die Gräfin von Hanau-Münzenberg als frühere Frau Kaiser laut ausrufen, während das „Hi, Mami!“ rufende Töchterchen ihr mit zwei für sie jeweils mit dem Notenprädikat 6- ausgezeichneten unangekündigten Physik-Lernkontrollen zur Begrüßung herzlich zuwinkte. „Was musste ich eben gerade wieder von Frau Schmidt am Telefon über dich erfahren? Wieso seid ihr überhaupt schon aus Seligenstadt zurück?“

Alessa Marie schaute erstaunt, wunderte sich wirklich sehr über derart vorwurfsvolle Worte. Warum sollten unschuldig klimpernde Augen irgendwelches Schuldbewusstsein ausdrücken, seit jenem heißen Flirt, den die Dreizehnjährige auf der Rückfahrt mit einem Typen gehabt hatte? Handynummernaustausch inclusive. Längst gehörte da die eigentliche Schulveranstaltung jüngster, lückenlos ausgeblendeter Vergangenheit an.

Schnell musste die vom weiblichen Erziehungsberechtigten barsch Angesprochene allerdings realisieren, dass sie jetzt von aus dieser Zeit stammenden dunklen Schatten unbarmherzig auf der Terrassenrampe eingeholt wurde. „Fräuleinchen! Nur zur Information. In deiner Schule steht das Lehrerzimmer Kopf! Alle sind völlig außer sich über solch grob fahrlässiges Verhalten! Oh, Kind! Wie konntest du es als verantwortungsbewusste Klassensprecherin einem unverschämten Scharlatan und Betrüger gestatten, achtundzwanzig Schüler, zwei Lehrkräfte mit Zweitem Staatsexamen sowie eure neue Referendarin plump übers Ohr zu hauen?“

„Ey, sag mal, was willst du eigentlich von mir??????“, verteidigte sich Trotzköpfchen. „Sind mit dem Zug zurückgefahren. Irgendwelche Tussis aus Aschaffenburg hatten Pascal, Benjamin und Jonathan die Reifen plattgestochen. Außerdem konnten wir doch im Traum nicht ahnen, dass Herr Leier-Kastenmann die Gelegenheit heute gemein ausnutzen würde, um endlich Fräulein Treue-Istweg rumzukriegen. ER hat die ganze Klasse total fies getäuscht und uns um sämtliche hoffnungsfrohen Erwartungen an diesen Projektausflug betrogen. Radeln die zwei einfach davon! Hatten uns soooooooooo sehr auf das Thema ‚Klosterleben im Mittelalter‘ gefreut! Waren echt schon totaaaaaaaaaal gespannt!“

Erzählrunde 3

„Huch!“ Ihre Durchlaucht öffnete weit ihre gedankenversunkenen Augen. Als sei sie über ihre eigenen Worte erschrocken, welche am 10. August 2017 Gelnhausens im prallen Sonnenlicht liegenden Untermarkt aufhorchen ließen. Die Marienkriche im Fokus. Das humpelnde Mädel unerbittlich hinter ich her ziehend. „LOOOS, VORWÄRTS, UNGEZOGENE TOCHTER! ODER WILLST DU ZU SPÄT KOMMEN? AUF, AUF, EIN BISSCHEN BEEILUNG, WENN ICH BITTEN DARF! ALLE ANDEREN SIND BESTIMMT SCHON DA! MACH! DALLI DALLI! TEMPO!“

Erzählrunde 4

„AAAAAAHHH!“ Zehn von Kesselstadts Friedenskirche herüberschwingende Uhrenschläge ris-sen Bernhardette Constanze Amalia ruckartig jäh aus tiefsten Gedanken heraus. Schreck lass nach! Beim Rückblick an jene Ereignisse in Gelnhausen musste des Landesherrn Ehefrau tat-sächlich irgendwann stehend eingenickt sein. Und die Folgen dieses Sekundenschlafes hätten fatal enden können. Doch aufmerksame Hofmamsells vereitelten die Tragödie. Geistesgegen-wärtig herbeigesprungen stemmten sie, Wilhelm Hauffs standhaftem Zinnsoldaten gleichend, mutig ausgestreckte Arme gegen das ansonsten vornüber krachende Turmbauwerk.

„Où…où…où..où…suis-je?“, stotterte la dame du château augenreibend. „Les…les…les bannières sont là?“

Erzählrunde 5

„JETZT SCHLÄGT’S ABER 13!“ Marienkirchens dumpfer dreizehnter Glockenhall katapultierte unausstehlichen Morgenweckern gleichend Bernhardette Constanze Amalia aus süßen Mittel-alterträumen ins Hier und Jetzt zurück. Wahrlich, kein zur Frühschicht lärmendes Weckgerät könnte dermaßen herzlos sein. Ausgerechnet jetzt! Gerade hatte Oberkellnerin Eleonore von Aquitanien das als Beatrix von Burgund und Friedrich Barbarossa gewandete Grafenpaar per Glöckchen um geschätzte Aufmerksamkeit gebeten, den phänomenalen Großmeister, „le plus grand artiste lyrique mondial, le maître Roland de Montpellier lui-même“, angekündigt, ani-mierten südfranzösische Weisen Hanau-Münzenbergs Illusionistin auf dem mit Muschelseide bezogenen Sitzkissen, infolge des Genusses köstlichen Krimsekts leicht beschwipst, zum Mit-klatschen. Verflüchtigt!!! Zerstoben!!! Stattdessen wechselte das Trugbild, hoben unerkärliche, sämtliche physikalischen Schwerkraftgesetze aufhebende Mächte Dennis Kevins strampelnde Holde vom südlichen Kirchplatz empor, über die Westturmspitze hinaus in Gelnhausens Lüfte.

Erzählrunde 6

„Die müsste wohl auch mal driiiiiingendst repariert werden!“, tuschelte Frau Kaisers Mitbüße-rin. Deutlich als drückten sie auf Kesselstadts herbstlichem Schlosshof wie im Sommer 2017 Seit an Seit jene Zuspätkommern exklusiv vorbehaltenen Sitzgelegenheiten. „Wissen Sie, von daher stammt sicher diese Redewendung. Da war irgendwo vor ewig langer Zeit die Kirchuhr kaputt. Ulkig, fin…“

„ENTWEDER BEFÖRDERT MAN DEN SPINNER JETZT AUF DER STELLE HINAUS“, machte ein alter Bekannter erneut auf sich aufmerksam, „ODER WIR TRETEN NOCH HEUTE ALLESAMT AUS DER KIRCHE…AAAAAAAAAAAAAAAAHHHH!!!!! VADE RETRO, SATANA!!!!!

Erzählrunde 7

Epilog 1

„Seht nur, Freundinnen, wie friedlich der Springbrunnen plätschert!“, rief Kammerzofe Yvette aufgedreht schwärmend ihren Arbeitskameradinnen zu, während Veronique, Sylvie und Chan-tal die vor wenigen Sekunden noch in einer emotionalen Anwandlung purster Glücksgefühle akut Taumelnde behutsam stützten. Vom Eingangportal der gräflichen Residenz blickten alle vier quer über den Schlosshof zur Philippstuher Allee. „Oh, mein Gott, oh, mein Gott, dazu jetzt die hellen Glockenschläge von der Friedenskirche! Neun Uhr. Haaach, obwohl uns diese Dinge seit über zwölf Monaten vertaut sind, geht mir dennoch jedes Mal das Herz dabei auf. Über-wältigend, findet ihr nicht?“

Erzählrunde 8

Epilog 2

OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOOOOOTT! SCHAUT MAL, DIE SÜSSEN GÄNSCHEN SIND WIEDER DA!!!!! Hofdame Chantal geriet beim Anblick einer entlang des Mainuferweges grasenden altbekannten Schar sympathischer Wasservögel in höchste Ekstase. UND DAAAA- AAAAAA, SEEEEEEHT NUR, DAAAAAAAAAAAA, DIE VORNE RECHTS WATSCHELT GERADE ZUR PFÜTZE, HAT WOHL VOLL DURST!!!!!!!!!!

Erzählrunde 9

Epilog 3

„Bernhaaaardeeeeeeeeeeette!!!!! Huuuuhuuuuuu!!!!! Wo biiiiiiiiiiiiiisssst duuuuu?????“ Hofdame Veroniques vom Philippsruher Schlosspark den an der Landstraße gelegenen Häusern entge-genschwirrende Organlaute durchpflügten unüberhörbar die feuchtkalte Morgenluft.

Sie stoppte. Ihre Kolleginnen, welche circa drei Meter dahinter folgend das weitläufige Areal mit Argusaugen nach allen Seiten absuchten, holten geschwind auf.

Erzählrunde 10

Epilog 4

Vier junge Damen standen am Rande der Lichtung, widmeten ihre Aufmerksamkeit dem gegenüberligenden Waldgebiet. Von dort war das Quartett soeben auf teilweise kaum erkennbarem Wiesenpfad wieder Retour gelaufen, nachdem es sich vom Unterholz optisch geschützt zuerst umgezogen, anschließend seine Koffer irgendwo zwischen Bäumen samt zugehörigem Inhalt abgestellt hatte. Zwanzig Minuten zuvor waren sie nicht allzu weit entfernt einem beigen Mercedes nach komplizierter Fahrt entstiegen. Aufgrund des unerfreulichen Umstandes, dass grenzüberschreitendes Überqueren der Staatsgrenze für Taxis beziehungsweise Shuttlebusse trotz längst erfolgtem Ende aller verbliebenen Coronamaßnahmen – unerfindlicherweise – weiterhin verboten ist, musste die aus Hanau kommende Gruppe am Übergang Steinheimer Brücke umständlich das Fahrzeug für die Weiterfahrt in den Heusenstammer Stadtteil Rembrücken wechseln. Und weil sich das zur Stadt Rodgau gehörende Weiskirchen von hier aus in moderater Entfernung befindet, war auch der Gedanke naheliegend, sekundär zwecks Geldbeutelschonung, primär, um neugierige Nachbarn, angelockt durch auffälliges Motorengebrumme mit Türenschlagen, von den Gardinen fernzuhalten, die restliche Stecke heimwärts per pedes zu bewältigen.

Erzählrunde 11

Epilog 5

Vier junge Damen standen mitten auf dem Waldweg, widmeten ihre Aufmerksamkeit seinem weiteren Verlauf. Aus entgegengesetzter Richtung war das Quartett soeben wieder Retour gelaufen, nachdem es sich vom Unterholz gut geschützt zuerst irgendwo umgezogen, anschließend seine Koffer zwischen Bäumen samt zugehörigem Inhalt abgestellt hatte. Zwanzig Mintuen zuvor waren sie nicht allzu weit entfernt einem beigen Mercedes nach komplizierter Fahrt entstiegen. Aufgrund des unerfreulichen Umstandes, dass grenzüberschreitendes Überqueren der Staatsgrenze für Taxis beziehungsweise Shuttlebusse trotz längst erfolgtem Ende aller verbliebenen Coronamaßnahmen – unerfindlicherweise – weiterhin verboten ist, musste die aus Hanau kommende Gruppe am Übergang Steinheimer Brücke umständlich das Fahrzeug für die Weiterfahrt zum Jügesheimer Grillplatz, dort, wo der Trimm-dich-Parcours sowohl beginnt als auch endet, zu wechseln.

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 5 - Gespräche an, auf und über Gleisen sowie an zwei Seen.

Erzählrunde 1

Erzählrunde 2

Sovjetski Sojus 2

Erzählrunde 3

Liebe Seitenbesucher, zunächst äußerst wichtige Hinweise in eigener Sache. Wenn wir nun im Rahmen aufrichtiger historischer Berichterstattung unumgänglich über die politischen Ereig- nisse vom 30. Oktober 2017 sprechen müssen, haben dabei Schutz sowie Sicherheit aller Ka-russellpferde oberste Priorität.

Es existiert nämlich seit dem 06. Janaur 2021 ein gräfliches Gesetz, das Aussagen, welche den ruhmvollen Herrschaftsantritt Seiner Durchlaucht sowie die Russische Oktoberrevolution von 1917 quasi in einem Atemzug nennen, unter schwere Strafe stellt. en. Und ganz ehrlich: Weder Theluma, Leporello, Hatatitla noch die übrigen Bewohner des Wilhelmsbader Fahrge-stells möchten es riskieren, ein Jahr angekettet bei Wasser und Brot im finsteren unterirdi-schen Karussellgewölbe zu darben. Ja, Sie haben richtig gehört! 365 x 24 Stunden! So be-straft man seitdem alljene, welche behaupten, Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg hätte 2017 ähnlich wie einst Wladimir Illitsch Lenin 100 Jahre zuvor die Macht an sich geris-sen. Mehr noch. Bis heute kursieren hartnäckige Gerüchte, Hanaus unumschränkter Souverän sei in Wirklichkeit ein als feudaler Ausbeuter raffiniert getarnter kommunistischer Agent im Auftrag Moskaus, einzig und allein mit dem Ziel vor Augen entsandt, von Schloss Philippsruh aus die 1991 untergegangene Sowjetunion neu zu errichten; und mit ihr zusammen den ge-samten früheren Ostblock.

An Grafens Anwaltskanzlei gerichtet betonen wir daher ausdrücklich, weitestgehend den Kon-junktiv indirekter Rede zu benutzen, dessen Verwendung bekanntlich keinerlei persönlichen erzählerischen Meinungen wiedergibt. Sollten wir um der Wahrheit Willen besagten Tag doch mit Originalzitaten detaillierter beleuchten als dem Hanauer Hofe genehm, wird dies exklusiv mithilfe glaubwürdiger Zeugen geschehen, welche hierfür im sicheren Deutschland interviewt wurden. Des Herrschers Anti-Aurora Gesetz gilt juristisch ausschließlich für auf dem Gebiet seiner Grafschaft Hanau-Münzenberg getroffene Aussagen, das wissen wir wohl. Karussell-pferde lassen sich niemals ihr ehrliches Wiehern verbieten, nur damit Seine Durchlaucht Be-scheid weiß!

Also wählen Wilhelmsbads Parkattraktionen ihre Worte mit Bedacht, lassen in folgender His-toria größte sprachliche Sorgfalt walten; damit uns nicht dasselbe droht, was derzeit Carlas Vater blüht.

Womit wir zum eigentlichen Erzählkern kommen.

Am 02. März März 2021 erreichte uns auf Instagram eine dringender Hilfereruf.

Hallo, liebe Karussellpferde, ich bin Carla aus Hanau.

Hi, Carla, echt schön, dich auf Insta zu treffen. Wie geht es dir?

Bitte, ihr müsst mir dringend helfen!!!!!! Bitte!!!!!!!

Nachdem wir mittels geschickt formulierter Fragen davon ausgehen konnten, dass am ande- ren Computer, Tablet oder Smartphone kein Scherge des Grafen, sondern wirklich eine Carla saß, brachte Leporello näheres – wenn auch nicht alles – in Erfahrung.

Was ist denn passiert, Carla?

Oh Gott! Papa!

Was ist denn mit deinem Vater?

Oh Gott, das kann ich hier nicht schreiben, ich habe solche Angst!!!!! Bitte, hilf mir, Leporello, bitte, bitte, bitte, hilf mir!!!!!!!

Uns wurde schlagartig bewusst: Das Flehen einer Verzweifelten.

Gut, Carla, dann komm rasch zum Karusssell. Wir haben heute bis 18 Uhr Dienst.

Nein, nein, bloß nicht im Park!!!!! Können wir uns lieber irgendwo in Deutschland treffen?

Klar, kein Problem. Kennst du die Schleuse Großkrotzenburg?

Logisch.

Morgen, 09.30 Uhr, auf der Klein-Krotzenburger Seite vor der Treppe hoch zur Staustufe?

Supi, bei uns ist wegen Corona eh Wechselunterricht angesagt.

Oki, dann bis morgen, Carla. Und hab keine Angst, wir sind für dich da.

Daaaaaaannnkeee schön, ihr lieben Karussellpferde. Bis denne.

Mit dem angenehmen Gefühl im Bauch, das Mädchen schon per Chat etwas beruhigt zu ha-ben, orderte Missi flux zwei Pferdetransportwagen, welcher uns tagsdarauf allesamt über die Grenze nach Klein-Krotzenburg beförderten.

Sie, liebe Seitenbesucher, werden sicherlich unser Verwunderung teilen, als wir am verabre-deten Treffpunkt wider Erwarten nicht nur Carla, nein, sondern gleich fünf Jugendlichen be-gegneten. In dicken Winterjacken steckend. Mit Schals. Die Mützen weit ins Gesicht gezogen. FFP2-Masken auf. Obwohl dort gar keine Tragepflicht bestand. Irgendwie ähnelte ihr Erschei-nungsbild daher Gewändern mancher arabischer Frauen, bei denen lediglich kleine Sehschlit-ze frei bleiben.

Fünf Hanauer Jugendliche. Wie bestellt und nicht abgeholt herumstehend, nachdem Carlas Mutter sie abgesetzt hatte. Eingeschüchtert wirkend. Nervös auf ihren Füßen tretend. Sich ständig umdrehend. Unruhige Blicke entlang des Mainweges werfend, als ob jeder von ihnen rechzeitig ein Schreckgespenst entdecken wollte, ehe es mit gierigen Fangklauen hinter den Uferbüschen hervorspringen und alle zusammen fortzerren konnte.

Hallo, du bist bestimmt Carla, stimmt’s?, begrüßte Leporello freundlich jene Jugendliche, die sich von der Gruppe löste, ihm zögernd, aber dennoch vertrauensvoll entgegenkam.

Hi, Leporello!, flüsterte sie leise. Echt super, dass ihr gekommen seid. Ja, und das sind Melis-sa, Fabian, Marietta und Lukas. Ähm…ist das ok für euch?

Klaro, Carla, antwortete Leporello sogleich einfühlam, kein Problem. Weißt du was? Wir gehen am besten da hinten hin zum Main. Und dann erzähl, was dich bedrückt. Einverstanden?

Ähm, du, Leporello…dürfen die anderen auch mit?

Selbstverständlich, beruhigte unser Kollege die vor Furcht immer noch zitternde Kleine wei-ter, kommt!

Und so begaben wir uns mit fünf angsterfüllten Hanauer Teenagern im Schlepptau ein paar Schritte weiter zu jener Stelle, von wo aus man Großkotzenburgs Schleuse besonders schön sieht. Dort angekommen betrachteten wir längere Zeit schweigend die Staustufe, über wel-cher sich bei deutlich kühleren Temperaturen als an den Vortagen zäher Nebel am Himmel hielt, davon überzeugt, das hier praktisch spiegelglatte, beinahe stehende Mainwasser werde auf verstörte Seelen tiefenpsychologisch einen besonders beruhigenden Einfluss ausüben.

Unsere Annahme trog. Die Konsistenz des Mains erzielte nicht den Wunscheffekt. Vielmehr traten kontraproduktive Wirkungen ein. Unaufhörlich huschten ängstliche Äuglein zum Ufer-weg. Trotz mühevollster Anläufe, brachte Carla keinen einzigen Ton hervor, zu tief, zu fest saß jener Kloß, welcher dem Mädchen befreiendes Sprechen verwehrte.

Endlich. Ungezählten Versuche später hauchte sie mit sämtlichen Nerven sichtlich am Ende: Du, Leporello, wollen wir vielleicht lieber mehr da drüben reden, wo das Wasser rauscht? Hier ist alles so entsetzlich still. Oh, mein Gott! Garantiert werden wir vom Hanauer Bataillon be-lauscht. Oh, mein Gott! Sie sind überall im Gebüsch versteckt. Und in Hanau werden wir dann alle verhaftet. Oh, mein Gott! So wie Papa!!!!! Liebevoll trat Ingeborg an Carla heran. Schutz suchend schmiegte diese sich an meine Kollegin. Das tat sichtlich gut.

Wenn es für dich ok ist, Carla, schlug Missi daraufhin vor, gehen wir direkt zur Staumauer, das Wasser strömt dort laut genug, sodass du furchtlos berichten kannst. Dankbares Lächeln. Als fielen tonnenschwere Lasten von ihr ab. Ohjaaaaaa, bitte, bitte!!!!! Ähm…übri-gens…Lukas und Marietta möchten gern ebenfalls mit euch sprechen…auch nicht hier. Geht das?

Selbstverständlich, Carla. Achtung, Karussellpferde! Lagebesprechung!

So beschlossen wir einstimmig: Theluma und ich würden mit Carla, Fabian und Melissa zum nahen Wasserfall laufen, Ingeborg und Spartacus mit Lukas sowie Marietta parallel dazu den nach Großkrotzenburg führenden Steg hinaufsteigen. Der Rest hingegen sollte währenddes-sen am Aufgang Schmiere stehen, um den Teens ein zusätzliches Sicherheitsgefühl zu ver-mitteln.

An der schäumenden Gischt angelangt, zeigte Theluma mit ihrem rechten Huf auf die tosen-den Fluten.

Ist es hier besser?, fragte sie. Jaaaaaaa, erklangen drei hörbar erleichterte Stimmen wie aus einem Mund, viiiieeeel besser!

Denkt daran, wir sind da. Ihr seid hier sicher. Der Graf kann euch in Klein-Krotzenburg nichts anhaben. Nicht wahr, Helanchri?

Ich nickte zustimmend. Mögt ihr leckeren warmen Früchtetee? Dankend nahmen unsere drei Schützlinge mein Angebot an. Das wohlschmeckende stärkende Getränk bewirkte bei Carla eine zur donnernden Geräuschkulisse zusätzliche lösende Wirkung. Völlig unvermittelt brach die Achtklässlerin nach dem zweiten Schluck wimmernd in Weinkrämpfe aus, drückte sich ganz eng an mich, wie vorhin bei Ingeborg. Das tat sichtlich gut.

PAPA WURDE VORGESTERN VERHAFTET!!!!! UND INS GEWÖLBE EINGESPERRT!!!!! WEIL ER GEGEN DAS NEUE GESETZ VERSTOSSEN HAT!!!!!

Das ist ja schreckich, Carla!, entgegnete ich perplex. Derartige Hiobsbotschaften hätte wirklich keiner erwartet. Vermuteten wir doch eher, ihr Vater sei eventuell an CoVid-19 erkrankt. Wa-rum das denn nur? Tränen flossen mit der Mainströmung um die Wette. Papa rief am 19. Feb-ruar zornig vom Balkon: UND DAS ALLES VERDANKEN WIR NUR UNSEREM NEUEN HERRN LENIN!!!!!

Mensch, Carla, wieherte Theluma schockiert, das darf dein Papa aber doch nicht tun!!!!! Jedes Kind in der Grafschaft Hanau-Münzenberg kennt das am 06. Januar 2021 vom Souverän ver-fügte Anti-Aurora Gesetz.

Die Schülerin schluchzte bittere Tränen. Es wurde für ihn abends einfach alles zu viel. Corona macht Papa total fertig. Meine Eltern besitzen doch das Geschäft. Und als im November zuerst dieser Lockdown „light“ losging, mussten sie als erste schließen. Wieder alles zu. Wie beim Lockdown 1. Vom versprochenen Untersützungsgeld kam natürlich bis heute kein müder Cent an. Obwohl Mama ständig im Schloss anruft. Jeden Tag weint sie. Wenn Papa weg ist. Damit er es nicht mitbekommt. An dem Abend dann zeigten die Nachrichten Bilder von der Gedenk-veranstaltung. So traurig. So bedrückend. Wir fühlten uns absolut hilflos und unendlich wü-tend wegen des Anschlags. Der ganze Horror von 2020 kam wieder hoch. Plötzlich rastete Pa-pa komplett aus: DA HATTE ER JA AUCH EIN GENIALES VORBILD BEI UNSEREM ROTEN GE-NOSSEN. DER HAT’S DOCH 2017 VORGEMACHT!!!!!!! HA, UND JETZT WUNDERT IHR EUCH????? Tobend sprang er vom Sessel auf, hin zur Balkontür. Mama: WAS HAST DU VOR, SCHATZ????? KOMM SOFORT ZURÜCK!!!!! Vergeblich.

Harter Tobak. Puuuuuuh!!! Ich schnaubte entsetzt. Ein Jahr Karussellgewölbe. Angekettet. Bei Wasser und Brot. Dazu in Coronazeiten. Das wird sehr sehr schwierig, deinem Papa zu helfen. Irgendwelche Augen- und Ohrenzeugen, vermutlich Nachbarn, müssen ihn prompt beim Ha-nauer Bataillon verpfiffen haben.

Aber das können sie doch nicht mit ihm machen!, wimmerte Carla, dass es Gott erbrarm. Au-ßerdem bin ich Herrn Kaiser damals an der Marienkriche begegnet. Wegen des großen Refor-mationsfeiertages bekamen wir glücklicherweise nach der dritten Stunde fre. Und ja, auf mei-nem Heimweg stand da an der Kirche Alessa Maries Vater hinter diesem Baum, adlig angezo-gen, weiß gepudert und mit weißer Perücke wie auf seinem Youtube-Kanal, wo sie alle so vor-nehm tun. Er hielt irgendein Gerät in der Hand, Smartphone, keine Ahnung, schien ungeduldig auf etwas zu warten, wollte anscheinend gleich eine Taste oder einen Knopf drücken. Über Bluetooth-Headset ständig mit jemandem am Quatschen. Voll komisch.

Neugierig ging ich zu ihm hin und grüßte höflich: Hallo, Herr Kaiser! Bestens gelaunt winkte er zurück: Ei gude, Carla, wie? Guck emol den Kirchturm enuff, gleich gibt’s was, davon kannste später deinen Kinnern erzählen. Bass nur uff, jetzt geht’s ab hier! Neugierig blickte ich hoch. Plötzlich sprang Herr Kaiser an mir vorbei zum Kirchturm. Und ja, dort rief Alessa Maries Va-ter voller Freude, dass er Hanau gleich einen gehörigen Schuss vor den Bug knallt. Und ja, dann knallte von der Turmspitze wirklich dieser laute Schuss. Er war soooooooo heftig!!!!! Ich schrie, warf mich zu Boden, Fensterglas klirrte, Herrn Kaisers Stimme jubelte, dass soeben dieses Schiff, dieser Pa..Pa…Pan…Mist, komm nicht drauf…

Panzerkreuzer Aurora, half Fabian seiner Klassenkameradin fachmännisch. Mit einem Kano-nenschuss wurde von ihm am 25. Oktober 1917, Gregorianischer Kalender, das legendäre Zei-chen zum Sturm auf den Winterpalast in St. Petersburg gegeben. Allerdings müssen wir dazu wissen, dass es keine Erstürmung war, wie es uns Sergeji Eisensteins Stummfilm Oktober weisma…

Meeeeeennsch, Fabi, du nervst!, beendete Melissa zugunsten ihrer allerbesten Freundin au-genrollend seinen historischen Exkurs.

Zufrieden fuhr Carla fort: Also. Wie gesagt. Der Krach tönte soooooooo ohrenbetäubend. Nach-dem ich vorsichtig wieder aufgestanden war, starrten meine Augen ungläubig nochmal zur Turmspitze empor. Ey, stellt euch vor, dieser Schuss krachte echt soooooooooooooooooo laut, dass sogar der Plastikschutz eines Kirchenfensters hinüber war.

Währenddessen sang Herr Kaiser, feierte begeistert irgendwelche Signale, die alle Völker jetzt hören sollen, drehte sich mit weit ausgestrecktem Arm um Richtung Große Dechaneistraße, zeigte irgendwohin, rief: AUF NACH MOSKAU!!!! WIE LENIN!!!! Voll verrückt. Danach eilte Ales-sa Maries Vater in seinen teuren Klackerschuhen davon.

 

Er hat Die Internationale gesungen!!!!! Unser junger Historiker sprühte vor Energie. Und nein, ganz und gar nicht verrückt. Nach dem Umsturz in St. Petersburg übernahmen am 30. Okto-ber 1917, Gregorianischer Kalender, nämlich Lenins Bolschewiki in Moskau die Macht, steht in Omas zwanzigbändiger Lexikonreihe aus dem Jahr 1972. Apropos Kalender, Russland ver-wendete 1917 ja den Juliani…

Fabian, bitte!, stoppte Thelma ungestümen Mitteilungsdrang. Hör gut zu, Carla, kannst du dich noch exakt an Herrn Kaisers Worte mit dem Schuss erinnern? Das wäre für deinen Papa jetzt sehr wichtig zu wissen! Traurig schüttelte sie den Kopf. Neeee. Weißt du, Theluma, alles ging rasend schnell. Nur an sein Hessisch, weil er bekanntlich auf Youtube den Dialekt verachtet, nur elegantes Französisch spricht. Und das mit Moskau, dachte halt, Alessa Maries Vater fährt jetzt zum Flughafen. Ach ja, an den bitterkalten Wind erinnere ich mich ebenfalls. Beim Da-voneilen hielt sich Herr Kaiser mit seiner linken Hand dauernd die lange weiße Perücke fest, befürchtete, sie könnte ihm jederzeit durch Böen vom Kopf geweht werden.

Dabei weiß seit diesem Tag doch wirklich jeder, dass unser Graf mit dem Schuss zu tun hatte, meinte Fabian, kopfschüttelnd, warum macht er jetzt 2021 eigentlich voll das Drama draus? Ich weiß es gaaaaaaaaaaannnz genau. Meine Mutter holte mich von der Schule ab, wollte auf dem Rückweg unterwegs im Forum für sich noch zwei neue Blusen kaufen. Um diese Zeit ist noch wenig los. Ok, es wurden dann zehn. Und fünf Hosen. Und sieben Paar Schuhe. Egal. Vor dem Eingang hielt sie kurz an, kramte ewig in ihrer Handtasche. Typisch. Ständig sucht Mama was. Ich begutachetete das Logo und knipste für Instagram gleich ein cooles Foto. Genau in dem Moment vernahmen wir in der Fußgängerzone laute Stimmen. Sie näherten sich eindeu-tig dem Einkaufszentrum.

Voll mysteriös, denn wenige Sekunden zuvor hallten klackernde Schuhe durch die Passage, und ein kostümierter Mann stürmte vorn an der Seite vorbei. Mami meinte verdutzt: Du, Fabi-liebling, das ist doch Herr Kaiser in seiner Rokokokleidung. Na, der hat’s aber morgens eilig. Steht vermutlich mächtig unter Zeitdruck. Dreht bestimmt am Freiheitsplatz ein neues Video. Ich haaaaaaaaaaaasssssseeeeee es, wenn sie „Fabiliebling“ zu mir sagt!!!!!!! Der Junge klopfte sich fassungslos mit seiner Faust an die Schläfe: Fabian, du dummer Esel!!!!! Dachtest wegen des riesigen Knalls echt, beim neuesten Videodreh seien Sachen explodiert und Herr Kaiser hole dringend Hilfe herbei!

Kaum hatte meine Mutter ausgesprochen, bogen geschätzt vierzig gröhlende Demonstranten ums Eck, marschierten direkt auf uns zu, angeführt von zwei komischen Käuzen, beide ange-zogen wie hohe Würdenträger des Elferrates. Nuuuuuuuuuuuur wirkten beide alles andere als lustig. Im Gegenteil, richtig grimmig. Einer könnte glatt Terminator gewesen sein. Totaaaaaaa-aaaaaaaal abgefahren. Krass der Typ, versteht bestimmt nuuuuuuuuuuuuuull Spaß!

General Heiner Jawlonskji, stöhnte Theluma dazwischen. Schwerstes Offenbacher Stadtgren-zentrauma, Kinder, mit dem ist nicht gut Kirschen essen!

Dann nahm Mama meine Hand, peeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnnnnnlich in der fünften Klasse Gymna-sium! Fabiliebling, wir gehen wohl besser mal rein!!! Weil ich jedoch aus Protest gegen meine unwürdige Behandlung die altbewährte Taktik „Schrittverzögerung“ wählte, bekamen wir noch einiges mit.

Auf Terminators Kommando zückten mehrere Teilnehmer Trillerpfeifen. Unter unerträglichem Getriller johlte der Rest zu bekannten Karnevalsmelodien die Plakatsprüche nach.

Es reicht!

Wie lange noch?

1733!

Schluss mit dem Reichsdeputationshauptschluss!

Voooooooooooooooll bekloppt, das Wort kannte ich gar nicht. Mama erkärte es mir im Forum. Okeeeee, plötzlich blickten einige totaaaaaaaaal happy auf ihre Smartphones. Eine junge Frau drehte komplett durch: JUHUUUUUUUUUUU!!!!! LEUTE, KOMMT, SCHNELL ZURÜCK ZUM RAT-HAUS!!!!! HANAU HAT WIEDER EINEN RICHTIGEN GRAFEN!!!!! BEEILT EUCH, WIR MÜSSEN IHM HULDIGEN!!!!! Wiiiiiiiiiiieeeeeee ein Kleinkind. Und voooooooooooooll verrückt, ganau daaaaaa-aaaaaaarauf hatten diese Elferratsmitglieder gewartet. Über Bluetooth-Headsets standen sie ständig mit jemandem in Kontakt. Als wäre alles zeitlich genaaaaaaaaauuuuuuuuuu geplant. Und ja, als diese Durchgeknallte Dankgebete zum Himmel ausstieß, beglückwünschten sich die Fastnachter lässig mit Daumenzeichen nach oben. Ey, Theluma, Helanchri, ich schwöööö-ööööööööööörs, die hatten echt alle einen ganz gehörigen Hau weg, aber wiiiiiiiiiiiiiieeeeeeee- eeeeee!!!!!

Carlas emotional vollkommen aufgewühlter Mitschüler hielt erschöpft inne. Sein unermüdli- cher Redefluss versiegte abrupt. Stattdessen schnappte Fabian nach Luft. Nur das unermüdli-che Rauschen der Staustufe Großkrotzenburg drang weiterhin an unsere Ohren.

Noch einen leckeren Schluck Früchtetee aus der Thermoskanne?, fragte ich freundlich. Drei-faches eifriges Nicken. Carlas allerbeste Freundin rieb sich mit ihrer linken Hand erneut beide Augen. Seit die Jahreszahl „1733“ gefallen war, tat Melissa dies unablässig. Anfangs dachten wir erst an eine Erkältung. Melissas parallel zu Fabians zunehmend aufgedrehter Redseligkeit ansteigende innere Unruhe ließ allerdings keinen Zweifel offen: Auch hier wollten diverse Bot-schaften, seien sie aus dem Bewusstsein, seien sie aus dem Unterbewusstsein alsbald unge-bremst verbal aus dem Mund drängen. Bestürzt und gerührt zugleich realisierten wir, dass drei mutige Vierzehnjährige vor uns standen, welche in Anbetracht eines geschützen Raumes endlich bereit waren, zum ersten Mal über ihre persönlichen Wahrnehmungen des 30. Okto-ber 2017 zu sprechen. Drei unerschütterliche Heranwachesnde. Minderjährige wohlgemerkt. Bereit, entschlossen, willens nach nunmehr vierzig Monaten Absolutismus ihr Schweigen zu brechen.

Im Gegensatz zu euch Erwachsenen, die ihr seit dem 06. Januar mit hastig genuscheltem Tut mir leid, ich hab’s eilig! oder Sorry, ich war damals im Büro! davonhuscht, sobald wir Karus-sellbesucher das unzumutbare Anti-Aurora Gesetz ansprechen. Keiner will plaudern. Keiner will zweieinhalb Meter unter uns in schwere Ketten gelegt zwölf Monate schmachten und zu-sätzlich an Fahrtagen das Karussell drehen müssen. Oh, ihr Volljährigen, stattdessen hängen eure gierigen Lippen an aktuellen Verlautbarungen über Infektionszahlen, Maßnahmen, Impf-desaster, Schnelltests, an offiziellen Pressekonferenzen erfolgter Bund-Länder-Beratungen, deren hessischer Beschlussausführung Graf Dennis Kevin I. weitgehend folgt. Ihr hofft, dass man euch heute Abend heißersehnte Lockerungen schenkt, damit Ostern überall im Land wie-der gute alte Normalität herrscht. Mallorca wartet. Ihr vergießt Tränen des Glücks, seit vor-gestern Frisöre wieder Kundschaft bedienen. Betet, dass sie bei im Vorfeld geplanten weite-ren Öffnungsschritten nicht gleich verzweifelt das Notbremsenruder herumwerfen müssen, damit der Kahn nicht sinkt. Amen, Amen, wir sagen euch: Zwei Wochen wird euer Glück wäh-ren! Dann heißt’s wieder Click & Collect statt Click & Meet!!! Ooooooooooh, ihr Krisengebeutel-ten, nähmet ihr euch lieber nach Carla und Fabian nun auch ein zusätzlich leuchtendes Bei-spiel an der tapferen Melissa, am 03. März 2021 vis-à-vis zum wirbelnden Mainwasser bereit auszupacken, wie sie als Fünftklässlerin am Freiheitsplatz jenen 30. Oktober 2017 erlebte.

Da hing dieses riiiiiiiiiiiiieeeeeesige Tuch hinter dem Rathausbalkon, sooooooooo breit wie das Geländer und sooooooooooooooo hoch, dass alle drei Türen vollkommen damit verhangen wa-ren!!!, sprudelte es unter wildem Gestikulieren heraus. Erneut rieb Melissa sich beide Augen, als könnte die Achtklässlerin selbst nach übe drei Jahren ihre dramatischen Erlebnisse im-mer noch nicht richtig glauben.

Also. Mama hatte mich ebenfalls abgeholt Gerade gingen wir bei dem eklig kalten Wind zügig entlang des Rathauses zur Bank, da fiel uns sofort dieses mega große Tuch auf. Darauf stand in bunten Farben:

BEWEGUNG 1733

Und voll verrückt, auf das Tuch hatte man man ein Riesenfoto von Familie Kaiser gedruckt, al-le in ihren schicken Kleidern und Perücken, die sie immer auf Youtube tragen. Tooootaaaaaaa- aaaaal edel. Höchst mysteriös nur, dass Alessa Maries Vater allein oben stand.

Vorhersehbar!, stöhnte Theluma dazwischen. Kaisers ganzes Adelsgetue war den Töchtern in-zwischen endgültig zu Kopf gestiegen. Selbst General Jawlonskji wollte keine Garantien mehr geben, dass sich drei aufeinander eifersüchtige Beauty-Gacken aus purer Bosheit mitten auf dem Balkon gegenseitig ihre extravaganten Turmfrisuren ruinieren. Auf Jawlonskjis Ratschlag hin ließ Herr Kaiser sie deshalb daheim zurück. Und ohne mütterliche Anwesenheit hätte es im Haus Mord und Totschlag gegeben.

Ok, Theluma, dringende Korrektur erforderlich. Zuerst stand er nicht da. Herr Kaiser wurde ja erst dann aus dem Zimmer gerufen.

Von wem denn?

Aaaaaalllsoooo. Da standen 11 ulkig Verkleidete auf dem Balkon. Wir dachten zuerst, Elferräte übten für den 11. November. Zwei trugen Bluetooth-Headsets, hundertpro diese Männer, die bei euch am Forum auftauchten, Fabi. Huuuuuuuuuunnnndertpro!!!! Und obwohl dauernd fiese Böen wehten, blieben mehr und mehr Menschen neugierig stehen. Doch Mama wurde irgend-wie voll misstrauisch: Das sind aber schräge Typen, da gruselt’s einen ja. Von denen möchte ich als Frau keinem bei Dunkelheit alleine begegnen! Nie im Leben sind die vom Karneval!

Herrn Kaisers harter Kern Söldner!, stöhnte ich dazwischen. Alles glühende Verehrer des be-rüchtigten Bob Denard. Mit ihrer Hilfe hat er kurz darauf das einstige Hanauer Bataillon neu gegründet, unseres Souveräns Elitetruppe. Wüste Landsknechtsgesellen. Trotz Nostalgieuni-formen aus dem 18. Jahrhundert. Teilweise per internationalem Haftbefehl gesucht. Philipps- ruhs schützende Hand deckt sie. Deshalb ermahnen wir in diesen Zeiten Karussellbesucher beim Abschied eindringlich: Und halten Sie unbedingt die aktuellen CoVid-19-Maßnahmen ein. Ganz wichtig: Bei Coronakontrollen sich niemals mit dem knallharten Hanauer Bataillon anle-gen! Niemals! Bitte, bleiben Sie gesund! Melissa zuckte angstvoll zusammen, fasste jedoch umgehend wieder Mut.

Boah, ey, dann ging voll die Post ab! Eine Karnevalsband tauchte auf. Mädchen aus unserer Jahrgangsstufe 11 erschienen als Funkenmariechen, begannen fröhlich zu tanzen, Jungs aus der 12 verteilten in Dienerkostümen roten Sekt. Mama lehnte dankend ab. Ich durfte nicht. Ge-mein! Ausgerechnet bei Sascha! Stand ihm voll gut, seine Pagenuniform. Egal. Jedenfalls ab-solut crazy das Ganze. Wie auf richtigen Faschingsveranstaltungen!

Die Melodie verstummte. Einer vom Elferrat griff zum Mikrophon, trat näher ans Geländer und – stellt euch bloß vor – hielt eine Büttenrede. Obwohl seine Miene ja eigentlich furchteinflö-ßend wirkte. Ich meine halt, null witzig. Krass. Totaaaaaaaaaaaaaaaaaal abgefahren. Ich weiß sogar genauuuuuuuuuuuu, was der Mann redete, deeeeeeeeeennnnn zum Schluss zerknüllte er den Zettel und warf ihn achtlos herunter. Suuuuupiiii, jetzt regnet’s Kamellen!, dachte ich und bückte mich sofort.

Aber kleines Mäuschen Lillifee! Man hebt doch nicht auf, was andere Leute auf die Staße werfen! Peeeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiinnlich in der fünften Klasse Gymnasium!!!!! Ich haaaaaaaa-aaaasssseeeeeeee es, wenn Mama mich so nennt! Egal. Ich hob das Papier natürlich heimlich auf, vermutete gierig ein darin eingewickeltes Bonbon. Ok, in meinem Zimmer Enttäuschung pur, aber das Papier besitze ich immer noch, keine Ahnung, warum. Hier, schaut!

Theluma und ich blinzelten veblüfft. Dürfen wir mal lesen?, fragte meine Kollegin. Klaro! Au-ßerdem findet ihr auf diesem Blatt zusätzlich Originalzitate aus dem Publikum, Mama machte sich ja damals einige Notizen! Theluma las vor.

Ich grüß‘ die Narren uff der Gass
und sage euch, das ist kein Spass,
der, nach dem ihr grade seht,
macht, dass hier jetzt Frischluft weht,
in Hanau, unserer lieben Stadt,
die mehr verdient als sie grad hat.

Tusch. Zögerliches Klatschen.
„Er hat Recht!“
„Schaut euch doch mal um! Eine Schande ist das!“
Huch, was war das? Kam von Marienkriche. Wird doch hoffentlich keine Gasexplosion sein!

Wenn ich so durch die City geh‘,
da tun mir beide Augen weh,
bin halb blind schon von dem Schrott,
der ganze Schund muss endlich fort!
Versprechs, ich werde Hanau segnen,
auf dich soll’s rote Rosen regnen.

Tusch. Starker Applaus.
„Bravo!“
„Endlich sagt mal einer laut seine Meinung!
„Und so was nennt sich moderne Innenstadtgestaltung, dass ich nicht lache!
„Kein einziges historisches Gebäude originalgetreu rekonstruiert!“
„Dafür setzte man uns dieses Einkaufszentrum vor die Nase!“
„Das hat Hanau gebraucht!“
„Typisch, für solchen Firlefanz steht immer genug Geld zur Verfügung!“
„Seltsam, nicht wahr? Da sind die Kassen voll!“
„Jakob und Wilhelm würden sich Grabe umdrehen!“
„Eine Zumutung!“
„Hier hilft nur noch eins: wegziehen!“
Meine Güte, sind die geladen.

Doch nicht nur’s Forum,
nein, kein Stuss,
ich seh hier noch viel mehr Verdruss,
weiß, Hanau ist ne harte Nuss,
drum hört die Botschaft, klares Muss:
Schluss mit dem Reichsdeputationshauptschluss!

Tusch. Tosender Beifall.
„Recht hat er!“
„So kann das hier nicht weitegehen!“
„Es muss endlich Schluss damit sein!“
„Allmählich reicht’s mir mit dem Hauptschluss!“
„Wie lange soll der eigentlich noch weitergehen?“
„Vier Jahre, hab ich gehört!“
„Nicht groß fragen, los, Leute, zum Shoppingcenter!“
„Ja, wir nehmen das jetzt selbst in Hand!“
„Und vergesst an der einen Baustelle die Pflastersteine nicht!“
Kriege es mit der Angst zu tun. Wo bleibt nur die Polizei?

Eine Gruppe formierte sich, zog unter lauten Schluss!-Rufen eilig zum Forum los. Die zwei El-ferräte mit Bluetooth-Headset reagierten umgehend. Auf Handzeichen verschwanden sie vom Balkon, stürzten kurz darauf mit Transparenten bepackt aus der Rathaustür dem aufgepeit- schten Mob hinterher, bildeten dessen Spitze und führten den Demonstrationszug an.

Eiskalte Vollprofis, stöhnte Theluma dazwischen, die waren wirklich auf sämtliche Eventuali-täten vorbereitet! Stand vermutlich SO nicht in Herrn Kaisers Drehbuch. Kanalisierung eines militanten Kerns nennt man das. Deeskalation. Und alles nur deshalb, weil wieder einmal ei-nige nichts verstanden hatten, aber trotzdem glaubten Bescheid zu wissen.

Rede geht weiter.

Wachsender Unmut. Pfiffe. Rufe. Die wollen Fakten sehen.

„Buuuh!“

„Aufhören!“

Pfui, wie vulgär. Ich muss Lillifee die Ohren zuhalten!

Vieles vom Text geht im tosenden Lärm unter.

Es wird brenzlig um uns herum. Menge signalisiert, dass sie sich nicht mehr lange hinhalten lässt.

„Leute, seht ihr die Leiter an dem Gerüst da hinten? Die schnappen wir uns und klettern rauf!“

„Und oben kriegt der Laberfritze dann seine Krawatte abgeschnitten!“

„Helauuu, heute ist vorgezogene Weiberfastnacht!“

Wenn jetzt nichts passiert. Wenn jetzt nichts passiert.

Redner merkt es anscheinend selber.

Kollegen reagieren bltzschnell. Trotz Krawall verstehe ich: „Mach schnell, Dimitri, mach letzte Strophe!“ Ach, deshalb der russische Akzent.

Drum hört ihr Leute, seid schön brav,

und klatscht, wenn gleich kommt eurer Graf,

der alles kann, der alles darf,

von Hanau und von Münzenberg,

stets ein Gigant, niemals ein Zwerg,

er weiß, wo hier der Schuh stark drückt,

so manche Frau kreischt bald entzückt.

Tusch. Stimmung fällt ins Bodenlose.

„Hör uff zu babbeln, tu was, sonst hol ich dich nunner!“

„Ja, wir haben die Schnauze voll deinem Geschwätz!“

„Unsere Brüder Grimm wollen keine Märchen hören!“

„Immer diese leeren Versprechungen!“

„Die Leiter kommt, die Leiter kommt!“

„Wurde auch Zeit, hattet ihr unterwegs noch einen gekippt?“

Gespenstische Stimmung. Nur weg. Lillifee schützen. Vielleicht schaffen wir es beide unbe-schadet zum Parkhaus.

Büttenredner bricht abrupt ab. Kann für nichts mehr garantieren. Bekommt ein Megafon ge-reicht. „Wollen wir ihn herauslassen?“ Wie das dröhnt.

„Worauf wart’st de noch?“

„Mach dich her!“

Der neunköpfige Elferrat drehte sich klatschend zur mittleren Balkontür. Die Kapelle begann den Narhalla-Marsch. Und jetzt, Theluma und Helanchri, trat aus einem Tuchschlitz Herr Kai-ser hervor. In Adelskleidung wie auf seinem Youtube-Kanal. Weiße Perücke. Weißes Gesicht. Winkte gnädig in jede Richtung. Wiiiiiiiiiiieeeeeeeeee von einem anderen Stern!!!!! Toootaaaaa-aaaaaaaaaal creepy!!!!!

LANG LEBE UNSER NEUER GRAF DENNIS KEVIN I. VON HANAU-MÜNZENBERG!!!!!, schallte es durchs Gerät.

Das Volk rastete vor Jubel aus.

Die Urteilsklausel!, stöhnte ich dazwischen. Als Herrn Kaisers fürstlich bezahlte Winkeladvo-katen sämtliche Willenserklärungen zum 1643 zwischen dem Vormund des späteren Grafen Friedrich Casimir von Hanau-Lichtenberg sowie Landgräfin Amalie Elisabeth geschlossenen Erbvertrag erfolgreich nachträglich angefochten hatten, wobei das Gericht zur einstimmigen Überzeugung gelangte, die frühere Grafschaft Hanau-Münzenberg exisitiere auch nach Graf Johann Reinhards III. Tod 1736 als eigenständiger politischer Rechtskörper de facto bis heute fort, erlaubte es den Herrschaftsantritt von Alessa Maries Vater nur unter Auflagen. Unter an-derem dürfe er mit seinem gekauften Adelstitel erst dann den letzten Hanau-Münzenberger rechtmäßig beerben, wenn ihm beim Herrschaftsantritt zustimmender Beifall einer versam-melten Menschenmenge, Akklamation genannt, sicher sei. Hierfür erachteten die Richter, um-gerechnet auf die Verhältnisse im 18. Jahrundert, 300 rein zufällig vor Ort seiende volljährige Bürgerinnen und Bürger aus dem historischen Territorium als ausreichend. Tatsächlich jubel-ten dank dieses ausgebufften Karnevalstricks jedoch weit weit mehr als 500 Leute freudig dem soeben ausgerufenen neuen Grafen Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg zu. Neutrale Beobachter bezifferten die Zahl sogar mit rund 800. Was hinkommen könnte, denn von überall strömten Fußgänger herbei, angelockt durch pseudo-närrisches Treiben, ahnungslose Einhei-mische, morgens gegen 10 Uhr auf ihrem Weg zur Arbeit, zum Shoppen oder wegen anderer Besorgungen. Ihre Hörorgane vernahmen vom Rathaus her kommend die frohe Kunde: Es tut sich etwas in Hanau!

Weil aber jener Prozess aus Angst vor Nachahmern, die liebend gerne auch mal „Fürstabt von Fulda“ spielen würden, unter allerstrengster Geheimhaltung stattfinden musste, dachte natür- lich jedermann, jedefrau gutgläubig, irgeindeiner Karnevalsvereinssprobe beizuwohnen. Erst dank der Tagesschau um 20 Uhr sowie im anschließenden Brennpunkt, durch welchen sich nachfolgende Sendungen um circa eine Stunde verschoben, erfuhren die Rufer von

ER LEBE HOCH, HOCH, HOCH!

LANG REGIERE UNSER GRAF!

VIVAT!

oder

MÖGEST DU 10.000 JAHRE LEBEN!

was sie vormittags angerichtet hatten. Zu spät. Seine Durchlaucht, Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg, vormals Krankenpfleger auf der Intensivstation, dann mehrfach von Göt-tin Fortunas launischem Glückswürfel getroffener Eurojackpot-Gewinner, sowie seine holde Gattin Jessica, nunmehr Bernhardette Constanze Amalia, gelernte Fremdsprachenkorrespon-dentin für Französisch und Spanisch, regierten bereits seit Stunden rechtmäßig à la Louis XVI. et Marie Antoinette die Stadt. Man war gegen 10 Uhr morgens einfach zur zum falschen Zeit-punkt am falschen Ort gewesen.

Melissa dämmerte es: Deeeeeeeeeeeeeessshaaalb guckte Mama dauernd so verängstigt!!!!!! Und statt Herrn Kaiser lauthals zuzujubeln, als er sich aus dem Tuchschlitz hervorzwängte, nahm sie fest meine Hand, flüsterte: Komm, kleines Mäuschen Lillifee, lass uns besser ganz schnell von hier verschwinden, mir ist das Ganze nicht mehr geheuer. Mami ahnte, dass da gerade etwas nicht mit rechen Dingen zugeht.

Neeeeeeeeeeeeeiiiiiiiinnnn, Mamiiiiiiiiii, ich will hierbleiben!!!!!!!, heulte ich verzweifelt. Ich will hierblieben!!!!!!! Ich will Herrn Kaiser sehen!!!!!!! Ich will Karneval feiern!!!!!! Ihre Kräfte zogen mich energisch fort. Und ich wollte damals echt noch bleiben, fand das einfach nur mega cool. Ich war voll dumm, ey! Fabian nachahmend fasste sich Melissa an die Stirn.

Doch jetzt, Theluma und Helanchri, erlebten wir die verrückteste Sache überhaupt. Nachdem Mama am Automaten genügend Geld abgehoben hatte, wollte sie auf dem Rückweg eigentlich um das Rathaus einen gewaltigen Bogen machen. Doch am Freiheitsplatz war alles mucks-mäuschen still. Keine Menschenseele anwesend. Von weitem der Balkon leer.

Unseres frisch gekürten Souveräns schmetternder Megafon-Schlachtenruf IN PHILIPPSRUH GIBT’S DREI TAGE LANG ESSEN UND TRINKEN UMSONST!!!, stöhnte Theluma dazwischen.

Okeeee, da sind wir wohl gerade ins Foyer rein. Mama fand das jedenfalls das seeeeeeeeehr verdächtig, änderte ihre Meinung und ging wissbegierig mit mir hin. Wir schauten zum Gelän-der. Wiederum rieb sich unsere Erzählerin beide Sehorgane.

Da sprach uns ein älter Herr an. Während ich immer noch geblendet vom kaiserlichen Pomp unentwegt hinaufstarrte, wechselten Mama und er einige Worte.

Na, DIE hatten es ja wohl schnell wieder eilig!

Zum Glück hat dieser Verrückte aus dem Internet unsere schönen Gebrüder Grimm Fahnen in Ruhe gelassen. Ei, stellt euch bloß vor, wollt der ahle Dummbatz die doch glatt forttun!!!!!

Die schönen Brüder Grimm Fahnen? Ist nicht Ihr Ernst!!!!!

Ei, wenn ich’s doch saaaach! Kimmt enausgerennt wie’n wilder Ochs, brüllt rum: Ha, wäre ich kein Graf, ich würde das flatternde Zeugs auf der Stelle höchstpersönlich runterreißen und die Fahne der Sowjetunion hissen. Ooooooh, seht nur, wie herrlich rot schon Hanaus Rathaus ge-schmückt ist!

Unglaublich!!!!! Warten Sie, das notiere ich mir.

Vollkommen meschugge!!!!! Ich schwör’s Ihnen, der Kerl ist Kommunist!

Ich schaltete mich ins Gespräch ein: Du, Mami, was ist ein Kommunist?

Ach, kleines Mäuschen Lillifee, das ist einer, der fest an die rote Fahne glaubt.

Ok. Und die Sowjetunion?

Ei, Mädsche, gibt’s ewig ned mehr.

Ok.

Der Mann zog weiter. Wir traten näher heran, putzten X-mal aus unterschiedlichsten Gründen ganz gehörig unsere Augen, um das Gesehene wirklich zu begreifen. Guckten erneut.

Da schlurfte Tom heran, dieser süße Schnuckel aus dem Handyladen, was für ein Zufall, tele-fonierte aufgeregt, boah, sah der fertig aus.

Ey, Alter, das gibt’s noch nicht, Alter!

Wieder hier, Alter! Direkt am Balkon! Wo denn sonst, Alter?

Bitte, Alter, du musst mir glauben!

Ey, Alter, ich red keinen Schxxx!!!

Ey, versteh doch, Alter: Laura hat Schluss gemacht!

Ey, red ich Chinesisch, Alter? Laura hat Schluss gemacht!

Keine Ahnung, Alter! Einfach so! Ey, kneif mich mal durchs Smartphone, Alter. Kommt oben ein kostümierter Witzbold raus, weißes Gesicht, weiße Perücke, zerbricht völlig cool Hufeisen.

Ey, Alter, ich schwör, der geht jeden Tag in die Muckibude!

Ey, hör mal zu, Alter, weißt du, was Laura geschrien hat, Alter? Dennis Kevin, ich will ein Kind von dir! Das ist doch nicht mehr normal, Alter!

 

Der Hufeisentrick!, stöhnte ich dazwischen. Von August dem Starken abgekupfert! Damen sol-len angesichts solch männlicher Kraft reihenweise in Ohnmacht gefallen sein. Wir hielten das stets für alberne Märchen. Dafür also Herrn Kaisers schweißtreibendes Extremtraining im ei-genen Fitnessraum. Es dürfte Laura glatt umgehauen haben.

Hypnotisiert fixierte ich die unten am Balkonwappen angebrachte Jahrszahl „1733“.

Heee, können Sie nicht aufpassen? Mich einfach so anzurempeln! Klang stark nach Mama.

Tschuldigung, Lady, äääääh, haben Sie zufällig Laura gesehen? Klang stark nach Tom.

Komm, kleines Mäuschen Lillifee, wir müssen zum Parkhaus. Klang stark nach Mama.

In dem Moment erschallte tösendes Geratter. Ich drehte mich um. Du, Mami, warte mal! Eine glänzende Kutsche biegt von der Hammerstraße in die Krämerstraße ab! Schauuuuuuu, Mami, die Karusssellpferde sind auch dabei! Aaaaaaaaaaaaaaawww, wie süüüüüüüüüüüüüüß, über-all mit langen bunten Schleifchen!!!!! Doch sie hatte vom Freiheitsplatz die Nase gestrichen voll. Nicht bummeln, kleines Mäuschen Llillifee, komm, lass uns einen ordentlichen Zahn zule-gen, sonst werden nochmal 1,50 Euro fällig! Das willst du doch nicht, oder? Totaaaaaaaaaaal glaubwürdig!

 

Saaaagt mal, Theluma und Helanchri, wo seid ihr denn damals eigentlich hingefahren? Carla brannte sprichwörtlich vor Neugierde. Ja, genau, schloss sich Fabian fragend an, Pia und Tobi wollten euch nach Schulschluss besuchen, doch das Karussell war geschlossen.

Oh Gooott, jammerte ich kläglich, erinnert uns bloß nicht mehr an diesen Tag! Es passierte ge-gen 8 Uhr. Wir frühstückten gerade gemütlich, um wie immer für den Fahrbetrieb gut gestärkt zu sein.

Komisch, Freunde! Spartacus stutzte. Vom Comoedienhaus holpern Pferdetransporter heran.

Zwei. Merkwürdig. Was wollen die denn?, grübelte Missi.

Gute Frage.

Jetzt stoppen sie am Karussellhügel.

Türen flogen auf. Heraus sprangen Jawlonskji und drei weitere Söldner, stürmten als Elferräte kostümiert den Aufweg hoch. Genug geprasst, elende Faulenzer! Auf, auf, alle rein in die An-hänger, das ist ein Befehl!, rasselte seine militärische Stimme, die keinerlei Widerspruch dul-det. Ich zähle von 10 runter, sonst gibt’s heute Abend Pferdefleisch vom Grill!!!!!

Carla, Melissa und Fabian hielten schockiert ihre Hände vors Gesicht.

Mit Müh und Not bei „1“ drinnen ging es stadteinwärts. Zwanzig Minuten darauf scheuchte uns Jawlonskji unsanft hinaus. Wir befanden uns in der Fahrstraße. Ich zweifelte an meinem Ver-stand. Eine goldene Prachtkutsche, bespannt mit acht weißen Rappen, erwartete baldige Abf-ahrt. Mit unzähligen Utensiien fummelten wichtigtuerische Angestellte überall an uns herum. Anderthalb Stunden dauerte das nervige Getatsche. Schließlich durfte jeder im Spiegel seine neue Identität bestaunen. Vor Schreck wären Hatatitla und Leporello beinahe umgekippt. Kit-schig aufgestylte, affige Mähnenfrisuren. Alberne Schleifchen, gekringelt, fast bis zum Pflas-ter reichend. Und zur Krönung über und über mit grässlichen Schellen behangen. Peeeeeeee- eeeeeeeeeiiiiiiiiinnnnlichhhh!!!!!!! Erdboden, verschluck mich!!!!!!!

Gerade wollte Ascana empört protestieren, was diese Show bitteschön soll, als Herr Kaiser hastigen schuhklackernden Schrittes aus Richtung Rathaus andüste, beäugte ungefuldig sei-ne diamantenbesetzte Breitling. Einer der beiden Kutscher stieg ab, öffnete demütig verbeugt das Gefährt. Kaum gesetzt, riss Alessa Maries Vater die Fensterscheibe runter: À STEINHEIM!

Die Karrosse raste los. Unsere Aufgabe bestand darin, neben dem Gespann zu galoppieren, je vier auf einer Seite. Dabei mussten wir unentwegt im Chor wiehern: SO MACHET DENN PLATZ FÜR GRAF DENNIS KEVIN I. VON HANAU-MÜNZERNBERG!!!!! Jeder wähnte sich im falschen Film. Vor allem gerieten Wilhelmsbads beliebte Sehenswürdigkeiten umgehend außer Puste. Karussellpferdchen sind ja zierliche Wesen, ihre Beinchen können mit denen richtiger Artge-nossen niemals konkurrieren. Doch wen kümmert’s? Angeberrappe Auguste schnaubte auf-geblasen: Naaaaaaaaaaa, es geht heute Morgen nicht so schnell wie üblich, stimmt’s? Schon ordentlich gebechert?

Dann. Die Krönung. Ungehalten über unser langames Tempo, flog wiederum das Fenster auf. LOS, LOS, IHR LAHMEN ACKERGÄULE!!!!! ODER ICH LASSE EUCH AUS DEM KARUSSELL WER-FEN!!!!!

Ingeborg platzte daraufhin der Kragen. JETZT HÖREN SIE MIR MAL GUT ZU! IMMERHIN SIND WIR ZWEIHHUNDERT JAHRE ÄLTER ALS DER HERR GRAF!!!!! Heftigen Schlages krachte die Scheibe zu. Hanaus unumschränkter Regent drückte sein gepudertes Antlitz zornig ans Glas. Tja, seitdem hasst er uns.

So fuhr die gräfliche Pferdelimousine in für uns angenehmer Galoppgeschwindigkeit über die Steinheimer Brücke, bog an der Großkreuzung links ab, dann gleich nochmal links, erreichte den Mainuferweg, rumpelte auf Steinheims Altstadt zu.

In Höhe Theodor-Heuss-Schule bedankte sich Herr Kaiser bei uns als kleine Wiedergutma-chung recht herzlich mit einer wirklich amüsanten Stehgreifkomödie. Fensterlärm Nummer 3 schlug. Sich wegen des Fahrtwindes die standesgemäße Perücke haltend steckte Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg sein adliges Haupt heraus. HEINRICH, DER WAGEN BRICHT!!!!! Die ursprüngliche Scherzintention zielte dabei auf postwendend vom Kutschbock vernehmba- re „Brrrrrr“-Laute. Lustigerweise hieß nämlich einer der beiden Kutscher tatsächlich Heinrich, und offenkundig war ihnen das Ziel aus irgendwelchen Gründen nicht eindeutig bezeichnet worden. Gottseidank jedoch konnte jener Namensvetter mangelndes Wissen mit brillanter Ge-brüder Grimm Kenntnis kompensieren: NEIN, HERR, DER WAGEN NICHT!!!!! ES IST EIN BAND VON MEINEM HERZEN, DAS DA… — WAAAAAS??? — ES IST EIN BAND VON MEINEM HERZEN, DAS DA LAG IN GROSSEN SCHMERZEN, ALS IHR… — BLÖDMANN!!! SEIN HIRN SCHMERZT!!! ER IST AN DER WEGBANK VORBEIGEFAHREN!!! LOS, ANHALTEN, KEHRT, SONST KRACHT’S!!!

Carla und Melissa blickten einander an, kicherten. Fabian prustete, hätte sich am liebsten la-chend auf dem Boden gewälzt. Ach, wie gut tat ihnen angesichts beklemmender Gegenwarts- realitität Herrn Kaisers frei Haus geliefertes bravoureuses Intermezzo!

Nachdem Heinrich und Stefan das Prunkgespann mühsam über die feuchte weiche Wiese ge-wendet hatten hielten sie kurz an, damit wir Karussellpferde uns neu formieren konnten. An-gesichts protziger Breitenmaße war der Uferweg für einen Galopp nebenher wie bisher unge-eignet. Ingeborg und ich positionierten uns ganz vorne. Vom nahen Spielplatz schallte fröhli-cher Lärm. Eine goldene Kutsche, eine goldene Kutsche!!!!!, riefen begeisterte Kinderstimmen herüber. DORT, WO DAS WEISSE WEGSCHILD STEHT, DAHIN GEHT’S, IHR DEPPEN!!!!!, schallte das Echo zurück.

Und weil Seiner Durchlaucht bekanntlich Dinge nie flott genug gehen, gab der Blaublütige sel-ber das Zeichen: LOOOOOOS, HÜÜÜÜÜÜÜAAAAAAAA!!!!! HÜÜÜÜÜÜÜÜÜAAAAAAAAA!!!!!

Woraufhin wir mit wehenden vielfarbigen Kringelschleifchen, gruselig frisierten Mähnen, end-los klingelndem Gebimmel sowie unmissverständlich artikuliertem SO MACHET DENN PLATZ FÜR GRAF DENNIS KEVIN I. VON HANAU-MÜNZENBERG!!!!! die letzte Etappe bewältigten.

Am befohlenen Punkt angetrabt wurden Kutscher, Pferde und Pferdchen Augen- sowie Ohren- zeugen eines den Balkonauftritt tatsächlich toppenden Schmierentheaters, das sogar Oberan-geber Auguste wieherlos machte. Kaum ausgestiegen stackste Hanaus neuer Regent forsch auf besagte Sitzgelegenheit zu, schickte sich an, sie kühn zu erklimmen, trotz für dieses Ma-terial eindeutig zu glatter Schnallenschuhe. Entsprechend stieß sein Vorhaben bereits beim ersten von insgesamt sechzehn grotesk anmutenden Versuchen auf unüberwindbare Hürden. Tobend rief er Heinrich sowie Stefan herbei. Dank ihrer Hilfe erlangte unser Souverän schließ-lich ohne Blamage höchsten Grades rund 70cm höher einigermaßen Standfestigkeit, politisch bedenklich wacklig. Nichstdestotrotz imitierte Herr Kaiser mehr schlecht als recht Ludwigs XIV. berühmte Pose, dabei quer übers Wiesengras die Theodor-Heuss-Schule anvisierend; ge-neigt zwei priveligierte Stadtbezirke an Hanau-Münzenbergs erster Entscheidung seit 1736 huldvoll partizipieren zu lassen.

Wir, Dennis Kevin I., von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg, säuselte es hochnäsig aus seinen Nasenlöchern, tun unseren erlauchtesten Willen kund, die auch unter den Namen Steinheim beziehungsweise Klein-Auheim bekannten Stadtteile ab itzo bis ad finem mundi gar nimmer mehr Unserer Grafschaft trefflich Eigentum heißen zu wollen. Mögen deren Ein-wohner sich fortan Mühlheim am Main anschließen, Obertshausen oder ad libitum dem Kur-fürstentum Mainz. Wisset, es sei Uns bei Hofe einerlei.

Sprachs und kletterte dank kutscherlicher Hilfe ebenso umständlich, doch immerhin mit hei-ler Haut wieder hinab. Widerwillig. Gerne präziser hätte Bankbezwinger Kaiser in luftiger Höh‘ weiter näselnd seine Beschlussbegründung per Wind Steinheims Grundschlule entgegenge-tragen – doch die diamentenbesetzte Breitling mahnte.

DARAN SEID NUR IHR SCHULD!!!, versuchte man uns zunächst den Schwarzen Peter für neu-erlichen Zeitdruck in die Schuhe zu schieben. Was dann folgte schlug jedoch dem Faß endgül-tig den Boden aus.

Zur Bekräftigung des soeben gefällten Urteils, zog Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzen-berg ohne jede Vorwarnung seinen Golddegen, verpasste der gemütlichen Ausruhmöglichkeit mit Wucht im Holz eine Kerbe. Pferde und Pferdchen schnaubten empört. Heinrich schwieg ei-sern. Stefan ebenso. Sehet, Unser Beglaubigungssiegel!, lachte Alessa Maries Vater und woll-te zur Weiterfahrt einsteigen.

Just in diesem Augenblick gewann im Wechselspiel zwischen Bewölkung und phasenweise durchkommender Sonne für geschätzte dreißig Sekunden intensives Licht die Oberhand. Un-ser Landersherr strahlte verklärt.

Ooooooooooooooh, glückliches Hanau! Merke auf, vernehme die Kunde! Ludwig XIV. persönlichsegnet vom Himmel Unsere neue historische Grenzziehung entzückt mit hehrem Glanze! Zum Beweis für des Sonnenkönigs nickendes Wohlwollen schoss Herr Kaiser hastig Fotos, von de-nen er abends eine Kopie ins Karussell sendete. Und alles nur, weil der schöne Main einst die natürliche Grenze zwischen Hanau-Münzenberg und Kurmainz bildete.

Leuchtende Erkenntnisblitze durchfuhren unsere sypmathischen Gesprächspartner.

Melissa erstrahlte. Jeeeeeeeeeeeeeeeeeetzt kapiere ich endlich, warum Steinheim und Klein-Auheim seit 2017 nicht mehr zu Hanau gehören! Meine Eltern sprechen zwar oft darüber, er-klären können sie es aber nie so richtig. Na jaaaaa, und Lehrer brauchst du erst gar nicht fra-gen. Die wissen eh nie was.

Ist aber voll logisch, Melli!, fuhr Carla eifrig fort. Überleg mal. Außer Kutschern und Pferden gab es keine Zeugen.

Ja, jetzt ist alles klar!, bekräftigte Fabian. Heinrich und Stefan werden niemals reden, weil sie dann um ihren coolen Job bangen müssen. Besonders jetzt in der Krise! Und Leute, seien wir gaaaaaaanz ehrlich, wer glaubt schon Tieren oder Karussellfiguren?

Echt krass! Carla betrachete bestürzt die nahe am Wehr entstehenden Strudel Du sitzt in der Theodor-Heuss-Schule im Sachkundeunterricht, gehst nichtsahnend an die Tafel, alles noch ok, tja, dann beim Kreide nehmen gehört deine Klasse schon nicht mehr zu Hanau, und Stein-heim kann zusehen, wo es bleibt.

Jaaaaaaaaaa, genau!!!!! Wie die Zuggäste in Wolfgang!!!!! Ihr Klassenkamerad sprühte vor Mit-teilungdrang. Fast alle mussten aussteigen. Die Regionalbahn fuhr praktisch leer nach Wäch-tersbach weiter!!!!!

Carlas allerbeste Freundin reagierte verwirrt. Hä? Hast uns damals gar nichts von erzählt!

Der Junge klopfte sich fassungslos mit der Faust an seine Schläfe: Fabian, du dummer Esel!!!! Dachtest echt, Kerr Kaiser dreht neue Videos für seinen Youtubekanal!!!! Aaaaaalllsooo, Leute. Irgendwie konnte ich Mama auf Heimfahrt vom Forum für ein paar Zugfotos überreden. Ok, eigentlich wollte sie nicht wegen des kalten Wetters, musste erst ziemlich nerven. Obwohl, ih-re Bedenken stimmten teilweise, trotz Sonnenschein wehte auf dem Bahnsteig weiterhin bit-terkalter Wind. Höchst unangenehm. Ich weiß sogar noch die Uhrzeit. Es war exakt 12.23 Uhr als Herr Kaiser mit einigen Mitarbeitern klackernd die Treppe hinaufstürzte, sorgenvoll Blicke auf die Bahnsteiguhr gerichtet.

Sein frisch ernanntes Hofkabinett!, stöhnte Theluma dazwischen. Bis heute unverändert. An-geheuerte Adlige, denen er glanzvolle Karrieremöglichkeiten bei Hofe versprach. Weitaus luk-rativer als sich als Winzer über Wasser zu halten. Dafür läuft man gerne den ganzen Tag lang im Stil Louis XVI. gekleidet herum. Besonders jetzt in der Krise.

Auf den letzten Drücker, keuchte er, acht lahme Karussellgäule haben Uns nur wertvolle Zeit gekostet, in zwei Minuten kommt der Zug! Mit flacher Hand an der Stirn schauten alle erwar- tungsvoll in Richtung Niederrodenbach. Mir nichts dir nichts verfinsterten sich sämtliche weiß gepuderten Mienen. Alessa Maries Vater trampelte mit seinen Glanzschuhen herum, drohte der Anzeigetafel, deren laufender Text neuerdings voraussichtlich 30 Minuten Verspätung an-kündigte, verschränkte beide Arme wie ein trotziges Kind. Dann knöpfen wir uns eben den Zug nach Wächtersbach vor! VORWÄRTS MARSCH! Aus der Unterführung hallten Schritte. Wie im 18. Jahrhundert uniformierte Soldaten, erschienen. Die Bahn ein. Ihre Lokomotive war damals noch eine Baureihe 114. Jetzt setzen sie ja zwischen Frankfurt und Wächtersbach nur…

Faaaaabiiii, du nervst!, baten Carla und Melissa ihren Mitschüler inständig, wieder zum Thema zurückzukehren.

Der Junge klopfte sich fassungslos mit der Fasut an seine Schläfe: Fabian, du dummer Esel!!!! Dachtest echt: WOW, mit dieser Nummer wird Herr Kaiser Influencer! Das Militär enterte die Waggons. Kurz darauf standen zahllose protestierende Passagiere auf dem zugigen Bahn-steig, keiner wusste, was eigentlich los war. DAS WIRD EIN NACHSPIEL FÜR SIE HABEN! SIE HÖREN VON MEINEM ANWALT!, vernahmen wir. Oder: FINGER WEG! WAS FÄLLT IHNEN EIN? WER SIND SIE ÜBERHAUPT? KÖNNEN SIE SICH AUSWEISEN? Vergeblich. Einer nach dem an-deren verschwand der wirr durcheinander mit Verwandten, Freunden, Taxi- oder Mietwagen-firmen telefonierende Pulk im Unterführungsgang zum Bahnhofsvorplatz.

Ein bislang demütig wartender Diener hüpfte auf verächtlichen Fingerschnipp herbei, über-reichte Alessa Maries Vater tief verbeugt Pfeife und Kelle. AAAAAAABFAAAAHREN!!!!! Mamas Gesicht hättet ihr sehen sollen wie Herr Kaiser einen auf Schaffner machte. Die Regionalbahn fuhr los, und ich knipste zwei klasse Fotos. Mega cool wenn die Lok schiebt!

Achtung, die haben alle ’nen ganz gefährlichen Sprung in der Schüssel!, warnte uns noch eine Nachzüglerin vorsichtig im Vorbeigehen. In Wolfgang muss man jetzt seinen Reisepass vor-zeigen und dem Zoll das Gepäck aufmachen. Selbst Handtaschen filzen sie. Hier soll neuer-dings EU-Außengrenze sein. Ich hatte meinen gültigen Personalweis dabei, doch der allein gilt nicht. Eine Frechheit ist das!

 

Die absolutistische Willkür!, stöhnte ich dazwischen. Außer Gott ist der Herrscher niemandem Rechenschaft schuldig. Gemäß Gerichtsbeschluss folgte die neue Staatsgrenze anfangs exakt Hanaus bisheriger Stadtgrenze. Dieser verrückte Einfall mit dem EU-Austritt überwältigte ihn spontan an der Wegbank. Beim Einstieg in die Kutsche hielt Herr Kaiser abrupt inne, hob sei-nen rechten Zeigefinger gleichsam einer genialen Eingebung. Entgegen des ursprünglichen Vorsatzes, sich im Philippsruher Schlosspark als charmanter Grillmeister und Bierzapfer zu betätigen befahl Seine Durchlaucht außerplanmäßig: À WOLFGANG!

Uns ließ man achtlos am Wegesrand zurück, weil wir ihm dorthin zu langsam galoppierten. Zur Schadenfreude Augustes. Hanaus altehrwürdige Karussellpferde hatten ihre Schuldigkeit als schillerndes Begleitkommando getan.

Garantiert sprach der Sonnenkönig zu ihm!, interpretierte Fabian Herrn Kaisers Idee; worauf-hin wir alle miteinander ganz herzlich lachten beziehungsweise wieherten.

Aaaaaaaaaalllsooooo, setzte er seinen Bericht fort, während ich der in der Ferne längst ver-schwundenen Regionalbahn träumend weiter hinterherschaute, stand mit einem Mal Alessa Maries Vater hinter mir. Er ist ja ebenfalls totaaaaaaaaler Eisenbahnfan. Ei, gude Fabian, wie? Sind se auch was geworn? Zeisch emol her!

Stolz drehte ich mich um. Hier! Eine 114! Er nickte anerkennungsvoll. Perfekt, Bub. Wenn du mol Zeit hesst, kimmste mit deinen Bildern nach Philippsruh! Verwirrt wollte ich fragen wie das gemeint war, denn Kaisers wohnten niemals im Schloss. Ok, Korrektur, Theluma und He-lanchri, zugegeben, volle Kanne veralteter Informationsstand vom 29. Oktober.

Seht ihr, schimpfte Carla, wie in Steinheim! Du gehst zum Arzt, zeigst als Hanau-Steinheimer dein Krankenkassenkärtchen, und schwupp, beim Aufgerufenwerden bist du ein Rausgewor-fener. Weißt nur nichts davon, erst abends im Fernsehen. Voll hart!

Die absolutistische Willkür!, stöhnte Theluma dazwischen.

Allerdings, bemerkte Carlas und Melissas Klassenkamerad, stapften sie bereits unter seiner Führung zum Hauptsignal, dass zur Zeit für sämtliche Züge in Richtung Hauptbahnhof un-übersehbar H00 anzeigte. Der Junge klopfte sich fassungslos mit seiner Faust an die Schläfe. Fabian, du dummer Esel!!!! Dachest, die wollten für Youtube weiterdehen. Mit…mit…dem…Vi-deo…wird…er…doppelt…und…dreifach…Influencer!, stammelte ich. Herr Kaisers Aktion war so-oooooooooooooo gewagt! Selbst Mitarbeiter versuchten ihn flehentlich davon abzuhalten. Ver-geblich.

Ei, basste mal uff, der Graaaaaaaaaaf bin immer noch ich!, rief er. Daraufhin kletterte Alessa Maries Vater umständlich herunter, damit bloß seine vornehme Kleidung sauber blieb, wankte stolpernd in seinen glatten Latschen über Schotter und Schwellen zur Stange, trat dagegen. Unser Innenminister, dieser Baron von …, keine Ahnung, zuuuuuuuuuuuu kompliziert, bettelte händeringend: Euer Gnaden, mit Verlaub, bei Grün könnten Wir Euren Unmut verstehen. Bitte bedenkt, Rot steht als Farbe gar vortrefflich! Es klingelte bei ihm. Genossen! Ach, führe die 114 passend zur Lackierung mit roten Sowjetfähnchen geschmückt nach Wächtersbach, das Logo verziert Hammer und Sichel! Mamas Gesicht hättet ihr sehen sollen.

Sein grenzenloser Zorn auf jene andauernden Verspätungen sowie Zugausfälle bei der Deut-schen Bahn AG, stöhnte ich dazwischen, als unser Souverän bekanntermaßen noch Kranken-pfleger war, zur Frühschicht bei Dunkelheit regelmäßig mit weit ins Gesicht gezogener Kapu-ze auf Wolfgangs eisigen Bahnsteigen ausharrte, Hände gedulderprobt tief in Jackentaschen vergraben, die Regionalbahn nach Frankfurt manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Er-folg bibbernd pünktlich erwartend.

Ich hätte ja noch zuuuuuuuu gerne mitbekommen, was sie mit dem verpäteten Zug anstellen, doch meine Mutter fand Herrn Kaisers irre Handlung weniger witzig. Unerhört! Wenn er das auf Youtube bringt, melde ich ihn! Unfassbar, in Anwesenheit eines Zehnjährigen aufs Gleis zu steigen! Da braucht sich keiner zu wundern, wenn Jugendliche Selfies mitten auf Hauptstrec- ken posten. Fabiliebling, wir gehen! Du hast für heute wirklich genug fotografiert! Bewährtes Schneckentempo sollte Mama umstimmen. Najaaaaaaaaaaaa, immerhin gelang mir rasch ein Abschiedsblick, ehe sie mich in den muffeligen Treppenabgang zog.

Wieder blickten wir alle schweigend zur Großkrotzenburger Schleuse. Unauförlich stürzte das Mainwasser über die Staumauer. Typischer Flussgeruch lag uns in der Nase.

Die Jugendlichen hakten sich ein. Hm, meint ihr, das reicht, um Carlas Vater aus dem Gewöl- be rauszuholen? Melissas Frage klang eher verhalten.

Theluma blickte mit ernster Pferdemiene drein. Schwierig. Äußerst schwierig. Oder wie siehst du das, Helanchri?

Die Beweislast gegen Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg ist in der Tat ziemlich dürf-tig, gab ich zu Bedenken. Selbst wenn wir offiziell Beschwerde gegen die Festnahme von Car-las Vater einlegen, und ihr drei aussagt, würden seine Worte insgesamt eher unter das fallen, was man allgemein – naja – als „gedankenlos so daher gesagt“ bezeichnet. Weder Redezettel, mütterliche Stichpunkte noch euer bewundernswert minutiöses Gedächtnis werden dagegen ankommen.

Sehe ich genauso, pflichtete meine Kollegin mir bei. Fakt ist jedenfalls: Unser Herr Souverän hat seit der Schreckenstat vom 19. Februar 2020 wegen dieser geäußerten Sprüche ein ganz gehöriges Imageproblem. Aus zuverlässigen Quellen wissen wir Karussellpferde, dass jenes Thema auf der außerordentlichen Geheimkonferenz vom 06. Januar 2021 zwar erörtert, auf-grund seiner ungeheuren Brisanz jedoch am Folgetag von Frau Gräfin während ihres Morgen-spaziergangs höchstpersönlich aus dem Sitzungsprotokoll gestrichen wurde; zu schwer wie-gen gewisse Vorwürfe. Und derartig gravierende Anschuldigungen kann Schloss Philippsruh zu Coronazeiten alles andere als gebrauchen. Ausgerechnet er, der mit dem 30. Oktober 2017 Hanau umkrempeln wollte. Knapp zweieinhalb Jahre später fotografierte Ihre Durchlaucht die auf Geheiß ihres Gatten gehisste achtwöchige Trauerbeflaggung. Am 25. März 2020. Mitten im Lockdown 1. Ein tolles Aushängeschild für Herrn Kaisers strahlendes Versailles am Main.

Intern bei Hofe spielt man die ganze Angelegenheit als Sammlung mehr oder weniger gelun-gener Scherze zum 100. Jahrestag der Russischen Oktoberrevolution von 1917 herunter, er-klärte ich den Dreien. Den Rest soll besagtes Gesetz richten. Verständlich. Welcher Vertreter der feudalen Ausbeuterklasse will im Volksmund „neuer Lenin“ heißen?

Und selbst wenn ihr standhaft bleibt, ergänzte ich besorgt, wird Graf Dennis Kevin I. von Ha-nau-Münzenberg schlussletztlich Alessa Marie und ihren selten dämlichen Tukan zu seinen Gunsten bemühen.

Tuki Tukan Edler Herr von Beilstein!, stöhnte Theluma dazwischen. Geadelte Tiere – so einen Schwachsinn gibt es nur in der Grafschaft Hanau-Münzenberg! Als er 2014 mit Kaisers nach Deutschland kam, bekannte sich unser Costa Ricaner noch zu Fidel Castro, besang mit Com-mandante Che Guevara stolz die Kubanische Revolution.

Und genau die beiden werden im Zeugenstand behaupten, in Hanau brodele die Gerüchtekü- che; werden darlegen, Hanaus Souverän könne schon deswegen kein Leninist sein, weil Herr Kaiser bei seiner Heimkehr vom Bahnhof Wolfgang den Sturm auf die Terrassentür verspotte- te. Dummerweise hat die Grafentochter davon Fotos gemacht. Beispielsweise existiert jenes Bild mit ihrem auf der Balkonballustrade sitzendes Maskottchen, während unterhalb ihr Vater samt dauerklatschendem Hofkabinett erfolgreich den ansteigenden Terrassenweg meistert.

Laut Bemerkungen der Junggräfin, welche sie 2019 bei einer Karussellfahrt gegenüber ihrer allerbesen Freundin Caislin äußerte, sollen dabei folgende väterliche Worte gefallen sein: Ha, da oben sehe ich ihn also, lungert wie immer faul in der Sonne rum. Er braucht gar nicht so stolz herunterzugaffen. Wir, Dennis Kevin I. Graf von Hanau-Münzenberg tun ihm kund, dass sein Möchtegernsturm heute kläglich gescheitert ist. Nix mit kubanischer Zigarre! Schluss mit lustig! Auf, Strauchdieb! Packen! Umzug! Philippsruh! Husch, husch Abflug!

Anschließend hätte sie im weit geöffneten Terrasseneingang als glücklichste Tochter auf der ganzen Welt voller Stolz ihren triumphierenden Vater standesgemnäß begrüßt, welcher gleich noch einen draufsetzte. Neben ihr zeigte er dem herbstlichen Fächerahorn, leuchtendes Sym-bol für den imitierten Sturm auf den Winterpalast, freche Grimassen, verhöhnte das japani-sche Ziergewächs mit herausgetreckter Zunge und wedelnden Eselsohren; beklatscht von ei-ner hinter ihnen Supèrbe! Supèrbe! applaudierenden Ministerriege.

Seit an Seit mit Herrn Papa gings dann zwei Meter weiter, direkt vor des Lateinamerikaners im Sonnenstrahl leuchtends Revolutionszeichen, wo Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzen-berg das eines Adligen unwürdige Schauspiel zur Freude aller Claqeure wiederholte.

Eigentlich vorsehbar, dass es so kommen würde, dozierte Geschichtsprofessor Fabian gelas-sen. Der Sturm auf die Terrassentür war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Auch Alessa Maries Tukan ist auf Sergeji Eisensteins Fake hereingefallen. Diese stürmenden Massen, wie sie Oktober suggeriert, hat es 1917 in Wirklichkeit nie gegeben. Genau genommen lässt sich die Aktion im Winterpalast als Staatsstreich einiger weniger definieren. Erst nachträglich ver-kaufte man sie dem Volk als heldenhafte Erstürmung durch das Proletariat. Somit geht der Punkt ganz klar an Herrn Kaiser, denn unter Historikern gilt Lenins Machtsicherung in Moskau als ebenbürtiges, vielleicht sogar wichtigeres Ereignis.

Damit ist für Papa alles hoffnungslos. Da kommt er nicht mehr raus!, murmelte Carla resig-niert. Ausweglos wie die Coronakrise.

Schweigen.

Niiiiiiiiiiicht unbedingt!

Optimismus kam auf.

Ich habe eine Idee! Erinnert ihr euch an Herrn Kaisers Lob auf dem Bahnsteig? Gleich nachher lasse ich mir zeitnah eine Privataudienz bei ihm im Schloss geben. Das wird er niemals ab-lehnen. Fabian grinste selbstbewusst. Dafür ist Alessa Maries Vater viiieel zu sehr Eisenbahn-fan. Außerdem besuchen meine Schwester und Charlotte Emilie denselben Ballettunterricht, perfekt, zur Zeit sogar gemeinsam, nur zu zweit, ihr wisst ja, die aktuellen Coronaregeln für den Freizteit- und Amateursport. Na jaaaaaaaaaaa, und so ganz nebenbei beim Fachsimpeln… okeeeeeeeeeeeee…kleine Gefälligkeiten unter Experten.

Das…das…das…das…würdest…du…du…du…wirklich…für…für…für…uns…tun?, stotterte Carla zu Tränen gerührt. Auf jeden Fall! Versprochen ist versprochen! Ehrenwort!

Super Plan, Fabian!, lobte Theluma den stolz aussehenden Geschichtslehrer in spe. Mach das!

Frag Herrn Kaiser dabei aber zwischendurch bloß nicht, auch nicht scherzhaft, ermahnte ich abschließend eindringlich, ob Seine Durchlaucht eventuell überzeugter Kommunist sei.